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Veranstaltungen

24.11.2021 - 26.11.2021

Konferenz »Jenseits der Säkularisierungstheorie – (De)sakralisierung in der neuzeitlichen Geschichte Europas«
Teil III der Konferenzserie »Ein Europa der Differenzen« (2020–2022) In den Jahren 2020 bis 2022 veranstaltet das IEG eine Konferenzreihe, mit der wesentliche Ergebnisse des laufenden Forschungsprogramms zum Umgang mit Differenz im Europa der Neuzeit mit internationalen Expertinnen und Experten diskutiert und so neue Forschungsperspektiven aufgezeigt werden sollen. Der dritte Teil der Reihe befasst sich mit dem Spannungsfeld von Sakralisierung und Desakralisierung im neuzeitlichen Europa. Die Tagung richtet sich an ein wissenschaftlich interessiertes Fachpublikum. Bei Interesse senden Sie uns eine E-Mail an info@ieg-mainz.de. Seit gut zwei Jahrzehnten wird in der religionshistorischen und -soziologischen Forschung das Ende der Säkularisierungstheorien und eine Rückkehr der Religionen ausgerufen. Mit der Diagnose eines »post-säkularen Zeitalters« (Jürgen Habermas) korrelierte eine Rückkehr des Heiligen, beziehungsweise eine erkennbare Konjunktur an wissenschaftlicher Beschäftigung mit Prozessen der Sakralisierung und Desakralisierung. Ins Zentrum rückte die Frage, was in einer Gesellschaft als heilig und damit als unverhandelbar erachtet wird und wie der Status dieses Heiligen etabliert und gewahrt, aber auch verändert und wieder entzogen wird. Untersucht wurden unter anderem Sakralisierungen der Nation, der Person und der Menschenrechte; die Rolle des Sakralen im Kontext imperialer Expansion und der ethnologisch-missionarischen Auseinandersetzung mit vermeintlich »primitiver« Religiosität, oder die Sakralität von Kunst, Natur, Räumen oder Heldentum. Mögen diese Studien in ihrer Einschätzung der konkreten historischen Relevanz der »Macht des Heiligen« (Hans Joas) divergieren – die Faszination des Sakralen teilt die jüngere Forschung allemal. Das Sakrale firmiert nicht mehr als zu vernachlässigende Restgröße einer sich vermeintlich zwangsläufig säkularisierenden Gesellschaft, sondern als konstituierendes und sinnstiftendes Zentrum unterschiedlicher Formen menschlicher Vergemeinschaftung. Die internationale Tagung am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz knüpft an die Konjunktur des Heiligen in der Forschung an und fragt nach dem heuristischen Potenzial von (De)Sakralisierungsprozessen für das Verständnis der Geschichte des neuzeitlichen Europas. Unter »Sakralisierungen« werden im kulturwissenschaftlichen Sinne Akte und Formen wiederholter Zuschreibung verstanden, mit denen Sakralität oder das »Heilige« hervorgebracht und ausgezeichnet werden. Damit sollen solche Prozesse analytisch erfasst werden, in denen Ideen, Personen und Handlungen, aber auch Objekte und Räume als absolut und unverfügbar, normgebend, sowie sinn- und gemeinschaftsstiftend etabliert und empfunden werden. Als Veränderungsprozess ist Sakralisierung zugleich eng mit Desakralisierungen und Resakralisierungen verbunden, denn sakralisierte Instanzen oder Phänomene konnten ihren Status verändern oder einbüßen, und die Heiligung des einen konnte zur Entwertung des anderen führen. Ein solch allgemein gefasster Begriff von Sakralisierung bindet den damit erfassten Vorgang nicht ausschließlich an eine bestimmte Religion, sondern vermag ihn inhaltlich und institutionell auch von Religion zu lösen. Die Tagung untersucht die Akteure und Mechanismen, Konjunkturen und Transformationen des Sakralen in der Geschichte Europas in der Welt seit dem 15. Jahrhundert. Im Zentrum des Interesses stehen insbesondere die folgenden fünf Aspekte und Problemdimensionen: (1) Sakralität und Differenz: Begriffsgeschichtliche Herleitungen des Sakralen operieren häufig mit der Unterscheidung von sakral und profan. Auch in erweiterter Form, ergänzt beispielsweise um die Dimension des Alltagsweltlichen, reicht diese Unterscheidung jedoch nicht aus, um das Sakrale kategorial zu erfassen und von verwandten Phänomenen abzugrenzen. Anknüpfend an Rudolf Ottos 1917 getroffene Bestimmung des Heiligen als Kontrastkompositum des gleichermaßen Erschreckenden wie Faszinierenden wäre zu fragen, inwieweit sich Semantik, aber auch Praxis des Sakralen über eine »Kontrastharmonie« spannungsgeladener Gegensätze bestimmen lassen (zum Beispiel Transzendenz und Immanenz, Erhabenheit und Durchschnittlichkeit, Ewigkeit und Augenblick, Verbot und Gebot, Reinheit und Unreinheit, Zugehörigkeit und Ausgrenzung usw.). Ein besonderes Augenmerk gilt in diesem Zusammenhang den Dynamiken und Konflikten, die aus dem paradoxen Charakter