Zurück

Beiheft online 2

Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz
Beiheft online 2
Kerstin Armborst / Wolf-Friedrich Schäufele (Hg.)
Der Wert „Europa“ und die Geschichte
Auf dem Weg zu einem europäischen Geschichtsbewusstsein
Mainz: Institut für Europäische Geschichte 2007
ISSN: 1863-897X

Die Diskussionen um ein „europäisches Geschichtsbewusstsein“ werfen die Frage nach dem Stellenwert des Europagedankens in der Historiographie und im Geschichtsdenken unterschiedlicher Gruppen auf. Lassen sich in der Historiographiegeschichte bereits Faktoren ausmachen, die in Richtung eines „europäischen Geschichtsbewusstseins“ weisen? Die hier versammelten Beiträge erörtern den Umgang mit dem Wert „Europa“ und seine Funktion in verschiedenen Ausdrucks- und Vermittlungsformen von Geschichtsbewusstsein in der Neuzeit.


Empfohlene Zitierweise:

Kerstin Armborst / Wolf-Friedrich Schäufele (Hg.): Der Wert „Europa“ und die Geschichte. Auf dem Weg zu einem europäischen Geschichtsbewusstsein, Mainz 2007-11-21 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft online 2).
URL: http://www.ieg-mainz.de/vieg-online-beihefte/02-2007.html
URN: urn:nbn:de:0159-2008031319

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieser Publikation hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein.

Inhaltsverzeichnis

Kerstin Armborst / Wolf-Friedrich Schäufele

Vorwort

4–4

Heinz Duchhardt

Zum Geleit

5–6

Olaf Asbach

Der Wert »Europa« – seine Bestandteile, Definitionen und Funktionen (aus politikwissenschaftlicher Sicht)

7–31

Peter Krüger

Der Wert »Europa« – seine Bestandteile, Definitionen und Funktionen (aus geschichtswissenschaftlicher Sicht)

32–45

Herbert Uerlings

»Eine freie Verbindung selbständiger, selbstbestimmter Wesen«. Friedrich von Hardenbergs (Novalis) Europa-Rede

46–59

Aram Mattioli

Denkstil »christliches Abendland«. Eine Fallstudie zu Gonzague de Reynold

60–75

Ulrich Wyrwa

Das Bild von Europa in der jüdischen Geschichtsschreibung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts

76–95

Matthias Middell

Das Verhältnis von nationaler, transnationaler und europäischer Geschichtsschreibung

96–116

Susan Rößner

Nationale Historiographietraditionen als Voraussetzung der Europageschichtsschreibung. Die Whig-Geschichtsschreibung in englischen Europa- und Weltgeschichten der 1920er Jahre

117–127

Bernd Schönemann

Didaktische Varianten der Präsentation europäischer Geschichte im Unterricht

128–138

Marie-Louise von Plessen

Die Idee Europa im Museum

139–151

Kerstin Armborst / Wolf-Friedrich Schäufele

Vorwort

Gliederung:
Anmerkungen
Zitierempfehlung

Text:

Die Beiträge der vorliegenden Publikation sind auf der Grundlage von Referaten entstanden, die im Rahmen des Kolloquiums „European Turn? Auf dem Weg zu einem europäischen Geschichtsbewusstsein“ am 29. und 30. März 2007 im Institut für Europäische Geschichte in Mainz gehalten wurden. Unser Dank gilt den Referentinnen und Referenten für ihr Engagement bei diesem Kolloquium und dafür, dass sie ihre Beiträge für diese online-Publikation zur Verfügung gestellt haben. Für die redaktionelle Bearbeitung der Beiträge danken wir Vanessa Brabsche und Mare van den Eeden. Der Gerda Henkel Stiftung sei für die Finanzierung des Kolloquiums gedankt.

Mainz, im August 2007
Kerstin Armborst
Wolf-Friedrich Schäufele

 4

ZITIEREMPFEHLUNG

Kerstin Armborst / Wolf-Friedrich Schäufele, Vorwort, in: Kerstin Armborst / Wolf-Friedrich Schäufele (Hg.), Der Wert „Europa“ und die Geschichte. Auf dem Weg zu einem europäischen Geschichtsbewusstsein, Mainz 2007-11-21 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft online 2), Abschnitt 4–4.
URL: <http://www.ieg-mainz.de/vieg-online-beihefte/02-2007.html>.
URN: <urn:nbn:de:0159-2008031319>.

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieses Aufsatzes hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein.
Beim Zitieren einer bestimmten Passage aus dem Aufsatz bitte zusätzlich die Nummer des Textabschnitts angeben, z.B. 5 oder 4–7.

Heinz Duchhardt *

Zum Geleit

Gliederung:
Anmerkungen
Zitierempfehlung

Text:

Das Kolloquium, das hier dokumentiert wird, ordnete sich ein in den Kontext des am Institut für Europäische Geschichte neu eingerichteten Forschungsbereichs »Wertewandel und Geschichtsbewusstsein«, der Ausdrucksformen des Geschichtsbewusstseins und des historischen Selbstverständnisses im neuzeitlichen Europa auf die sie prägenden und von ihnen vermittelten Wertvorstellungen hin untersucht. In seinem Rahmen sollten aus verschiedenen Perspektiven Fragen der Entwicklung, des Stellenwerts und der Wirkung des Europagedankens in der Historiographie und im Geschichtsbewusstsein unterschiedlicher Gruppen beschäftigen.

Der Titel der interdisziplinären Konferenz griff auf den seit den sechziger Jahren, in den Geisteswissenschaften immer häufiger verwendeten Begriff des »turn« zurück als Bezeichnung für eine Verschiebung des Blickwinkels oder Zugangs, die »Indikator für die Erweiterung der geschichtlichen Wahrnehmungsweisen« (Karl Schlögel) ist. Er ist, die vielen »turns« der jüngeren Vergangenheit eher etwas ironisierend, im Institut selbst entwickelt worden, wurde aber dieser Konferenz ernsthaft und mit erkenntnisleitender Absicht vorgegeben; freilich wurde er, vorhersehbare Kritik antizipierend, mit einem Fragezeichen versehen. Die Tagung stellte zur Diskussion, inwieweit die sich seit dem 19. Jahrhundert intensivierenden Auseinandersetzungen mit dem Europagedanken in der Geschichtsschreibung und im Geschichtsbewusstsein als Elemente eines »European Turn« verstanden werden können. Den Ausgangspunkt dieser Diskussion bildete die analytische Beschäftigung mit dem Wert »Europa«, seinen unterschiedlichen Definitionen und Bestandteilen. Die Erörterung der Frage nach dem Umgang mit dem Wert »Europa« und nach seiner Funktion in Geschichtsdarstellungen und speziellen Vermittlungsformen sollte im Gesamtzusammenhang des Kolloquiums Aufschluss darüber geben, ob sich in der Historiographiegeschichte bereits Faktoren ausmachen lassen, die in Richtung eines »europäischen Geschichtsbewusstseins« weisen.

Die Konferenz knüpfte an aktuelle Diskussionen über das europäische Geschichtsbewusstsein an, die allerdings bislang überwiegend von Geschichtsdidaktikern und Politikwissenschaftlern geführt werden und sich vor allem auf das gegenwärtige und zukünftige Geschichtsverständnis der europäischen Gesellschaften beziehen. Im Vordergrund stehen dabei meist Fragen der Geschichtspolitik, der kulturellen Identitäten und des öffentlichen Umgangs mit Geschichte in Gesellschaft, Publizistik und Schule. Im Kontext des grundsätzlich gewachsenen Interesses an Historiographiegeschichte erfahren aber auch Fragestellungen, die sich auf spezielle Formen der Erinnerung oder des Gedächtnisses beziehen, immer größere Beachtung.

Während sich die Geschichtswissenschaft seit einigen Jahren verstärkt der Frage widmet, wie sich »europäische Geschichte« definieren lässt und welche Anforderungen in der Gegenwart an eine »europäische Geschichtsschreibung« zu stellen sind, erfuhr die Erforschung von Stellenwert und Wirkung des Europagedankens in der Historiographie bislang nur wenig Aufmerksamkeit. Ob und inwiefern die Historiographiegeschichte Ansatzpunkte für die Entwicklung eines »europäischen Geschichtsbewusstseins« liefert, ist noch kaum thematisiert worden. Es fehlen zudem Untersuchungen, die der Wertigkeit der Europaidee in der Geschichtsschreibung und in der Geschichtskultur der Neuzeit in einem breiteren, vergleichenden Rahmen nachgehen.

 5

Das Kolloquium fügte sich somit zweitens in den Zusammenhang der Diskussion über das Geschichtsbild Europas und eine kritische Europageschichte ein. Jedoch gingen Fragestellung und Konzeption der Veranstaltung über die Untersuchung einzelner Europakonzeptionen hinaus und knüpften an Forderungen nach einer »selbstreflexiven Historiographiegeschichte« (Konrad Jarausch) an. Dabei galt die Aufmerksamkeit weniger einzelnen Personen und ihrem Werk als vielmehr spezifischen Gruppen und Denkrichtungen sowie ihrer historiographischen Auseinandersetzung mit dem Europagedanken. Indem diese Fragestellung unter dem Aspekt der Erforschung von »Wertewandel und Geschichtsbewusstsein« im Hinblick auf einen möglichen »European Turn« und seine Wirkung betrachtet wurde, führte die Tagung mehrere aktuelle Untersuchungsansätze zusammen und machte ihre Teilergebnisse für sie fruchtbar.

Den beiden Herausgebern, die für den oben genannten Forschungsbereich verantwortlich zeichnen, ist zu danken dafür, dass es ihnen gelungen ist, einen hochrangigen Kreis von Wissenschaftlern zu verpflichten und zu versammeln. Dass sie es vermocht haben, in bemerkenswerter Zeitnähe zu der Veranstaltung diese Online-Publikation auf den Weg zu bringen, verdient besonders hervorgehoben zu werden.

Mainz, im August 2007
Heinz Duchhardt

 6

[*] Heinz Duchhardt, Prof. Dr., Institut für Europäische Geschichte Mainz, Direktor der Abteilung Universalgeschichte.

ZITIEREMPFEHLUNG

Heinz Duchhardt, Zum Geleit, in: Kerstin Armborst / Wolf-Friedrich Schäufele (Hg.), Der Wert »Europa« und die Geschichte. Auf dem Weg zu einem europäischen Geschichtsbewusstsein, Mainz 2007-11-21 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft online 2), Abschnitt 5–6.
URL: <http://www.ieg-mainz.de/vieg-online-beihefte/02-2007.html>.
URN: <urn:nbn:de:0159-2008031319>.

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieses Aufsatzes hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein.
Beim Zitieren einer bestimmten Passage aus dem Aufsatz bitte zusätzlich die Nummer des Textabschnitts angeben, z.B. 6 oder 5–8.

