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Arbeitsbereich Religion

Arbeitsbereich Religion: Wissen – Erfahrung – Interaktion

Der Arbeitsbereich »Religion« fokussiert auf die Generierung und Mobilisierung religiösen Wissens, die Analyse religiöser Erfahrungen und die Bedeutung religiöser Interaktionen für gesellschaftliche Prozesse, Strukturen und Hierarchien in Europa als religiös pluralem Raum. Der Arbeitsbereich nimmt zunächst religiöse Umbruchserfahrungen und Umbruchsdeutungen unter dem Gesichtspunkt historiographischer Interpretationen als auch aus der Perspektive der historischen Akteure in den Blick. Des Weiteren sollen Verschiebungen in den Wissensregimes historischer Akteure akzentuiert und dabei die Ebene der Erfahrungen einbezogen werden. Außerdem fragen die Forschungen am IEG, welche Auswirkungen die von den historischen Akteuren selbst postulierten Strategien des Traditions- und Normumbruchs für die religiöse und gesellschaftliche Interaktion besitzen.
 

Aktuelles aus dem Forschungsbereich

Dark Green Religion in Europe: History and Impacts, Dangers and Prospects, Tagung, organisiert von Bernhard Gißibl, Kate Rigby und Bron Taylor, IEG Mainz, 25.–27. April 2024.

Veröffentlichungen (in Auswahl) – in Vorbereitung  

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Ziele

Dieser Arbeitsbereich begreift Europa als religiös pluralen Raum und analysiert, wie sich Religion als WissenErfahrung und Interaktion hier historisch artikuliert. Die Untersuchung der Entstehung von Wissen von und über Religion ist Teil der Geschichte einer europäischen Epistemik der Welterfassung, die immer in Auseinandersetzung mit der außereuropäischen Welt erfolgte. Im Fokus stehen dabei die Generierung und Mobilisierung religiösen Wissens durch die historischen Akteure. Im Widerstreit von religiösen Experten und Laien wird religiöses Wissen geschaffen, gesichert und immer wieder neu verhandelt. Der dynamische Austausch mit anderen Wissensfeldern, etwa der (Natur-) Philosophie, Medizin, Ökonomie oder Politik, trägt dazu bei, dass religiöses Wissen immer wieder nicht nur repositioniert, sondern auch reformuliert wird.

Religiöse Erfahrung und Interaktion sind eng verwoben, sollen aber analytisch getrennt werden. Unter Erfahrung werden vornehmlich nach Innen gerichtete Aspekte und Praktiken der gelebten Religion verstanden. Hierunter fallen Mystik, Spiritualität und Frömmigkeit, Ästhetik, Selbst-Kultivierung und Individualisierung, einschließlich der Rolle der Sinne und Emotionen. Die differenzierte Untersuchung religiöser Erfahrungen erlaubt es, historische Brüche, aber auch individuelle und kollektive Neuverortungen sowie deren identitätsstiftende Funktion zu erfassen.

Religion als Interaktion fokussiert die pragmatische Dimension von Religion und lässt so erkennen, wie und wodurch religiöses Wissen und religiöse Erfahrung gesellschaftlich relevant werden. Hierdurch kommt Religion als soziale Tatsache und fundamentale Form menschlicher Kommunikation in den Blick, die menschliche Gemeinschaften auszeichnet, begründet und erhält. Religiöse Interaktionen sind damit grundlegend für das Verständnis von Zeit, Herkommen und Zukunft von Gruppen und Individuen. Sie vermitteln und legitimieren Strukturen und Hierarchien, die historisch von stetigem Wandel, Neuarrangements und Synkretismus geprägt sind. Mission, Migration und Diaspora, aber auch Vertreibung und Versklavung wirken als konstitutive, aber ambivalente Faktoren in diesen Prozessen. Die Forschungsagenda des IEG umfasst daher die Untersuchung der komplexen religiösen Konstellationen für die innere Konfiguration Europas einerseits sowie für die daraus folgenden Weltbezüge seit der Frühen Neuzeit andererseits.

Arbeitsschwerpunkte 2024/2025

Ausgehend von diesen hier konturierten Zugängen ist geplant, zunächst religiöse Umbruchserfahrungen und Umbruchsdeutungen sowohl unter dem Gesichtspunkt historiographischer Interpretationen als auch aus der Perspektive der historischen Akteure in den Blick zu nehmen / zu erfassen. Für die Forschenden über die Frühe Neuzeit stehen die Umbruchsnarrative, die diese Periode einrahmen, im Mittelpunkt. Im Hinblick auf die »Reformation« am Beginn des Zeitraums stellt sich die Frage nach den Auswirkungen der konfessionellen Ausdifferenzierung des lateinischen Christentums auf die tradierten religiösen Praktiken und Wissensordnungen; für die »Aufklärung« am Ende des Zeitraums steht die behauptete Überwindung religiöser Gegensätze und scholastischer Streitkultur durch aufkommenden Rationalismus, Utilitarismus und Vernunftglaube zur Diskussion. Jenseits der »Sattelzeit« bis in die Gegenwart lassen sich desweiteren die Modernisierung sowie die Technologisierung als Herausforderungen ausmachen, für deren historiographische Fassung die Vorstellung einer stetigen Säkularisierung unzureichend erscheint. 

