• de
  • en

Die Politisierung der »Nation« durch religiöse Inanspruchnahmen seit dem Spätmittelalter. Zur Profilierung einer politischen Handlungseinheit im Spannungsfeld kirchlicher Ordnungskonkurrenzen und institutioneller Ausdifferenzierungen

Welche Rolle spielen kirchliche Ordnungskonkurrenzen seit dem Spätmittelalter im Werden derjenigen politischen Handlungseinheiten, die man späterhin als »nationes« bezeichnen sollte und die sich dann auch selbst so bezeichneten? Welche Bedeutung haben theologische Diskurse und religiöse Inanspruchnahmen des Nationenkonzepts überhaupt für dessen Politisierung und affirmativ-selbstbezeichnende Etablierung, und welche Wechselwirkungen mit verfassungs-, rechts- und anderen kulturgeschichtlichen Aspekten lassen sich feststellen? Wie schlagen sich diese Wechselwirkungen und ihre Voraussetzungen schließlich in der theologischen Traktatliteratur im historischen Vorfeld der Nationalstaatsbildung nieder? Diesen Leitfragen geht das Teilprojekt vor dem Hintergrund folgender Beobachtungen nach:
          Mit dem Scheitern der universalen Herrschaftsansprüche unter Papst Bonifaz VIII. durch den gewaltsamen Eingriff weltlicher Macht gelangte die Entwicklung hierokratisch-papalistischer Ordnungstheorien mitnichten an ihr Ende. Im Gegenteil: Der Augustinereremit Augustinus von Ancona etwa legt mit seiner »Summa de potestate ecclesiastica« Mitte der 1320er Jahre eine umfassende Bündelung und methodisch geleitete Systematisierung papalistischer Geltungsansprüche vor, die die Position des avignonesischen Papsttums gegen die Emanzipationsbestrebungen konkurrierender weltlicher Obrigkeiten religiös aufwerten und somit argumentativ stäken sollte. Der Papst hatte nach Augustinus eine gottgegebene Machtfülle inne, die ihn auf Erden auch zum Herrn über die weltlichen Herrscher und ihre »regna« machte. Augustinus rekurrierte dabei freilich auf ältere hierokratisch-papalistische Ordnungsentwürfe: Andere Mitglieder seines Ordens wie Aegidius Romanus, Jakob von Viterbo oder Alexander von S. Elpidio hatten u. a. die gottgewollte Jurisdiktionsgewalt Papstes über die weltlichen Herrscher behauptet und sich dabei ihrerseits auf Autoritäten wie Bernhard von Clairvaux und Thomas von Aquin berufen.
          Gegen diese religiös legitimierten Macht- und Herrschaftsansprüche des Papsttums, wie sie Augustinus von Ancona und andere argumentativ flankierten, erhoben aufseiten der weltlichen Herrscher wiederum Theologen Einspruch, die das Papsttum zu Avignon als Ausdruck religiös-sittlichen Verfalls deuteten und gegen dasselbe Kirchenreformprogramme entwickelten, die sich in Abwehr hierokratisch-papalistischer Geltungsbehauptungen ab einem gewissen Punkt auf kollegial-konziliaristische Kirchenleitungsmodelle stützten. Diese Kräfte wirkten auch auf und hinter den großen Reformkonzilien des 15. Jahrhunderts, auf denen sich die kirchlichen Leitungs- und Ordnungskonkurrenzen zwischen »Papalismus« und »Konziliarismus« öffentlichkeitswirksam entluden. Auf beiden Seiten kam es dabei nachweislich zu einer regelrechten Konjunktur der Verbreitung u. a. der genannten Summa des Augustinus von Ancona, die damit in kritischer Abgrenzung oder positiver Aneignung auf die Ausbildung beider Positionen Einfluss nahm.
          Die auf den Konzilien des Spätmittelalters diskursprägenden Ordnungskonkurrenzen sorgten nun unter Vertretern konziliaristischer Kirchenmodelle dafür, dass die weltlichen »regna« als »nationes« bezeichnet und aufgerufen wurden, in Verantwortung für das Wohl der Gesamtkirche gegen die fehlgeleiteten Geltungsansprüche des Papsttums einzuschreiten. Die sich über territoriale Herrschaftsverdichtungen ohnehin formierenden und mit dem Papsttum machtpolitisch konkurrierenden Handlungseinheiten wurden dadurch zu tragenden ordnungstheoretischen Pfeilern der Kirchenreformprogramme prominenter Theologen und Würdenträger wie zum Beispiel Pierre d’Ailly oder Nikolaus von Kues, die so der (kirchen-)politischen Emanzipation weltlicher Herrschaftsinstanzen gegenüber dem hierokratischen Universalismus der Päpste durch politische Zuschreibungen Vorschub leisteten. Vor dem Hintergrund dieser religiösen Inanspruchnahmen etablierte sich dann rasch die politische Profilierung der Rede von »nationes« und verdrängte nach und nach andere, offenere Deutungen des Konzepts im theologischen Diskurs.
          Mit den sich zunehmend zugunsten der herrschaftlich-politischen »nationes« entwickelnden Ordnungskonkurrenzen, die als Teil umfassenderer Ordnungskonfigurationen seit dem 14. Jahrhunderts zusehends mit der Polarität von päpstlichem Zentrum und dezentralen Kräften verschmolzen, hängt letztlich auch derjenige komplexe Ereigniszusammenhang zusammen, der gemeinhin als Reformation bezeichnet wird. So schlagen sich die mittelalterlichen Politisierungen des Nationenkonzepts etwa in Martin Luthers breitenwirksamem Traktat »An den christlichen Adel deutscher Nation« (1520) nieder, der zugunsten der angestrebten fundamentalen Kirchenreform seinerseits den Konzilsgedanken aufnahm und mit »Nation« gezielt einen bestimmten politisch-rechtlichen Verband adressierte, um diesen gegen päpstliche Machtansprüche zur Rettung der Kirche in die Pflicht zu nehmen. Auf dieser Linie der sich entladenden religiösen Ordnungsstreitigkeiten wird im Zuge der frühneuzeitlichen Konkurrenz der sich institutionell ausbildenden partikularen Konfessionskirchentümer die »Nation« weiterhin als politische Handlungseinheit für den Kampf um religiöse Wahrheits- und Ordnungsansprüche kontroverstheologisch beansprucht und so ihrerseits religiös gefestigt.
          Auf der Basis dieser Beobachtungen nimmt das Projekt theologische Denker als für die Politisierung des Nationenkonzepts wichtige Akteure in den Blick und untersucht am Beispiel der religiösen Ordnungstheoriebildung theologische Diskurse, institutionelle Ausdifferenzierungsprozesse und kirchenpolitische Konkurrenzen als Rahmenbedingungen und Verstärkungsfaktoren der politischen Applikation der Rede von »natio«/ »Nation« seit dem Spätmittelalter.