Olaf Asbach *

Der Wert »Europa« – seine Bestandteile, Definitionen und Funktionen (aus politikwissenschaftlicher Sicht)

Gliederung: 1. Irritationen: ›Europa‹ – ›Wert Europa‹ – ›Europäische Werte‹?
2. »Europa« in den aktuellen Debatten über die Grundlagen der EU

3. Die Paradoxien von Allgemeinheit und europäischer Partikularität
4. Vom Wert des Verzichts auf europäische Werte
Literaturverzeichnis

Anmerkungen
Zitierempfehlung

Text:

1. Irritationen: ›Europa‹ – ›Wert Europa‹ – ›Europäische Werte‹?

Wird man vor die Aufgabe gestellt, den »Wert ›Europa‹ – seine Bestandteile, Definitionen und Funktionen« aus politikwissenschaftlicher Sicht zu reflektieren, sieht man sich nicht unerheblichen Problemen gegenüber. Fast unwillkürlich führt es zu dem, was manchen selbst ein Spezifikum – oder gar ›Wert‹? – europäischer Geistes- und Kulturgeschichte zu sein scheint: zu einem ob der jähen Erkenntnis des eigenen Unwissens verwundert innehaltenden Staunen samt darauf folgendem, mehr oder weniger naivem Be- und Hinterfragen des Gegebenen bzw., in diesem Falle: des Aufgegebenen. Nimmt man die Aufgabenstellung näher in den Blick und sinnt, auf der Suche nach einem griffigen Ansatzpunkt, ihren Implikationen und Dimensionen nach, so macht man eine Erfahrung, die für die Beschäftigung mit dem Europabegriff selbst höchst aufschlußreich ist: je näher man sich ihm zuwendet, desto unschärfer wird das Bild. Beschränkt man sich nämlich nicht, wie es häufig geschieht, auf die bloße Bestandsaufnahme eines spezifischen Europaverständnisses innerhalb eines vorgegebenen Quellenkorpus oder auf die Verteidigung spezifischer normativ aufgeladener Varianten, so brechen schnell Ratlosigkeit und eine neue Unübersichtlichkeit aus. Da jedoch die Vermutung naheliegt, daß diese Unsicherheit darüber, was es mit der Frage nach dem »Wert ›Europa‹« auf sich hat, ihren Grund in der Komplexität des damit bezeichneten ›Gegenstandes‹ hat, sollte sie als durchaus produktiv verstanden werden. Dient sie dazu, solchen und ähnlichen Wendungen den falschen Schein der Eindeutigkeit und Klarheit zu nehmen, so ist sie die Vorbedingung eines notwendigen Prozesses der Aufklärung über diesen ›Gegenstand‹ und den eigenen Sprachgebrauch. In diesem Sinne soll im folgenden der Arbeitsauftrag der Veranstalter interpretiert werden, wenn sie mit Konrad Jarausch zu einer »selbstreflexiven Historiographiegeschichte« auffordern, die gerade »über die Untersuchung einzelner Europakonzeptionen« hinausgeht und untersuchen muß, welche systematischen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, Spezifika und Problematiken zugrunde liegen.

 7

Einen Eindruck von den mit dem Thema verbundenen Problemen geben Nachfragen bzw. Verständigungsfragen, die sich auf den sachlichen und semantischen Gehalt der Frage nach dem »Wert Europa« beziehen. Denn wovon ist eigentlich die Rede, wenn man von ›Europa‹ spricht? Was ist der Gegenstand, von dem man spricht, wenn von Europagedanke, Europabild, Europarede, Europaidee oder der Repräsentation Europas die Rede ist? Gibt es ein ›etwas‹, auf das man sich bezieht, wenn man von Europa als dem Gegenstand von Gedanken, Ideen und Begriffen spricht? Oder hat man es, mehr oder weniger radikal (de)konstruktivistisch gedacht, mit einem Gegenstand zu tun, der erst in diesem und durch dieses Sprechen und Denken konstituiert und konstruiert wird? Die Frage, die sich in diesem Falle unwillkürlich anschließt, ist: warum wird dann dieser Begriff als Bezugspunkt der Konstruktion verwandt? Und warum wird er in spezifischen zeitlichen, räumlichen und soziokulturellen Kontexten und Diskursen in ganz unterschiedlicher Weise verwendet – oder eben nicht? Begriff und Sache verweisen aufeinander, und beide erweisen sich im Falle ›Europas‹ als außerordentlich rechtfertigungsbedürftig. – Dieser Rechtfertigungs- und Klärungsbedarf potenziert sich noch, wenn vom Wert Europas gesprochen oder nach einem solchen gefragt wird. Inwiefern kann überhaupt ein Europabegriff ein ›Wert‹ sein? Was heißt in diesem Falle ›Wert‹? Was für ein Wert ist dies, und für wen ist dies ein Wert? Woher stammt dieser Wert oder überhaupt die Ansicht, daß es einen solchen geben könnte oder sollte? Und was folgt aus einem solchen Wertekonstrukt für das Handeln und die Orientierung von Individuen und Institutionen? Oder ist die Wendung vom »Wert Europa« ganz anders zu verstehen, nämlich im Sinne eines Oberbegriffs, wonach Europa spezifische Werte eigen sein sollen, die ihm folglich eine besondere Wertigkeit verleihen? Zu klären wäre dann nicht nur, um welche Werte es sich dabei handelt, sondern nachzuweisen wäre insbesondere, was an den jeweiligen Werten spezifisch europäisch und wie dies zu begründen ist. Was bedeuten zudem solche vermeintlich ›europäischen‹ Werte für die Selbstbestimmung Europas und für seine Beziehung auf Nicht-Europa, und was folgt politisch aus einer erklärten Europäizität – d.h. letztlich: aus dem Eurozentrismus – solcher Werte oder des durch sie bestimmten Europa?

 8

So abstrakt und spitzfindig solche und ähnliche Fragen scheinen mögen, so unausweichlich und notwendig ist doch die Auseinandersetzung mit ihnen. Denn allein dadurch, daß sich Veranstaltungen und Publikationen wie diese hier mit ›Europa‹ und darauf bezogenen Wertfragen beschäftigen, ist schließlich zugleich Ausdruck und Faktor dieser Bestimmungsprozesse Europas. Auch wer sich dem inhaltlich widersetzen wollte, wird allein durch die Teilnahme am Diskurs hierüber zum Akteur des Prozesses des Webens an ›Europa‹ als geo- und historiographischer Kategorie, als Begriff, Idee oder Wert. Und ein auch nur kursorischer Blick auf die Resultate dieser Diskurse macht hinreichend deutlich, daß die Antworten auf solche Fragen in je spezifischer, nicht nur unterschiedlicher, sondern oft widersprüchlicher Weise ausfallen. Es gibt verschiedene Wege, mit dieser Problematik umzugehen. Man kann sich mit dem mehr oder weniger begriffslosen Konstatieren des So-Seins begnügen. Man kann sich mit dem außerwissenschaftlich-voluntaristischen Optieren für eine dieser Möglichkeiten, ›Europa‹ und seine(n) Wert(e) zu bestimmen, zufriedengeben. Und man kann schließlich das Problem dadurch zu ›lösen‹ suchen, daß man es aufgrund der offenbar unversöhnlichen Heterogenität der vertretenen Europabegriffe zu einem Scheinproblem erklärt – auch wenn dies wohl selbst nur eine Scheinlösung wäre, da diese diskursiven und normativen Bestimmungen und ihre historisch-gesellschaftlichen Zusammenhänge und Konsequenzen als faits sociaux dadurch schließlich nicht aus der Welt geschafft würden. Man kann jedoch auch das Ungenügen dieser Optionen zum Anlaß nehmen, sich auf metatheoretischer Ebene darüber klar zu werden, was es überhaupt heißt, wenn in einer spezifischen historischen und gesellschaftlichen Situation über Europa und seinen Wert oder seine Werte reflektiert und diskutiert wird. Nur so nämlich scheint ein wissenschaftlich und politisch angemessener Umgang mit dieser Problematik möglich zu sein.

 9

Zu diesem Zweck soll im folgenden zunächst kurz auf die aktuellen politischen und wissenschaftlichen Diskurse über Europa und europäische Werte eingegangen werden, um einige leitende systematische und politische Dimensionen und Implikationen, vor allem aber Ambivalenzen und Probleme dieser Diskurse anzusprechen (II). In einem zweiten Schritt wird die ›negative Dialektik‹ aufzuweisen gesucht, die in den derzeit dominierenden Diskursen über die Werte Europas wirksam ist: Die kulturorientierte Form von wissenschaftlicher Analyse und politischer Propagierung vermeintlich europäischer Werte wie Pluralität und Freiheit führt nämlich dazu, daß die in diesen Diskursen – und den darauf aufbauenden bzw. dadurch legitimierten politischen und sozialen Praxen, Institutionen und Verfahren – vorgeblich vertretenen normativen Gehalte und Ziele gerade negiert werden (III). Abschließend wird demgegenüber zu zeigen versucht, daß der ›Wert Europas‹ historisch und politisch eher darin liegt, als Lehrbeispiel dafür zu dienen, daß Wertediskurse in der Moderne nur noch in vermittelter Form zum Tragen kommen können und insbesondere in ihrer kulturspezifischen Interpretation weder analytisch noch politisch zur Grundlage von Debatte und Institutionen politischer und sozialer Integration tauglich sind (IV).

 10

2. »Europa« in den aktuellen Debatten über die Grundlagen der EU

2.1. Politische Integration und der Rekurs auf ›Europa‹

Die vor allem seit dem 20. Jahrhundert zu registrierende Zunahme an Aussagen und Debatten über Europa, seine politischen und kulturellen Qualitäten, seine Strukturen und Entwicklungstendenzen, seine Werte und Ziele haben sich nie im luftleeren Raum akademischer Diskurse bewegt. Frage- und Problemstellung, Material und Motivation wie auch die jeweiligen Stellungnahmen und Antworten sind gleichermaßen Teil gesellschaftlicher und politischer Prozesse, die sie anregen, auf die sie sich direkt oder indirekt beziehen und auf die sie, wie vermittelt und möglicherweise ungewollt auch immer, wieder zurückwirken. In besonderem Maße und in neuartiger Weise gilt dies, seitdem von den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts an zuerst mit den Europäischen Gemeinschaften, schließlich mit der Europäischen Union sukzessive eine Wirtschafts-, Rechts- und politische Gemeinschaft begründet wurde, die sich explizit auf ›Europa‹ bezogen hat – auch wenn sie über Jahrzehnte hinweg nur sechs, 12 oder 15 Mitgliedstaaten umfaßt hat und auch nach den jüngsten Erweiterungsrunden noch nicht den Anspruch erheben kann, mit Europa zusammenzufallen, wie auch immer man es nun genau bestimmen mag.

