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Ausschreibungen im Detail

09.04.2019

Versöhnung zwischen Vergessen und Erinnerung: Geschichte eines bewegten Konzepts (Europa, 19. Jh. und erste Hälfte des 20. Jh.)
Internationale und interdisziplinäre Tagung


Datum: 20.–22. November 2019

Ort: Deutsches Historisches Institut, 8 rue du Parc royal, 75003 Paris

Organisation: Deutsches Historisches Institut Paris; LabEx EHNE – Écrire une histoire nouvelle de l’Europe; UMR Sirice; Université de Lorraine/CEGIL

Partner: Deutsches Historisches Institut Warschau; Leibniz-Institut für Europäische Geschichte, Mainz

Wissenschaftlicher Beirat: Joachim Berger, Anne Couderc, Corine Defrance, Jürgen Finger, Gintarė Malinauskaitė, Ulrich Pfeil

Bewerbungsschluss: 30. April 2019

Ausschreibung
Seit Ende des 20. Jahrhunderts ist »Versöhnung« eine Art verallgemeinerter »Erwartungshorizont« nach zwischenstaatlichen Konflikten: Frieden scheint nicht auszureichen. Gesellschaften und Staaten in Nachkriegssituationen werden unter dem Druck von staatlichen und zivilgesellschaftlichen, nationalen und internationalen Akteuren auf den Pfad der »Versöhnung« verpflichtet. Experten erstellen Kataloge guter Praktiken, die zur Standardisierung von Prozessen führen. Die Verwendung des Begriffs »Versöhnung« ist inflationär in der zeitgenössischen Debatte, manche Beobachter sprechen missbilligend von »Versöhnungskitsch« (Klaus Bachmann). Die Erwartung von oder sogar Forderung nach »Versöhnung« basiert auf der Aufforderung zum Erinnern bei gleichzeitiger Ablehnung des Vergessens, auf dem Eingestehen von Verbrechen und der Anerkennung von Opfern, manchmal auch auf Vergebung. Diese Erwartungshaltung spiegelt die Besonderheiten unserer Gegenwart und scheint im Gegensatz zu älteren Idealen von damnatio memoriae zu stehen, die auf heilsames Vergessen setzen.

Wir schlagen vor, solche Vorstellungen von »Versöhnung« zu historisieren und aus verschiedenen Perspektiven zu analysieren – mit einem Schwerpunkt im 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Praktiken der Annäherung und des politischen Ausgleichs nach konkreten Konflikten bleiben dabei im Hintergrund. Wir wollen die Semantik und Symbolik einer Sprache der »Versöhnung« untersuchen, mit anderen Worten: Was sind die Worte, Gesten, Referenzen, Bilder,
die sowohl in der diplomatischen und juristischen »Sprache« als auch im politischen, gesellschaftlichen oder künstlerischen Bereich verwendet werden? Ziel ist es, aus verschiedenartigen Quellen die Vielfalt der Vorstellungen und Darstellungen von »Versöhnung«, deren Akteure und Bedingungen im jeweiligen historischen Kontext zu rekonstruieren. Wir verorten uns also an der Schnittstelle einer Kulturgeschichte der Politik und der internationalen Beziehungen einerseits und der historischen Semantik beziehungsweise der histoire sociale des concepts andererseits.

Dieser Zugriff profitiert von reichhaltiger Forschung zu anderen Epochen und reagiert zugleich auf ein Desiderat: Umfassend untersucht sind Diplomatie, Friedensschlüsse und ihre Repräsentationen in der Frühen Neuzeit, insbesondere mit Blick auf den Westfälischen Frieden. Dasselbe gilt für die zahlreichen Studien zur »Versöhnung« in Europa nach 1945, die einer größeren historischen Tiefe bedürfen, indem frühere Verwendungen und Transformationen des Konzepts untersucht werden. Die Beiträge werden sich deshalb auf das 19. Jahrhundert und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts konzentrieren und die semantische und konzeptionelle Ausgestaltung von »Frieden«, »Freundschaft«, »Versöhnung« und anderen verwandten Begriffen hinterfragen.