Chronologisch und thematisch breit gefasst sollen Verschiebungen in den Wissensregimes historischer Akteure akzentuiert werden. Ein Vorhaben wird frühneuzeitliche Predigten als Zugang zur Genese und Popularisierung von Umweltwissen analysieren und so dieses Quellenkorpus für die Diskussionen der Umweltgeschichte fruchtbar machen. Das wenig beachtete Revival der tradierten mittelalterlichen Universitätsdisziplin der Logik in der Aufklärung steht im Mittelpunkt eines Vorhabens, das etablierte Umbruchsnarrative korrigiert und hinterfragt. Druck und Verbreitung von Logik-Traktaten sollen mit digitalen Methoden erschlossen und kartiert werden, während die inhaltliche Analyse die Bedeutung der Disziplin für die religiöse Debattenkultur sowie die Erschließung neuer Zielgruppen (Frauen; Höflinge) auslotet. Die Beziehung zwischen Theologie und politischer Ökonomie ist schließlich ein Untersuchungsfeld, das an schon bestehende Diskussionen zur Sakralisierung anknüpft und zugleich neue Verbindungen zu den Fragestellungen zum Anthropozän in historischer Perspektive eröffnet. Die Untersuchung des Umgangs von Laien und religiösen Experten mit den Herausforderungen der Technologisierung des Lebens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts fügt sich hier ein, wobei die Anpassung und Aktualisierung kanonisierter Texte und religiöser Wissensbestände im Fokus der Analyse stehen.
 
Auf der Ebene der Erfahrungen befasst sich ein Projekt aus der Akteursperspektive mit der Frage der Anpassung und Re-Aktivierung spätmittelalterlicher Spiritualität nach dem Konzil von Trient, womit die Prozesshaftigkeit des stipulierten Umbruchs thematisiert wird. Wie die aufklärerische Betonung wirtschaftlicher Rationalität religiöse Zeit-Erfahrungen neu definierte, wird am Beispiel von Fasten- und Feiertagsregimen und deren Rückwirkungen auf die Mensch-Umwelt-Beziehungen analysiert. Das Aufkommen »grüner« Spiritualität und die Sakralisierung von Naturerfahrung stehen in dialektischer Spannung zu den beschleunigten Modernisierungserfahrungen, die in einem weiteren Strang untersucht werden. Es ist zu erwarten, dass die Rückkopplungseffekte zwischen Erfahrung und Wissen sowie die Transformationen des religiösen Feldes hier besonders deutlich werden. 

Welche Auswirkungen haben die von den historischen Akteuren selbst postulierten Strategien des Traditions- und Normbruchs für die religiöse und gesellschaftliche Interaktion? Dieses Problem untersucht ein Projekt am Beispiel der Täufer, die im Rahmen der Reformation explizit die »Nicht-Interaktion« mit der Welt zum Ideal machten. Die Gruppenkohärenz nach innen und die soziale Alltagsinteraktion nach außen, aber auch ihre Agency im Hinblick auf die weltlichen und religiösen Obrigkeiten stehen im Mittelpunkt der Untersuchungen. Welche Folgen der reformatorische Bruch für die Interaktion von aristotelischen Gelehrten hatte oder inwieweit der Aristotelismus als Plattform der Begegnung über konfessionalisierende Tendenzen hinweg fungieren konnte, ist ein weiterer Strang der geplanten Untersuchungen, die vor allem die Zirkulation von Texten sowie Fragen der Soziabilität von Gelehrten mit einbeziehen. Bei dem Fokus auf die als »Aufklärung« bezeichneten Phänomene stellten die Bestrebungen nach ökonomischer Effizienz und die daraus abgeleitete Ausdehnung von Arbeitszeiten nicht nur alte Fastenregime und andere religiöse Praktiken zur Disposition, sie wirkten sich auch auf die soziale Interaktion zwischen Laien und Eliten sowie zwischen verschiedenen religiösen Gruppen aus. Die hier angestellten Untersuchungen schlagen zugleich eine Brücke zwischen der Geschichte der Arbeit und der Religionsgeschichte.