 11

Es werden in diesem Prozeß also unterschiedliche Ebenen miteinander verkoppelt: Einerseits gibt es die Ebene der Konstruktion eines spezifischen Systems institutioneller Kooperation und Koordination, das inzwischen den Charakter einer politischen Gemeinschaft angenommen hat, d.h. einer Gemeinschaft, die auf Willensentscheidungen ihrer Mitglieder basiert und die Kooperation in und Integration von zahlreichen politischen, sozioökonomischen und anderen Bereichen organisiert. Andererseits wird die Ebene einer gleichsam als vorpolitisch unterstellten Entität ›Europa‹ zum Thema, der spezifische Strukturen, Eigenschaften, Erfahrungen und eben auch ›Werte‹ zu- oder auch abgesprochen werden (können). Solange – wie seit den 50er Jahren bis weit in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein – der Kreis der Mitgliedstaaten noch klein war und die institutionellen Kooperationsformen einen bewußt unpolitischen Charakter trugen und vornehmlich durch den Mechanismus der ›funktionalen‹ oder ›negativen Integration‹ erfolgten, war die Reflexion auf den Charakter dieser beiden Ebenen und die Spezifik ihrer Verkopplung von eher untergeordneter Bedeutung. Beschränkte Formen politischer und ökonomischer Kooperation und sektoraler Integration einer vergleichsweise geringen Zahl westeuropäischer Staaten konnten kaum mit dem Anspruch in Verbindung gebracht werden, Europa als wie auch immer bestimmtes ›Ganzes‹ zu repräsentieren. Dies ändert sich seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, als eine Reihe von tiefgreifenden Veränderungen innerhalb Europas wie auf globaler Ebene dem Integrationsprozeß eine außerordentliche Dynamik verlieh; stichpunktartig erinnert sei hierzu nur an die ökonomischen und finanziellen Globalisierungsprozesse mit ihren vielfältigen Rückwirkungen, an die Auflösung der bipolaren Nachkriegsordnung und die dadurch bewirkte sogenannte ›Rückkehr‹ der ost- und mitteleuropäischen Staaten ›nach Europa‹ einerseits, an die neuen Entwicklungen und Unwägbarkeiten der neuen Welt(un)ordnung andererseits, und schließlich an die Globalisierung ökologischer Problemlagen wie auch neuer Sicherheitsprobleme, wie sie vor allem seit dem 11. September 2001 aktualisiert und vielfach produziert werden. Die Institutionen der Europäischen Gemeinschaften – bzw., seit 1993, die der Europäischen Union – entwickelten sich in den letzten beiden Jahrzehnten zu einem institutionellen Rahmen, innerhalb und vermittels dessen die europäischen Staaten und sonstigen hier bestehenden transnationalen Akteure versuchen, diese äußerst heterogenen, in ihren Ursachen und Wirkungen jedoch positiv oder negativ miteinander korrelierenden Entwicklungen, Aufgaben und Problemlagen zu bewältigen.

 12

Da auf diese Weise politische Entscheidungen über rechtliche, ökonomische, soziale und andere Verhältnisse und Entwicklungen nun in zunehmendem Maße auf der Ebene der Institutionen der Europäischen Union getroffen und umgesetzt werden, erwächst dieser ›Willensgemeinschaft‹ europäischer Akteure ein neuer Begründungs- und Legitimationsbedarf für das eigene Tun.[1] Insofern sich politische Institutionen und Entscheidungen unter den Bedingungen der Moderne durch den Rückgang auf den Willen und die Interessen der von ihnen Betroffenen rechtfertigen, gilt dies nicht mehr nur für die nationalen, sondern auch für die transnationalen Institutionen und Mechanismen der Willensbildung und Entscheidung auf Unionsebene.[2] Damit stellt sich die Frage nach den normativen Grundlagen des politischen Systems ›Europäische Union‹, also auch nach den tragenden und beförderten ›Werten‹. Berühren und regulieren nämlich die Entscheidungen der EU in quantitativ und qualitativ erheblichem Maße die Grundlagen der politischen, ökonomischen und soziokulturellen Ordnungs- und Handlungsstrukturen der individuellen und kollektiven Akteure, bedeutet dies zugleich immer auch die Durchsetzung spezifischer Wertentscheidungen und dadurch wiederum den Ausschluß alternativer Optionen: seien es Entscheidungen über die politischen und sozialen Grundlagen und Institutionen des Lebens und Handelns selbst, seien es solche über die Durchsetzung oder eben Nichtverfolgung spezifischer Interessen und Ziele.

Es sind diese sozusagen durch die Faktizität der Integrationsprozesse der Europäischen Union generierten Legitimationserfordernisse, durch die das Problem der ›Werte‹ in die Diskussion gebracht worden ist. Die Art und Weise jedoch, in der dies geschieht, ist ebenso diffus wie vieldeutig in Begründung, Inhalt und Konsequenzen. Man kann gleichsam idealtypisch zwei unterschiedliche Formen, in denen die Werte, die den gegenwärtig vorherrschenden Diskursen zufolge ›Europa‹ prägen oder verkörpern und der EU als identitäts- und legitimitätsstiftend zugrundegelegt werden sollen, differenzieren. Dabei scheinen sich die Grundlagen dieser Wertediskurse auf den ersten Blick kaum oder gar nicht voneinander zu unterscheiden. Schaut man sich nämlich die seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts exponentiell wachsende Zahl von einschlägigen Äußerungen und Schriften aus Politik und Wissenschaft an, die sich mit der Frage nach den normativen Fundamenten der Europäischen Union befassen, so kristallisiert sich schnell eine kleine Anzahl von höchst allgemeinen Werten und Prinzipien heraus, die, wenn auch mit je eigenen Begründungen und Zielsetzungen, von den unterschiedlichsten Akteuren geteilt und vertreten werden. Explizit wird die EU auch im inzwischen gescheiterten Entwurf für einen Verfassungsvertrag für Europa, wie er im Herbst 2004 durch die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union verabschiedet wurde, als eine »Wertegemeinschaft« bestimmt:

»Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.«[3]

Offenkundig sind dies Werte und Prinzipien, deren Charme und Attraktivität besonders darin liegt, daß sie die Vielfalt des historisch und empirisch als ›Europa‹ und ›europäisch‹ Gegebenen bestätigen, rechtfertigen und zur Grundlage europäischer Integration und Identität erklären.[4] Durch die Art und Weise jedoch, in der sie interpretiert und mit ›Europa‹ als historisch-kulturellem wie als politischem Zusammenhang verbunden werden, ergeben sich gravierende Differenzen hinsichtlich ihrer politischen und sozialen Konsequenzen.

 13

2.2. ›Grundwerte‹ der politischen Projektidentität der EU

In der ersten der hier nur knapp zu skizzierenden Perspektiven handelt es sich bei den zugrundegelegten Werten und Prinzipien um solche, die das Fundament dessen bilden, was man die ›politische Projektidentität‹ der EU nennen kann.[5] Geschichte und ›wertbestimmte‹ Politik bilden hierbei einen ganz spezifischen Zusammenhang. Die Grundlage der EU stellen demnach die historischen Entwicklungen und Erfahrungen vor allem des 20. Jahrhunderts dar, die geprägt waren durch Gewalt und Krieg, Nationalismus und Intoleranz sowie von politischen und gesellschaftlichen Systemen und Praktiken, die den genannten Werten eklatant widersprachen. Die Einsicht in diese Problematik und der Wille, diese Verhältnisse dauerhaft zu ändern, führte demnach dazu, daß diese Werte weitgehende Anerkennung gefunden haben und nach dem zweiten Weltkrieg zu den Grundlagen und Akzeptanzbedingungen der politischen Union der europäischen Staaten und Gesellschaften gemacht worden sind.[6] Die der Gemeinschaft zugrundeliegenden Werte sind demnach nichts ihr aus der Vergangenheit ›Zugewachsenes‹, sondern umgekehrt gerade etwas dieser Vergangenheit aus freiem Willen Entgegengesetztes. In diesem Punkt deutet Morin[7] die gewöhnlich traditionsorientierte Rede von der »Schicksalsgemeinschaft Europa« in interessanter Weise um, wenn er aufgrund des Umstands, daß Europas Vergangenheit gerade durch die Permanenz von (auch und gerade Werte-) Konflikten und das Fehlen von Identität geprägt sei und deshalb gerade nicht als Fundament dienen kann, anregt, diese ›Schicksalsgemeinschaft‹ durch gegenwärtige und zukünftige Gefahren und Ziele zu bestimmen. Die EU wird folglich als eine politische Gemeinschaft verstanden, die die so bestimmte ›Wertegemeinschaft‹ zum Ausdruck und zur Geltung bringt. Dies geschieht durch politische Institutionen, Prinzipien und Verfahren, die so ein- und ausgerichtet sind, daß sie den Rahmen und den Raum bilden, sie zur Entfaltung zu bringen. Hierzu werden v.a. die Konstituierung einer demokratischen Rechts- und Verfassungsordnung gerechnet, welche die individuellen und kollektiven Rechte und Interessen schützt, Strukturen demokratischer Teilhabe, die Trennung von Politik und Religion oder die Gewaltenteilung. Es handelt sich um Institutionen und Prinzipien, die garantieren sollen, daß die vielfältigen individuellen und kollektiven Interessen und pluralen Lebensformen kooperieren, einander weder behindern noch negieren und in ihren allgemeinen Existenzbedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten entsprechend den genannten ›Grundwerten‹ und ›Grundrechten‹ gefördert werden.

 14

Bereits nach diesen wenigen Hinweisen deutet sich an, daß es sich bei dieser normativen Fundierung und institutionellen Konstruktionsweise der EU um eine politische Willens- und Wertegemeinschaft handelt, die in Form und Inhalt nichts an sich hat, was spezifisch auf Europa bezogen und beschränkt wäre.[8] Dies gilt für die genannten Werte, Prinzipien und Institutionen, insofern sie in ihrer Begründung, ihren Strukturen und ihrer Reichweite universalistisch und unabhängig von spezifischen kulturellen oder anderen Besonder- und Gegebenheiten sind. Ihre Bedeutung für die EU gründet sich somit auf die Entscheidung für diese Werte und Prinzipien sowie die dementsprechenden Organisationsformen der politischen und gesellschaftlichen Institutionen. Die EU als so verstandene ›Werte‹- und ›Willensgemeinschaft‹ ist demnach ohne jede interne Beziehung auf ein spezifisches geographisches, historisch und/oder kulturelles Vorverständnis einer vorpolitischen Entität ›Europa‹. Zwar muß sie sich in einem spezifischen soziokulturellen Zusammenhang ›materialisieren‹ und damit als Teil einer partikularen Kultur ›geglaubt‹, ›gewollt‹ und ›gelebt‹ werden; es handelt sich jedoch hierbei um die Werte und Prinzipien einer politischen Kultur, die als solche unabhängig ist von den jeweils konkret existierenden kulturellen und religiösen Traditionen, Überzeugungen und Weltbildern.[9] Dies wird bereits durch den Umstand unterstrichen, daß eben dieselben Werte- und Willensgemeinschaften auf einzelstaatlicher Ebene sowohl innerhalb wie außerhalb Europas existieren; und zumindest theoretisch spricht nichts dagegen, daß sie auf transnationaler Ebene realisiert werden könnten – und zwar innerhalb wie außerhalb Europas. Somit sagen diese Werte und Institutionen als solche nichts über das Europäische dieser Europäischen Union aus; und folglich können sie auch keine Auskunft darüber geben, wer dieser auf universalen Werten und Einrichtungen beruhenden politischen Union als einer ›europäischen‹ zugehören könnte und wer nicht.[10] Die Konsequenz – ob Stärke oder Schwäche, sei an dieser Stelle dahingestellt – dieser Konzeptionalisierung der EU als eines auf universalistischen Werten basierenden politischen Projekts ist folglich, daß sie keine vorpolitischen kulturellen Bestimmungen darüber zu treffen vermag, wer der politisch verfaßten Union beitreten kann und wer nicht. Die Frage der Mitgliedschaft ist eine politisch kontingente Frage;[11] jenseits der Akzeptanz der ihr (›voluntaristisch‹) zugrundegelegten Werte und Institutionen bleiben dann nur noch pragmatische Erwägungen über Sinnhaftigkeit und Wünschbarkeit, Stabilitätsbedingungen, Risiken und Vorteile, wie sie jede vergleichbare politische Gemeinschaft auch anstellen würde.