Wir werden hauptsächlich zwischenstaatliche Konflikte berücksichtigen. Beiträge können aber innerimperiale Konflikte (sowohl in Europa als auch in/mit den Kolonien) oder Konflikte im Kontext des Zerfalls von Imperien genauso berücksichtigen wie Bürgerkriege, die die Beziehungen zwischen Staaten und Nationen in Frage stellten.

Inwieweit wirkt sich die Vorstellung, dass Frieden »Vergessen« oder »Schweigen« erfordert, um Vergeltung und Rache zu ersticken, noch auf die politischen und diplomatischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts aus? Wann und wie erfolgte der Übergang zwischen »Friedens- und Versöhnungsverträgen« oder »Friedens- und Freundschaftsverträgen« zu Friedensverträgen ohne Versöhnung oder gar Verträgen, in denen Verantwortliche oder Schuldige benannt wurden? Haben Gesellschaften diese Ziele und Bewertungen geteilt? Welche Rolle spielen zivilgesellschaftliche, nationale oder internationale Organisationen bei der Förderung alternativer Vorstellungen, wie Frieden geschaffen und gesichert werden soll? Wie hängen die Verwendung des Begriffs »Versöhnung« durch pazifistische, feministische und religiöse Kreise und die gleichzeitige Entwicklung einer ersten »humanitären Diplomatie« zusammen? Inwieweit wurden die Forderung nach Versöhnung und das Konzept »Versöhnung« durch den Krieg verändert? Das zielt insbesondere auf die Zwischenkriegszeit, da – nur vorläufig durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen – in den 1920er Jahren auf verschiedenen Ebenen Initiativen für Frieden, Versöhnung und rhetorische Abrüstung gestartet wurden.

Im Übergang von den 1920er in die 1930er Jahre kam es zur Wende. Der Begriff der »Versöhnung« wurde von faschistischen und nationalistischen Kreisen in ihrem Kampf gegen den »Bolschewismus« und dann von den Akteuren der Kollaboration mit dem NS-Regime im gesamten besetzten Europa übernommen. Wie wurden in diesem Kontext die Begriffe »Versöhnung« und »Zusammenarbeit« artikuliert?

Schließlich gilt es, die vorübergehende Ablehnung des Konzepts »Versöhnung« nach 1945 zu analysieren, das wenig erfolgreich schien und diskreditiert war. In welchen Milieus wurde aktiv daran gearbeitet, den Begriff wieder aufleben zu lassen? Welche Vorstellungen über den Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wurden mit dem Versöhnungsbegriff assoziiert? Ist das Ziel von Versöhnung, die Zukunft vorzubereiten, indem man sich von der Vergangenheit abwendet, oder geht es darum, sich der Vergangenheit gemeinsam zu stellen, um die Zukunft aufzubauen? Mit
Blick auf diese Fragen zur (vorerst) letzten Transformation des Versöhnungskonzepts, wird das Ende des Studienzeitraums an der Schwelle zu den 1960er Jahren gewählt.

Ziel dieser Veranstaltung ist es, Historiker und Historikerinnen sowie Forschende aus den Bereichen Recht, Politikwissenschaft, Literatur, Kunstgeschichte, Theologie und digitale Geisteswissenschaften zusammenzubringen, um in der interdisziplinären Debatte die Frage nach den Chronologien der »Versöhnung« im 19. und 20. Jahrhundert aufzuwerfen. Diese Ausschreibung richtet sich auch und besonders an den wissenschaftlichen Nachwuchs.

Vorschläge sind bis zum 30. April 2019 an Jürgen Finger (JFinger@dhi-paris.fr) zu richten. Bitte reichen Sie einen Titelvorschlag, eine Zusammenfassung von 2.500 Zeichen (in Deutsch, Französisch oder Englisch) sowie eine kurze bio-bibliographische Notiz ein. Die Arbeitssprachen der Tagung sind Deutsch, Französisch und Englisch.

Ausschreibung (PDF)