des Sakralen, d.h. dem gesellschaftlichen Verfügungsanspruch über das Unverfügbare und Unbedingte, resultieren. (2) Zusammenhang von (De-)Sakralisierungen und Säkularisierungen: Aus historischer Perspektive sind Desakralisierungen nicht mit Säkularisierungen gleichzusetzen. Diese Prozesse konnten zwar teilweise identisch verlaufen, allerdings lassen sich Sakralisierungen und Desakralisierungen sowohl in der religiösen Sphäre als auch in nicht-religiösen Bereichen feststellen, beispielsweise in Form der Sakralisierung des Staates, der Nation oder der Verfassung. Auszuloten ist daher das Potenzial, das die historische Analyse von Sakralisierungs- und Desakralisierungsprozessen in der europäischen Neuzeit bietet, auch mit Blick auf ergänzende bzw. modifizierende Erklärungsmuster, wie sie die Großerzählung einer europäischen Säkularisierung bietet. Wenn nicht ein allumfassender und teleologischer Langzeitprozess der Säkularisierung, verstanden als fortschreitende Entzauberung der Welt, ein beherrschendes Signum der europäischen Neuzeit gewesen ist, lassen sich dann seit dem 15. Jahrhundert Konjunkturen von De-Sakralisierungen bzw. Re-Sakralisierungen feststellen? Und welche Rolle spielen diese Prozesse in einer vermeintlich säkularen Gesellschaft der Neuzeit? (3) Sakralität in kolonialen Kontaktzonen: Europäische und christliche Vorstellungen des Heiligen und von Religion entwickelten sich wesentlich auch in Auseinandersetzungen mit solchen sozialen Praktiken, Formen und Gegenständen, die man in außereuropäischen Gesellschaften als sakral erachtete. Die um 1900 entstehende vergleichende Religionssoziologie, insbesondere auch Émile Durkheims Verständnis des Heiligen, wäre undenkbar ohne die ethnologischen Studien zu vermeintlich »primitiver« Religiosität in missionierten und kolonisierten Gesellschaften. Zu fragen ist daher, welche Rolle europäischen Vorstellungen des Heiligen in den Kontaktzonen der Mission zukam, wie diese oktroyiert, adaptiert und angeeignet wurden, und welche Konflikte unterschiedliche Auffassungen des Heiligen hervorriefen. Umgekehrt ist nach der europäischen Rezeption »anderer« Sakralitäten, beziehungsweise der Sakralität der Anderen zu fragen, ihrer konzeptuellen und begrifflichen Aneignung (beispielsweise als Fetisch, Totem oder Tabu), aber auch ihrer dingliche Relokation (beispielsweise in Form ihrer Transformation in »Ethnographica«) sowie den jeweils damit verbundenen epistemischen Konsequenzen. Für die komparative Religionssoziologie wiederum stellt sich die Frage, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Verständnis des jeweils Heiligen konstruiert wurden, um Postulate universaler Religiosität und der Überlegenheit europäischer Religionen zu rechtfertigen. (4) Management, Performanz und Medialität: Das Einfordern der sozialen Verbindlichkeit des Sakralen bedurfte der Regelhaftigkeit, der Ritualisierung, der Disziplinierung und Überwachung. Ämter und Institutionen bezogen Macht aus dem Sakralen, das der Verwaltung und Vermittlung durch »Sakralexperten« bedurfte. Die Konferenz interessiert sich daher auch für die sich wandelnde Praxis des Sakralen, das heißt seine Akteure, Formen und Vermittlungsmedien auch jenseits heiliger Texte: Wer sind die autoritativen Akteure des »Sakralitätsmanagements« und in welchem Verhältnis stehen diese zur religiösen und weltlichen Macht? Welchen Einfluss hatten beispielsweise die neuen, visuellen, klanglichen und digitalen Medien des 20. und 21. Jahrhunderts auf gesellschaftlich relevante Formen des Sakralen? (5) Sakraltransfer: Die asymmetrischen, aber wechselseitigen Interferenzen zwischen Religion und anderen gesellschaftlich-politischen Feldern werden in der (Kirchen-)Geschichte oft unter dem Begriff des Sakraltransfers untersucht. Gemeint ist mit diesem Begriff die Übernahme religiöser Kategorien, Rituale und Symbole in nicht-religiöse Kontexte. Nicht-religiöse Phänomene werden so als überzeitlich, unverfügbar und ordnungsgebend erklärt. Prägnante Beispiele sind z.B. die Sakralisierung von Nation, Volk und Staat durch die Zuschreibung von Zeichen, Symbolen, Riten und Narrativen aus der »religiösen« Sphäre. Wer von Sakraltransfer spricht, verbindet damit häufig eine explizit damit verbundene Herkunftsbehauptung sakralisierender Elemente und suggeriert zugleich eine eindeutige Richtung des Transfers. Die dem zugrunde liegende Annahme, jegliche Form der Sakralisierung sei nur als Ableitung aus dem religiösen Bereich zu verstehen, wäre ebenso zu diskutieren wie die Annahme getrennter, religiöser und außerreligiöser Sphären.

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