 15

2.3. Die Fundierung der EU auf »europäischen Werten«

Diese Kontingenzproblematik hinsichtlich der Bestimmung der Wertebasis als Fundament einer politischen Union Europas als spezifisch europäischer versucht eine zweite Variante ihrer Begründung und politischen Interpretation aufzuheben. Vermittels einer leichten Verschiebung der Perspektive gewinnt hier der Wertediskurs dadurch eine völlig neue Dimension und politische Stoßrichtung, daß die Werte, die der politischen Integration Europas zugrunde liegen sollen oder müssen, auf ihren spezifischen historischen und kulturellen Hintergrund bezogen und dadurch in ihrer Genesis und Geltung als spezifisch ›europäisch‹ bestimmt werden. Scheinbar paradox, erhalten selbst die obengenannten universellen Werte, wie sie als Fundament Europas und der Europäischen Union angegeben werden, dadurch einen prinzipiell partikularen Charakter.

Den Ausgangspunkt dieser Argumentation bildet die Frage nach den Gründen für die Entstehung und Akzeptanz von Werten. Aufgrund der plausiblen Annahme, daß Werte nicht beliebig gewählt und ausgetauscht werden können, sondern fundamentale Orientierungs- und Handlungsnormen individuellen und kollektiven Handelns bezeichnen, die in spezifischen kulturellen Kontexten und Sozialisationsprozessen ausgebildet und eingeprägt werden und eben dadurch ihren hohen Motivations- und Verpflichtungsgrad für die je eigene Handlungsorientierung erhalten, wird demnach die politische Entscheidung für die genannten universellen Werte und ihre Geltung dadurch zu begründen und zu verankern gesucht, daß man sie als die »kulturellen Werte Europas« identifiziert.[12] Sie gelten dann nicht, weil wir dies wollen oder für richtig halten, sondern wir wollen sie und halten sie für richtig, weil sie Resultate europäischer Geschichte und Kultur, einer spezifisch europäischen Schicksals- und Wertegemeinschaft sind, weil sie uns sozusagen prägen, zugewachsen sind, motivieren und deshalb letztlich gewollt werden müssen.[13] Die EU wird dann auf einem »Ensemble zivilisatorischer Werte« basierend gedacht, die gleichsam als »Erbe« an uns gegeben sind.[14] Sie sind das Ergebnis eines »europäische[n] Zivilisationsprozess[es], wie er von unseren Vorfahren und uns in Gang gesetzt wurde«.[15] Wenn man sich also in Europa auf universelle Werte wie Freiheit und Menschenwürde, »respect for diversity«, Humanismus und Demokratie beziehe, dann deshalb, weil es sich hierbei um etwas genuin Europäisches – und somit Partikulares – handelt, um nichts weniger nämlich als um »our values and our culture as the fundamental bases of our society«.[16] Der unmittelbare Zusammenhang, der hier zwischen Geschichte, Kultur, Werten und Politik hergestellt wird, ist offensichtlich und auch beabsichtigt. Nicht ohne guten Grund ist es just der Präsident der Europäischen Kommission, José Manuel Barroso, der sich hier solch emphatischer Begrifflichkeiten bedient. Der Rekurs auf vermeintlich spezifisch europäische Werte kann auf diese Weise unmittelbar dafür genutzt werden, die Grundlagen für die europäische Identität und das Gefühl der Zugehörigkeit zu dem sich darauf beziehenden Projekt einer politischen Union Europas zu bestimmen: »European values which bind together our continent and our common project«.[17] Die Rekonstruktion der historischen Entwicklung der europäischen Kultur und der darauf beruhenden Wertebasis soll dem Prozeß der politischen Integration Europas bei »the re-creation of its ethos or […] its charisma«[18] dienlich sein. Sie erscheint nunmehr als eine politische Gemeinschaft, auf die sich Europäer als Ausdruck und Verkörperung ihrer besonderen Werte, Interessen und Ziele beziehen, mit der sie sich folglich identifizieren und für die sie einzustehen bereit sein können (und müssen).

 16

Ungeachtet der Frage nach der möglichen historischen und normativen Angemessenheit und Wünschbarkeit einer solchen Konzeption dürfte damit die Spezifik dieses Wertediskurses klar sein. Selbst wenn (was empirisch durchaus nicht immer der Fall ist) hier also genau dieselben universellen Werte wie in der im vorstehenden Abschnitt skizzierten politisch-»voluntaristischen« Konzeption vertreten werden, ändert sich ihre Funktion und ihr Charakter doch in besonderer Weise. Indem sie als europäische Werte historisch-kulturell verankert und zur Basis der politischen Institutionen der EU erklärt werden, erhalten sie einen partikularen, von In- und Exklusion gekennzeichneten Charakter. Dies gilt zum einen nach innen. Politisches Handeln identifiziert dann das ›Universale‹ als das ›Eigene‹, das ihm als Ziel und Zweck vor- und aufgegeben ist. Eine solche Politik, die vorgibt, ›europäisch-universale‹ Werte zu vertreten, die ihr gleichsam aus historisch-kulturellem Boden zugewachsen seien, trägt die Tendenz in sich, als eine Leitkultur verstanden zu werden, die exklusiv und exkludierend ist, auch wenn sie im Namen von Freiheit, Vielfalt und Pluralismus auftritt. Sie schließt Anderes gerade aus, sofern sie diese Werte als Form des ›guten Lebens‹ im inhaltlichen Sinne für verbindlich erklärt, sie mit politischen und rechtlichen Mitteln durchsetzt und in letzter Konsequenz erzwingt.[19]

Dieselbe Problematik zeigt sich zum anderen an den unter Berufung auf die Werte Europas vollzogenen Prozessen der offenen oder impliziten Ab- und Ausgrenzung nach außen. Es ist durchaus bezeichnend, daß eine der ersten Inanspruchnahmen der politischen Berufung auf eine europäische Wertegemeinschaft 1988 von der ansonsten wenig durch ihre Europhilie aufgefallenen britischen Premierministerin Margaret Thatcher stammt, die damit den politisch-ideologischen Gegensatz zwischen Europa und dem Westen und der Sowjetunion zu einem Widerstreit von Kulturen und Werten erklärte.[20] In den letzten Jahren hat sich diese Wertedebatte v.a. auf die Beziehung Europas zur ›islamischen Kultur‹ hin verschoben. Sie prägt implizit oder explizit die Diskussion über die Frage, ob die Türkei überhaupt »zu Europa gehört« und es deshalb prinzipiell möglich oder ausgeschlossen ist, daß sie einer EU beitritt, die »Europa« verkörpern soll.[21] Der Verweis auf die nicht-europäische, vom Islam und gänzlich anderen politisch-sozialen Traditionen und Strukturen geprägte Geschichte, Kultur und Wertebasis, die sich von den genannten universalistischen Werten Europas so deutlich unterscheiden sollen, wird damit zum Argument, um dem auf politischem Willen beruhenden Unionsbeitritt den Boden zu entziehen.[22]

 17

Vor allem seit den Anschlägen vom September 2001 ist diese integrierend-exkludierende Funktion und Wendung des Wertediskurses immer stärker hervortreten. Obwohl sich bereits früher ankündigend und in Struktur und Funktion alles andere als neu,[23] ist das identitätspolitische Potential historisch-kulturell bestimmter »Werte Europas« als Grundlage für Selbstbestimmung und praktisch-politischen Handelns seitdem zu einem Fixpunkt in der Debatte geworden. Sei es gegenüber den vom politischen Islamismus und den von ihm vermeintlich ausgehenden Gefahren für die ›europäischen‹ Werte von Freiheit, Pluralisierung und Demokratie, sei es aber auch gegenüber den USA, die zumindest den Vertretern des ›alten Europa‹ zufolge von der Intervention im Irak bis Guantanamo die Prinzipien von Menschen- und Völkerrecht verletzen – stets wird »Europa« zu Quelle, Bezugspunkt und Pfeiler von Werten, die es zu verteidigen und auszuweiten gilt. Gleichsam als europäisches Echo auf das Manifest »What we’re fighting for«, mit dem amerikanische Intellektuelle 2002 zu gerechten Kriegen für die wahren (d.h. ›westlichen‹) Werte aufriefen, und erinnernd an das berühmte Plakat, auf dem Uncle Sam die Amerikaner zu den Waffen rief, um die Werte der freien Welt zu verteidigen, klärte EU-Kommissionspräsident Barroso vor wenigen Monaten die auf einer groß angelegten Konferenz mit dem programmatischen Titel »A Soul for Europe« versammelten Intellektuellen, Künstler und Wissenschaftler darüber auf, wofür sie zu kämpfen hätten: »in the defence of its values and in the fight for its values, Europe needs you!«[24] Einige Zeit zuvor schon hatte Tzvetan Todorov in seinen »Reflexionen eines Europäers« über die »stille« oder »verhinderte Weltmacht« Europa die europäischen Werte bereits als eine probate Zweckbestimmung bezeichnet, für die »eine europäische Streitmacht gut sein« könnte.[25] Denn weder die zu Dienstleistungsagenturen herabgesunkenen Nationalstaaten noch eine auf handels- und währungspolitische Aufgaben beschränkte EU könnten die Leidenschaften und die Bereitschaft wecken, als Soldaten »ihr Leben aufs Spiel zu setzen. […] Die Wahrung der europäischen Identität und ihrer tragenden Werte bietet daher eine bessere Rechtfertigung für die Risiken, die mit der Übernahme der Verantwortung für unsere Verteidigung einhergehen.«[26]

 18

3. Die Paradoxien von Allgemeinheit und europäischer Partikularität

Diese Hinweise zeigen die Schwierigkeit und die praktische Notwendigkeit, sich über die Art und Weise der Rekonstruktion Europas, seiner kulturellen und politischen Besonderheit und Werte Klarheit zu verschaffen und dies in die Grundlagen des eigenen methodischen Ansatzes und Vorgehens einzubeziehen. Denn obgleich sich die beiden oben genannten Varianten, grundlegende politische und soziokulturelle Werte zu begründen und zur Grundlage der politischen Ordnung zu machen, in ihren Inhalten durchaus nicht unterscheiden müssen, und obwohl nicht ohne Grund zurückgefragt werden kann, warum eigentlich »[one should] disagree with an argument in favour of ›respect for diversity‹ and ›absolute equality‹«,[27] liegt der Unterschied gerade darin, in welcher Weise man sie als »europäisch« versteht und politisch zu vertreten erklärt. Denn etwas, das an sich ›richtig‹ und als ›wertvoll‹ begründbar sein mag, kann, wenn es mit ›falschen‹ Gründen und in der ›falschen‹ Form vertreten und verfochten wird, das Gegenteil dessen produzieren, was man zu vertreten und zu verfechten glaubt oder glauben machen will.

In die Gefahr einer solchen Negation der proklamierten ›Werte‹ durch die Art und Weise ihrer Begründung und Realisierung geraten jene politischen und wissenschaftlichen Diskurse, die in der oben skizzierten Weise die historische und kulturelle Spezifik Europas und seiner Werte ausfindig zu machen und in ihrer Geltung für die Gegenwart bestimmen wollen. Sie folgen der Logik dessen, was Michael Mitterauer einen »identifikatorischen Zugang« zur Geschichte Europas[28] genannt hat. Perspektive, Fragestellungen und Kategorien werden dabei auf spezifische Weise von Verhältnissen und Interessen der Gegenwart des Beobachters bzw. Interpreten her bestimmt. In diesem Fall heißt das: einerseits ist ein heute aus angebbaren Gründen existierender, als »Europa« bezeichneter soziokultureller und politischer Zusammenhang von Strukturen, Institutionen, Praxen und Formen der Anschauung, Beschreibung und Bewertung von »Selbst« und »Anderem« gleichsam erkenntniskonstitutiv. Und es ist diese spezifische Konstruktion, die andererseits als Grundlage für eine im Entstehen befindliche oder als entstehend betrachtete – sei es erhoffte oder befürchtete – politische Gemeinschaft in Anspruch genommen wird.[29] Läßt man sich direkt oder indirekt von einer solchen Perspektive leiten, so gerät man unweigerlich in die Bahnen einer retrospektiven Geschichtskonstruktion.[30] Strukturell vergleichbar mit der ›Erfindung‹ von nationalen Entitäten im Prozeß der Nationalstaatsbildung – und in der Tat funktional komplementär zu ihr, nur eben jetzt auf transnationaler, ›europäischer‹ Ebene ablaufend – wird Europa hier zu dem, was mit Benedict Anderson als ›imagined community‹ bezeichnet werden kann.[31] ›Europa‹ wird als ein ›etwas‹ identifiziert, das seit Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden existiert, diese oder jene Schicksale erlitten, Veränderungen erfahren, Leistungen vollbracht und dabei und dadurch spezifische Eigenschaften und Werte verkörpert und vertreten hat. Auf diese Weise wird Europa zu einem Bezugspunkt der je eigenen – positiven oder negativen – Identitätsbildung, der Zugehörigkeit und des Maßstabes und Leitfadens für die Bestimmung heutigen politischen und sozialen Handelns.

 19

Diese Logik historischer (Re-)Konstruktion ist wissenschaftlich unangemessen und politisch verfehlt.[32] In wissenschaftlicher Perspektive läuft diese Form der Identifikation eines historisch-kulturellen Gegenstands ›Europa‹ Gefahr, genau dadurch seinen ›Gegenstand‹ systematisch zu verfehlen. ›Europa‹ wird als historisch-kultureller Zusammenhang (re-)konstruiert – auch und gerade, wenn dies als variable, räumlich, politisch und kulturell nicht festgestellte und durch Heterogenität gekennzeichnete Einheit von Verschiedenem geschieht. Die Einheit wird bestimmt als von Vielheit, Diversität, Autonomiestreben und Konflikt geprägte, aber dies bedeutet eben: es handelt sich um Bestimmungsmomente der Einheit, des Zusammenhangs.[33] Als solcher erhält dieser dann eine kulturelle und normative Bedeutung zugeschrieben, die mit diesem in sich heterogenen Zusammenhang verbunden werden: Freiheit, Souveränität und Souveränitätsteilung, Föderalismus, Pluralismus, Anerkennung des Anderen usw.[34] Die Frage aber ist: ist das Europa? Sind diese Werte und Eigenschaften diejenigen Europas oder gar selbst europäisch? Inwiefern sind Menschenwürde und Menschenrechte ›europäisch‹, nicht aber ihre systematische Negation, angefangen von der Versklavung der kolonisierten Völker bis hin zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik? Warum ist die Anerkennung, nicht aber der Ausschluß des Anderen durch völkische, rassistische, biologistische oder andere Denk- und Handlungsformen, im 19. und 20. Jahrhundert höchst differenziert begründet und vielfach erprobt und exekutiert? Warum bildet die sogenannte posttotalitäre Ordnung der jüngsten Vergangenheit und nicht z.B. die von endemischer Negation individueller Rechte und Freiheiten, Demokratie und Pluralität in Staat und Gesellschaft geprägte Zeit ein halbes Jahrhundert zuvor den Index für die wahren Eigenschaften ›Europas‹? Muß man davon ausgehen, daß hier einfach unterstellt wird, was Michael Heffernan lakonisch in die Aussage gefaßt hat, daß »Good things are of Europe; bad things merely happen there«?[35] Eine solche politisch opportune und normativ für die meisten[36] gewiß wünschenswerte Konstruktion der imagined community ›Europa‹ jedenfalls wäre hochgradig vereinfacht und würde der real existierenden Widersprüchlichkeit des gedachten und praktizierten Europas, seiner kulturellen, politischen und normativen Besetzungen und Bezüge in keinster Weise gerecht. Diese Entität von einem imaginären Ende der Geschichte her oder von einem absoluten Standpunkt aus unter das Dach seiner ›Einheit des Vielfältigen‹ oder gar des Gegensätzlichen zusammenschließen und versöhnen zu wollen, wäre sachlich ohne Fundament und inhaltsleer, eine bloß rhetorische Geste. Zudem handelte es sich um ein ideologisches Konstrukt, das für die zahllosen Opfer darüber hinaus die zynische Konsequenz hätte, daß auch die Nachtseiten Europas dann noch als Ausdruck seiner pluralen Vielfalt und Offenheit für Anderes erscheinen und, gegebenenfalls als Lehrstück und Etappe des Fortschritts im Bewußtsein europäischer Freiheit und Vielfalt, harmonistisch eingebunden würde.

 20

Zugleich ist die Fundierung des politischen Projekts einer Union europäischer Staaten oder Gesellschaften in einer solchen Konstruktion Europas auch in politischer Perspektive geradezu kontraproduktiv. Dadurch nämlich wird eine historisch-kulturell spezifische Entität zum normativen Bezugspunkt der Selbst- und Weltwahrnehmung, des politischen Orientierens und Handelns. Wird ein so bestimmtes Europa als Träger oder als Produzent von spezifisch ›europäischen‹ Werten verstanden, so wirkt es unabhängig von der inhaltlichen Bestimmung strukturell exkludierend und damit potentiell repressiv und konfliktgenerierend. Politik und Recht werden hier als Instrumente der Umsetzung vorgegebener historisch-kultureller Werte ›guten‹ individuellen und kollektiven Denkens und Handelns verstanden und konzipiert. Paradoxerweise ebnet diese Struktur des Verhältnisses von kultureller Konstruktion und politischem Handeln alle sachlichen Unterschiede, selbst die extremsten Gegensätze der je vertretenen Werte und Wertordnungen, in funktionaler Hinsicht letztlich ein. Gleichgültig nämlich, ob es sich um die Durchsetzung religiös begründeter Werteordnungen handelt, um je besondere kulturelle Traditionen umfassender Systeme der Sittlichkeit oder um plurale, die Mannigfaltigkeit individueller und kollektiver Lebensformen und Wertsetzungen unter der Bedingung ihrer wechselseitigen Verträglichkeit zur Grundlage einer ›guten‹ Sozialordnung: Stets wirkt dieselbe Logik der Hypostasierung historisch-kultureller Werteordnungen, die als solche gegeben, d.h. vor- und aufgegeben und politisch nur mehr umzusetzen und von den ›Betroffenen‹ zu glauben und zu übernehmen bzw. an sich selbst bereits die Kriterien ihrer In- und Exklusion sind. Auf diese Weise wird dasjenige, worauf ein freiheits-, pluralitäts- und diversitätsorientiertes Europa dem proklamierten Gehalt nach abzielt, systematisch negiert: das ›Wir‹ dieser Kultur wird homogenisiert, so als ob es sich um eine widerspruchsfreie Kultur von Pluralität und wechselseitiger Anerkennung handeln würde, und schließt dadurch »das Andere« von sich aus, rubriziert es unter Kategorien wie Intoleranz, Totalitarismus, Nicht-Akzeptanz von Menschenrechten und Verschiedenheit usw. Das Resultat ist die Partikularisierung des Allgemeinen zu guten Eigenschaften der eigenen (›europäischen‹) Kultur – des ›Wir‹ –, die gegenüber den Partikularitäten der ›Anderen‹ verteidigt werden muß. Dieser ›Andere‹ – ob er nun inner- oder außerhalb der sogenannten ›europäischen Werte- und Kulturgemeinschaft‹ angesiedelt wird – ist dabei ein ebensolches Konstrukt wie das ›Wir‹.[37] Er wird im gleichen Atemzug als solcher erzeugt, in dem er zur Integration durch Assimilation an die ›europäischen‹ Werte und die Übernahme einer entsprechenden Gesinnung aufgefordert wird, wie sie dann ggf. durch Einbürgerungstests und andere Formen der Gewissens- und Loyalitätsprüfung abgefragt werden können.

 21

Politisch führt diese Logik der kulturellen Integrationsforderungen zur Stigmatisierung und Ausgrenzung. Die konsequente Reaktion, die diese negative Integration hervorruft, ist das Gefühl der Ausgegrenztheit und Feindseligkeit gegenüber dem ausgrenzend-feindselig auftretenden Integrationsgebaren. Den Wertediskursen wohnt das Element inne, daß ein Recht, wenn es zum Wert erhoben wird, zur verpflichtenden Norm erklärt und aufoktroyiert wird; in diesem Falle führt es zu dem paradoxen Resultat, daß der behauptete Wert seinen Inhalt – das vertretene Pluralitäts- und Autonomiepostulat – mittels seiner Normierung selbst negiert: es wird gleichsam im Namen des »Werts der Andersheit« das Andere, das das Anderssein in Anspruch nehmen will, ausgeschlossen. Ein Freiheit ermöglichen und garantieren sollendes Recht wird zu einem Freiheit beschränkenden Wert, aus dem mittels des Rechts(-zwangs) spezifische Lebens- und Identifikationsformen verbindlich gemacht werden sollen; (europäische) Freiheit wird somit zur Substanz einer kulturellen Lebensform erklärt und verbindlich gemacht.[38] Ein historisch-kulturelles, werthaft besetztes und das Allgemeine – Freiheit, Diversität usw. – als Partikulares auf solche Weise begründendes und durchzusetzen suchendes Europakonzept reproduziert die selbstnegatorische Struktur der wertefundierten Transformation freiheitssichernden Rechts in freiheitsnormierende Beschränkung. Eine solche Wertbegründung europäischer Integrationspolitik folgt nicht der Struktur republikanischer Staatsbürgerschaft auf der Grundlage der Garantie subjektiver Rechte und Freiheit, sondern droht die fatale Logik nationalistisch-kulturalistischer Integrationspolitiken zu wiederholen. Sie haben gegenwärtig wieder Konjunktur, exemplarisch zu beobachten an der Einführung eines Ministeriums für nationale Identität durch den neuen französischen Präsidenten, Nicolas Sarkozy, oder in Deutschland an der sog. Integrationsdebatte, bei der unter der dünnen Firnis legitimer politisch-rechtlicher Integrationszumutungen weithin die Zwangslogik kulturalistischer Identitätspolitik einschließlich der damit verbundenen gewissenspolizeilichen Maßnahmen wirksam ist. Das Ergebnis kehrt aber die Worte des Mephistopheles’ um, insofern man auf diese Weise zwar, was unterstellt sein mag, stets das Gute will, doch stets das Böse schafft.[39]

 22

4. Vom Wert des Verzichts auf europäische Werte

Die bei näherem Hinsehen deutlich werdende Problematik, Europa als Wert zu bestimmen oder spezifisch europäische Werte ausfindig machen zu wollen, könnte Anlaß sein, die Wertproblematik auf einer anderen Ebene zu reflektieren. Wenn ›Europa‹ einen Wert hat, so kann er ironischerweise vielleicht nicht zuletzt in der Erkenntnis liegen, daß die europäische Geschichte die Problematik eines solchen wert- und kulturbezogenen Politikverständnisses nachhaltig demonstriert und Anlaß geboten hat, Formen des Umgangs mit den dadurch generierten Problemen auszubilden – diese Errungenschaften aber eben auch immer wieder zu negieren und zu destruieren. Denn ›Europa‹ ist gleichsam als begrifflicher Ausdruck und historische Verlaufsform sozialer, kultureller und politischer Entwicklungen, Weltbilder und Diskurse rekonstruierbar, die die Bedingungen und Realisationsform solcher Wertbegründungen einerseits in ihren produktiven und destruktiven Potentitäten und Konsequenzen durchdekliniert und praktiziert hat, in denen andererseits aber Mittel und Wege entwickelt worden sind, sie zu unterlaufen bzw. zu transzendieren. Ein historisch-kritischer, d.h. nicht-identifikatorischer Zugang zur Geschichte von Begriff und Wirklichkeit Europas muß demnach die Grundlagen, Prozesse und Reflexionsformen des Prozesses des »Europe-building« selbst zum Gegenstand kritischer Reflexion machen. Dazu an dieser Stelle nur einige ganz vorläufige Bemerkungen.

Die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten verstärkt vorgenommenen sozial-, kultur-, ideen- und begriffsgeschichtlichen Untersuchungen zur Entstehung des Europabegriffs in der heute in Denken und Handeln selbstverständlich gewordenen Form zeigen, daß dieser Begriff selbst erst ein historisch zu lokalisierendes und zu bestimmendes Produkt ist; sinnvoll kann von ihm erst seit dem Übergang zur Neuzeit gesprochen werden.[40] Europa stellte bis dahin weitgehend eine mythologische oder geographische Kategorie dar, die mit den bis dahin dominierenden mental maps der politischen und soziokulturellen Ordnungs- und Handlungsstrukturen sowie mit den geistigen Bezugssystemen gerade nicht harmonierten – sei es im griechischen Schema von Griechen und Barbaren, sei es im mittelmeerischen, Teile aller drei damals bekannten Kontinente umfassenden Imperium romanum, sei es in der mittelalterlichen christianitas, die einen spezifischen ›Europa‹-Bezug gleich in mehrfacher Weise unterlief: prinzipiell universell ausgerichtet, war sie praktisch von unterschiedlichen Spaltungslinien durchzogen, nämlich einerseits jene zwischen weströmisch-lateinischer und oströmisch-byzantinischer Christenheit, die an sich bereits das geographische Europa zugleich spalteten wie auch transzendierten, andererseits jene zwischen dieser christlichen und der nicht-christlichen, ›orientalisch‹-islamischen Welt, die jedoch wiederum im Osten, Süden und Westen in Hoch- und Spätmittelalter und bis weit bis in die frühe Neuzeit hinein Teil des geographischen Europa war.

 23

Die Ausbildung und Ausbreitung des Europabegriffs als Kategorie der Selbstwahrnehmung und -verortung setzte demgegenüber erst vor dem Hintergrund der vielfältigen sozialen, kulturellen und politischen Pluralisierungsprozesse seit dem Übergang zur Neuzeit ein. In ihnen und durch sie veränderten sich die sozialen Strukturen, Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsweisen von Grund auf, und es bildete sich – im Zuge neuer Spaltungen und Dissoziationen, aber auch neuer Formen der Kommunikation und Kooperation sowie der politischen, sozialen und geistig-kulturellen Formen des Sich-auf-sich- und des Sich-aufeinander-Beziehens – ein nunmehr zunehmend als Europa beschriebener Zusammenhang. Die einschlägigen Stichpunkte sind hier die miteinander zusammenhängenden und sich wechselseitig verstärkenden Prozesse der Aufspaltung und Konfessionalisierung der christianitas, der Aufstieg territorialstaatlicher Organisationsformen politischer Herrschaft und die Ausbildung der kapitalistischen Produktionsweise samt der zahlreichen damit verbundenen sozialen, kulturellen und rechtlichen Transformationsprozesse, die zu neuen Spaltungen, Grenzen und Gegensätzen in den sozialen Beziehungen geführt haben, aber auch zu neuartigen Formen der Kommunikation, von Austausch- und Transferprozessen, Konstruktionen seiner selbst und der Anderen.[41] Wenn diese hier anbrechende neue Zeit – die Neuzeit – als die ›moderne Zeit‹ – die Moderne – bezeichnet wird, die durch fundamentale gesellschaftliche Prozesse der Pluralisierung und Säkularisierung gekennzeichnet ist, dann bedeutet dies nicht so sehr spezifische kulturelle Inhalte, Praktiken und Entwicklungen, die in einem eindimensional modernisierungstheoretischen oder gar geschichtsphilosophischen Sinn zu interpretieren wären – sei es als vermeintliches Ende der Religionen oder als Bildung einer säkular-pluralen Weltkultur auf allgemeinen politischen, ökonomischen und soziokulturellen Grundlagen. Es handelt sich hier vielmehr um die Herausbildung einer neuen Zeit und Welt, die von einer prinzipiellen Pluralisierung der Wertesysteme und Lebensformen durchzogen und geprägt wird, von religiösen, sozioökonomischen, politischen und kulturellen Spaltungslinien und Gegensätzen, die nicht mehr durch übergreifende religiöse, normative und politisch-soziale Ordnungen und institutionelle Vermittlungen zusammengehalten werden. Der Europabegriff wird hier als solcher erst geprägt. Gerade weil er bis dahin ein rein geographischer, nicht mit spezifischen kulturellen und normativen Bedeutungen befrachteter Begriff war, erweist er sich als besonders geeignet, als neuer ›Name‹ für diesen neuen ›Gegenstand‹ zu dienen, als Begriff, um diesen widersprüchlichen Zusammenhang zu denken und sich in ihm theoretisch und praktisch zu orientieren.

 24

Von Anfang an steht die Kategorie ›Europa‹ in der politisch-kulturellen Selbstverortung folglich in einer aufschlußreichen Spannung zu ›Werten‹: ›Europa‹ setzt sich seit der frühen Neuzeit als Konzept der Selbstbeschreibung und Orientierung heterogener politischer und sozialer Akteure durch, gerade weil dadurch politischem und sozialem Handeln keine allgemein geteilte Werteordnung vorgeben wird, die als System der Sittlichkeit politisch zu verwirklichen wäre und die Gesinnung der Individuen prägen – und entsprechend gesinnungspolitisch indoktriniert, überprüft und ggf. bei Abweichung sanktioniert werden – müßte. Der Europabegriff entsteht gleichsam aus der Erfahrung des Zusammenbruchs solcher Einheit. Er fungiert insofern als Reflexions- und Relationsbegriff, der es möglich – und notwendig – macht, solche strukturellen Heterogenitäten dergestalt zu organisieren, daß sie nicht aufgrund der Unvereinbarkeit ihrer je eigenen Wertesysteme der Logik des Konflikts und, da Wertkonflikte prinzipiell unlösbar sind, der potentiellen wechselseitigen Vernichtung unterliegen.[42] In diesem – hier nicht weiter nachzuvollziehenden – Prozeß sind in Theorie und Praxis unterschiedliche politisch-institutionelle und soziokulturelle Formen und Begründungsstrategien entwickelt worden, diese spannungsvollen Pluralitäten von Werten und Kulturen zu organisieren und zu ›bändigen‹. Es werden Prinzipien des Denkens und Handelns wie auch politische, rechtliche, diplomatische und andere Institutionen und Mechanismen entwickelt, denen solche widersprüchlichen Wert- und Handlungskonflikte untergeordnet werden.[43] Von entscheidender Bedeutung ist dabei, daß diese Vermittlungsmechanismen nur dann diese Aufgabe dauerhaft und konsequent verwirklichen können, wenn sie nicht selbst wieder auf der Verwirklichung der Hegemonie von spezifischen, mit universellem Gestaltungsanspruch auftretenden Werten und Kulturen gründen, sondern auf der prinzipiellen Freiheit, je unterschiedliche Werte und kulturelle Lebensformen zu leben und zu wählen – einschließlich jener, sich von ihnen zu distanzieren. Dabei setzt diese pluralistische, auf Anerkennung alternativer normativer und kultureller Lebens- und Handlungsformen basierende politisch-soziale Ordnung freilich selbst wieder spezifische Wertentscheidungen zweiter Ordnung voraus, eben jene nämlich, diese Ordnung selbst und ihre normativen und sozialen Voraussetzungen zu wollen und auf die Durchsetzung des je eigenen, absoluten Wertesystems zu verzichten.[44] Solange jedoch die Handlungsfreiheit der jeweils anderen Akteure wie auch die eigene Freiheit, sich ggf. anders zu entscheiden, nicht praktisch negiert wird, müssen auf der Grundlage des pluralistischen Ordnungsmodells die jeweiligen Wertentscheidungen und die Sphäre der individuellen Gesinnung respektiert werden.[45]

 25

Wenn Europa also einen ›Wert‹ hat, so kann er nicht zuletzt darin gesehen werden, real- und diskursgeschichtlich eine Vielzahl von unterschiedlichen Umgangsweisen mit solchen Differenzierungs- und Pluralisierungsphänomenen entwickelt und praktiziert zu haben; er ist geradezu als Inbegriff solcher Vermittlungsprozesse rekonstruierbar. Hierunter zählt zwar auch das heute oftmals zumindest verbal in Anspruch genommene ›Europa‹ der Freiheit, der Vielfalt oder des Respekts für Anderes, aber es finden sich hier eben, wie angedeutet, auch die radikalsten Beispiele für gegenläufige, sie negierende repressiv-exkludierende Formen und Praktiken. Daß jene liberalen und demokratischen Werte und die entsprechenden, gegenwärtig politisch und ideologisch positiv besetzten Institutionen und Verfahrensweisen ›europäisch‹ sind, kann also nur in einem kaum anders als mißzuverstehenden, dafür aber um so leichter zu mißbrauchenden Sinne behauptet werden; allein deshalb schon sollte im politisch-legitimatorischen Diskurs auf solche Argumente verzichtet werden. Gewiß gibt es plausible Gründe für die Annahme, daß in ›Europa‹ aufgrund spezifischer historischer, politischer, soziokultureller und ideengeschichtlicher Voraussetzungen und Entwicklungen erstmals, in besonders intensiver und in einer für »le reste de l’universe« (Voltaire) besonders folgenreichen Weise Modernisierungs- und Pluralisierungsprozesse stattgefunden haben und daß hier vielfältigste theoretische und praktische Formen zu beobachten sind, diese Prozesse wahrzunehmen, zu denken und zu organisieren – oder sie eben auch wieder rückgängig zu machen. Allein deshalb ist das Exempel ›Europa‹ in positiver, aber auch in negativer Hinsicht besonders aufschlußreich und im wohlverstandenen Sinne exemplarisch.[46] Dies kann aber nicht dahingehend verstanden werden, daß diese Prozesse von Moderne und Pluralisierung selbst etwas ausschließlich oder im ursprungslogischen Sinne genuin ›Europäisches‹ wären und daß nicht außerhalb Europas strukturell und funktional gleichartige Phänomene und Entwicklungen existieren würden. Die Blindheit, die einer solchen Annahme zugrunde liegt, erklärt sich wohl wesentlich aus der entsprechenden Fixierung und Zentrierung der Perspektive aufgrund der zeitlich ersten, theoretisch und praktisch zweifellos die vergangenen Jahrhunderte weltgeschichtlich dominierenden Erscheinungsformen dieser Prozesse in Europa.[47] Spätestens die vielfältigen, widersprüchlichen Formen, in denen die sozialen und politischen Modernisierungs- und Pluralisierungsprozesse im gegenwärtigen Globalisierungsschub ablaufen und in den unterschiedlichen Ländern und Kulturen verarbeitet werden, können als der vielbeschworene ›Spiegel des Anderen‹ dienen, um zumindest retrospektiv bewußtzumachen, in welchem Maße ›Europa‹ mit seinen so ambivalenten wie heterogenen sozialen, institutionellen und normativen Errungenschaften und Entwicklungen zwar vielleicht als eine erste, aber nicht dadurch schon als die einzige oder gar die einzig mögliche Antwort auf sie gelten kann; und vor allem: es gibt sie als solche eben gar nicht.

 26

Ohne diese Problematik an dieser Stelle näher diskutieren zu können, ergibt sich aus dem Gesagten für die Untersuchung und Bewertung der heute gerne von und für Europa beanspruchten, positiv besetzten, aber bekanntlich von anderen Seiten und Interessen auf durchaus kritische oder gänzlich negative Weise mit ihm verbundenen ›Werte‹, Institutionen und Prinzipien wie die von Menschenrechten und Autonomie, Demokratie und Diversität usw.: Es kann nicht darum gehen, den Nachweis zu führen, ob sie in Genesis und Geltung wesentlich ›europäisch‹ sind und die positive oder negative Haltung ihnen gegenüber eine ›europäische‹ oder ›uneuropäische‹ Einstellung zum Ausdruck bringen würde. Eine positive oder negative Stellungnahme zu diesen Prinzipien, Institutionen und Prozessen bedeutet vielmehr eine solche zum Prozeß der Moderne selbst als »Prozeß der pluralistischen Ausdifferenzierung ehedem einheitlicher und homogener kultureller Traditionen in eine Vielfalt divergenter Lebensweisen und Wertinterpretationen.«[48] Und diese unterschiedlichen Haltungen lassen sich nicht entlang der Unterscheidung ›Europa‹/›Nicht-Europa‹ festmachen, sondern durchziehen die europäische und die außereuropäische Welt in gleicher Weise. In Europa ist, wie bereits angedeutet, in den vergangenen Jahrhunderten und bis in die Gegenwart hinein das Spektrum des Umgangs mit diesen Modernisierungs- und Pluralisierungsprozessen in denkbar gegensätzlichsten Weisen gedacht und praktisch-politisch umgesetzt worden: von der grundsätzlichen Bejahung und Verteidigung von Freiheit, Vielfalt und Heterogenität[49] bis hin zu fundamentalistischen und totalitären Versuchen ihrer vollständigen Negation und Zerstörung; es käme also blankem Zynismus gleich, ›Europa‹ nur mit dem Guten, Wahren und Schönen zu identifizieren.[50] Welche normative und institutionelle Wahl getroffen wird, hängt nicht an der Frage von Europa oder Nicht-Europa, von europäischen oder nicht-europäischen Werten, sondern von der Entscheidung darüber ab, welche Konsequenzen man aus den jeweiligen historisch-gesellschaftlichen, kulturell spezifischen Verhältnissen und Erfahrungen zieht und welche Stellung man zu den Prinzipien und den Organisationsformen der politischen und soziokulturellen Beziehungen unter den Bedingungen der Moderne einnimmt. Und diese ›Wertentscheidung‹ ist aufgrund der logischen Struktur des Wertediskurses nicht selbst wieder unter Rekurs auf oberste – gar ›europäische‹ – Grundwerte begründbar.[51]

 27

Die Entscheidung für die in europäischen Diskursen heute gerne in Anspruch genommenen Werte der Moderne, die die Schaffung und Erhaltung der gesellschaftlichen, kulturellen, materiellen und geistigen Pluralität und Entfaltung des Besonderen garantieren sollen, ist gewiß stets von historischen und soziokulturellen Bedingungen und Dispositionen abhängig, und es ist zu hoffen, daß diese in Europa heute trotz der zahlreichen gegenläufigen Anzeichen und Tendenzen prinzipiell gegeben sind, – doch ist ihre Verwirklichung prinzipiell kontingent und nicht etwas, das für Europa spezifisch wäre. Dieser notwendige Verzicht darauf, Europa als Wert oder Werte als europäisch anzusehen, stellt dabei aber durchaus keinen Verlust dar, weder für Europa noch für die Werte. Gerade dann nämlich, wenn man darauf verzichtet, den Weg ›Europas‹ als den Königsweg in die Moderne anzusehen und die hier vertretenen – eben nur auch vertretenen – ›Werte‹ und Prinzipien der Organisation des gesellschaftlichen und politischen Lebens als ›europäisch‹ zu deklarieren, verlieren diese Erfahrungen und Prinzipien ihren partikularen und exklusiven – eurozentrischen – Charakter, der ihre Ausweitung über Europa hinaus notwendig als hegemoniales Projekt erscheinen lassen muß.[52] Nur scheinbar paradox ist es, daß es gerade durch diese Selbstbescheidung und Relativierung der europäischen Erfahrungen und Entwicklungen möglich wird, den allgemeinen Charakter der hier – zwar, wie gesagt, nur auch, aber immerhin auch – entfalteten und verwirklichten Errungenschaften zu demonstrieren und gegen gegenläufige Akteure, Interessen und Wertsetzungen zu verteidigen, seien diese nun europäischer oder nicht-europäischer Provenienz.[53] Der ›Wert‹ – und zwar durchaus auch in ganz konkretem Sinne: der Gebrauchswert – Europas und die historisch-kritische, nicht-identifikatorische Rekonstruktion seiner diskurs-, ideen- und realgeschichtlichen Entwicklungen kann darin gesehen werden, Anschauungs- und Lehrmaterial für die Bedingungen des Gelingens wie der katastrophalen Folgen des Scheiterns im Umgang mit den Problemen, Chancen und Potentialen gesellschaftlicher Modernisierungs- und Pluralisierungsprozesse zu liefern.[54]

 28

Literaturverzeichnis

Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Zweite um ein Nachwort von Thomas Mergel erweiterte Aufl. der Neuausgabe 1996, Frankfurt/M./New York 2005.

Asbach, Olaf: Verfassung und Demokratie in der Europäischen Union. Zur Kritik der Debatte um eine Konstitutionalisierung Europas, in: Leviathan, 30. Jg., 2 (2002), S. 267–297.

Asbach, Olaf: Geschichte oder Vorgeschichte Europas? Zur historischen Semantik »Europas« von der Antike bis ins 17. Jahrhundert, in: Friedemann Maurer u.a. (Hg.), Kulturhermeneutik und kritische Rationalität. Festschrift Hans-Otto Mühleisen, Lindenberg 2006, S. 440–453.

Asbach, Olaf: Konstruktionen einer politischen Identität Europas. Dimensionen und Fallstricke eines Diskurses zwischen Wissenschaft und Politik, in: Ingrid Baumgartner u.a. (Hg.), Nation – Europa – Welt. Identitätsentwürfe vom Mittelalter bis 1800, Frankfurt/M. 2007 (Zeitsprünge Bd. 11), S. 101–115.

Barroso, José Manuel: Speech at the Berlin Conference »A Soul for Europe«, 17.–19. November 2006
(http://www.berlinerkonferenz.net/uploads/media/Speech_Barroso _061117_04.pdf).

Beck, Ulrich / Grande, Edgar: Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne, Frankfurt/M. 2004.

Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt/M. 1991, S. 92–114.

Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt/M. 1991, S. 67–91.

Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Wie können die Religionen friedlich und frei beisammen leben? Über den säkularen Staat, seine Neutralität und die Probleme, mit denen er im 21. Jahrhundert konfrontiert ist, in: Neue Zürcher Zeitung, 23. Juni 2007.

Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen, 4., erw. Aufl., Bonn 2004.

Burke, Peter: Did Europe exist before 1700?, in: History of European Ideas, 1 (1980), S. 21–29.

Citron, Susanne: L’imaginaire et le rapport à l’histoire. Notre histoire est celle d’un longue métissage, in: Joseph Rovan, Gilbert Krebs, Identités nationales et conscience européenne, Asnières 1992, S. 59–62.

Derrida, Jacques / Habermas, Jürgen: Der 15. Februar oder: Was die Europäer verbindet, in: Jürgen Habermas, Der gespaltene Westen. Kleine politische Schriften X, Frankfurt/M. 2004, S. 43–51.

Duchhardt, Heinz: Europa am Vorabend der Moderne 1650–1800 (Handbuch der Geschichte Europas, Bd. 6), Stuttgart 2003.

Eisenstadt, Shmuel E.: Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000.

Europa-Union Deutschlands: Charta der Europäischen Identität. Beschlossen in Lübeck am 28. Oktober 1995 vom 41. Ordentlichen Kongreß der »Europa-Union Deutschland« (http://www.europa-web.de/europa/02wwswww/203chart/chartade.htm).

 29

Europäische Union: Vertrag über eine Verfassung für Europa, in: Amtsblatt der Europäischen Union, 47. Jg., C 310, 16. Dezember 2004.

Gellner, Winand / Glatzmeier, Armin: Die Suche nach der europäischen Zivilgesellschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 36 (2005), S. 8–15.

Nowak, Manfred: Menschenrechte als Grundlage der EU-Wertegemeinschaft. Artikel 6 und 7 EUV in der Fassung von Nizza, in: Union. Zeitschrift für Integrationsfragen, Heft 1 (2001): »Die Europäische Union als Wertegemeinschaft?«, S. 7–20.

Habermas, Jürgen: Staatsbürgerschaft und nationale Identität. Überlegungen zur europäischen Zukunft, in: Nicole Dewandre / Jacques Lenoble (Hg.), Projekt Europa. Postnationale Identität: Grundlage für eine europäische Demokratie?, Berlin 1994, S. 11–29.

Habermas, Jürgen: Braucht Europa eine Verfassung? Eine Bemerkung zu Dieter Grimm, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M. 1995, S. 185–191.

Havel, Vaclav: Speech at the European Parliament, Strasbourg, March 8, 1994,
http://old.hrad.cz/president/Havel/speeches/1994/0803_uk.html.

Heffernan, Michael: The Meaning of Europe. Geography and Geopolitics, London/New York/Sydney/Auckland 1998.

Heit, Helmut: Die Werte Europas, Einleitung in: ders. (Hg.), Die Werte Europas. Verfassungspatriotismus und Wertegemeinschaft in der EU?, Münster 2005, S. 7–22.

Huntington, Samuel: The Clash of Civilizations?, in: Foreign Affairs 72, 3 (1993), S. 22–49.

International Crisis Group: Islam and Identity in Germany. Report No. 181, 14. März 2007 (http://www.crisisgroup.org/library/documents/europe/181_islam_in _germany.pdf).

Joas, Hans: Die kulturellen Werte Europas. Eine Einleitung, in: ders. / Klaus Wiegandt (Hg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt/M. 2005, S. 11–39.

Joas, Hans / Wiegandt, Klaus (Hg.): Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt/M. 2005.

Judt, Tony: Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg, München/Wien 2006.

Kocka, Jürgen: Wo liegst du, Europa? Europäische Identität als Konstrukt, in: Helmut König / Manfred Sicking (Hg.), Der Irak-Krieg und die Zukunft Europas, Bielefeld 2004, S. 117–141.

Körtner, Ulrich H.J.: Integration und die Rolle der Religion (Ms.; Vortrag auf dem 31. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Köln), 7. Juni 2007 (http://www.kirchentag2007.de/presse/dokumente/dateien/EUR_2_1307.pdf).

König, Helmut / Sicking, Manfred: Statt einer Einleitung: Gehört die Türkei zu Europa? Konturen einer Diskussion, in: dies. (Hg.), Gehört die Türkei zu Europa? Wegweisungen für ein Europa am Scheideweg, Bielefeld 2005, S. 9–28.

 30

Meyer, Thomas: Die Identität Europas. Der EU eine Seele?, Frankfurt/M. 2004.

Meyer, Thomas: Identitätspolitik. Vom Mißbrauch kultureller Unterschiede, Frankfurt/M. 2002.

Michalski, Krzysztof: Politik und Werte, in: Union. Zeitschrift für Integrationsfragen, Heft 1 (2000), »Die Europäische Union als Wertegemeinschaft?«, S. 49–58.

Mitterauer, Michael: Die Entwicklung Europas – ein Sonderweg? Legitimationsideologien und die Diskussion der Wissenschaft, Wien 1999.

Morin, Edgar: Europa denken, Frankfurt/M. 1985.

Pelinka, Anton: Antifaschistisches Grundbekenntnis und Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der Europäischen Union, in: Union. Zeitschrift für Integrationsfragen, Heft 1 (2000), »Die Europäische Union als Wertegemeinschaft?«, S. 83–96.

Pfetsch, Frank R.: La problématique de l’identité européenne, in: La Revue Tocqueville XIX, 1 (1998), S. 1–23.

Pollock, Graham: Civil Society Theory and Euro-Nationalism, in: Studies in Social and Political Thought, Issue 4, 2001, S. 36. (http://www.sussex.ac.uk/Units/SPT/journal/archive/pdf/issue4-3.pdf).

Prange, Peter: Werte. Von Plato bis Pop – Alle, was uns verbindet, München 2006.

Riedel, Manfred: Einheit in der Vielfalt. Vom geistigen Weg Europas, in: Hilmar Kopper u.a. (Hg.), Europa wohin?, Frankfurt/M./Stuttgart 1996, S. 15–49.

Rifkin, Jeremy: Der Europäische Traum. Die Vision einer leisen Supermacht, Frankfurt/M./New York 2004.

Roy, Olivier: Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung, München 2006.

Schmale, Wolfgang: Geschichte Europas, Wien/Köln/Weimar 2000.

Schmitt, Carl: Tyrannei der Werte, in: Carl Schmitt, Eberhard Jüngel, Sepp Schelz, Die Tyrannei der Werte, Hamburg 1979, S. 9–43.

Schneider, Heinrich: Die Europäische Union als Wertegemeinschaft auf der Suche nach sich selbst, in: Union. Zeitschrift für Integrationsfragen, Heft 1 (2000): »Die Europäische Union als Wertegemeinschaft?«, S. 11–47.

Sen, Amartya: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, München 2007.

Spaemann, Robert: Europa – Rechtsordnung oder Wertegemeinschaft?, in: Neue Züricher Zeitung, 20. Januar 2001.

Speth, Rudolf / Klein, Ansgar: Demokratische Grundwerte in der pluralisierten Gesellschaft. Zum Zusammenspiel von politischen Verfahren und bürgerschaftlichem Engagement, in: Gotthart Breit / Siegfried Schiele (Hg.), Werte in der politischen Bildung, Bonn 2000, S. 30–55

Steinbrück, Peer: Europa gelingt gemeinsam, Rede am 7. Februar 2007 in Berlin (http://www.eu2007.de/de/News/Speeches_Interviews/February/0208BMFEuroparede.html).

StrÅth, Bo: Europe as a Discourse, in: ders. (Hg.), Europe and the other and Europe as the other, Brüssel 2001, S. 13–44.

Todorov, Tzvetan: Die verhinderte Weltmacht. Reflexionen eines Europäers, München 2003.

Voglrieder, Sabine: Europäische Identität und Europäische Union: Das Selbst- und Europaverständnis der EU im Kontext der Vertiefungs-/Erweiterungsdebatte, in: Wilfried Loth (Hg.), Das europäische Projekt zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Opladen 2001 (Grundlagen für Europa, Bd. 8), S. 175–202.

Wagner, Gerhard: Projekt Europa. Die Konstruktion europäischer Identität zwischen Nationalismus und Weltgesellschaft, Berlin 2005.

 31

[*] Olaf Asbach, Prof. Dr., Hamburg, Institut für Politische Wissenschaft.

[1] Vgl. Schneider, Europäische Union 2000, S. 27 ff.

[2] König / Sicking (Statt einer Einleitung 2005, S. 19 ff.) weisen deshalb ganz mit Recht darauf hin, daß sich die Legitimationsproblematik auch im ›postnationalen‹ Gebilde EU unvermeidlich in funktional äquivalenter Weise zu den Integrations- und Legitimationsstrukturen auf nationaler Ebene einstellt und gelöst werden muß. Daß die jüngeren Debatten um eine europäische ›Verfassung‹ selbst Element und Einsatz in diesem seit einigen Jahren virulent gewordenen Legitimationsdiskurs geworden ist, wurde bereits an anderer Stelle diskutiert; vgl. Asbach, Verfassung 2002.

[3] Europäische Union, Vertrag 2004, Art. I-2. Vgl. auch Art. 6 des geltenden EU-Vertrags, der einigen Interpreten zufolge die EU bereits als »Wertegemeinschaft« auszeichne und entsprechend handeln lasse; dazu aus Anlaß der darauf gestützten Maßnahmen der EU anläßlich der Aufnahme der rechten FPÖ unter Haider in die Regierung Österreichs im Februar 2000 vgl. etwa Nowak, Menschenrechte 2001.

[4] Mit einer fast schon religiösen Inbrunst, aber gerade deshalb für die Ambivalenzen dieser Diskurse besonders aufschlußreich, erklärt z.B. Rifkin (Der Europäische Traum 2004, S. 409 f.) den ›europäischen Traum‹ zum »Silberstreifen am Horizont einer geplagten Welt. Er lockt uns in eine neue Zeit der Inklusivität, Diversität, Lebensqualität, spielerischen Entfaltung, Nachhaltigkeit, der universellen Menschenrechte und der Rechte der Natur und des Friedens auf Erden.« – Im folgenden soll es ausschließlich um diese spezifische, in den aktuellen politischen und wissenschaftlichen, in den offiziellen wie in kritischen Diskursen dominierende Form gehen, Europas Einheit als eine der Vielfalt, Pluralität usw. zu denken. Daß weiterhin daneben und – wie sich zeigen wird – auch in dieser Form selbst noch starke einheitsorientierte Strömungen wirksam sind, wird damit durchaus nicht geleugnet. Im Gegenteil: Gerade an der scheinbar nicht-unitarischen, nicht-exklusiven Konzeption läßt sich deutlicher noch zeigen, wie wirkmächtig jene Denk- und Handlungsformen sind, gegen die man sich doch zu wenden glaubt. Zu diesen beiden Ausprägungen, die, sofern sie als kulturalistisch Politik determinierend verstanden werden, gleichermaßen ›unitarisch-exklusiv‹ sind, vgl. Asbach, Konstruktionen 2007.

[5] Einer der entschiedensten und profiliertesten Vertreter einer solchen Position ist Thomas Meyer; vgl. Meyer, Die Identität Europas 2004.

[6] Vgl. z.B. Pelinka, Antifaschistisches Grundbekenntnis 2000. – Es soll wohlgemerkt an dieser Stelle nur um die Rekonstruktion der Struktur der Begründung von Werten und ihrer Beziehung zur Politik gehen, nicht um die Diskussion der Frage, ob solche Konstruktionen und idealisierenden (Selbst-)Beschreibungen sachlich angemessen sind.

[7] Morin, Europa denken 1985, S. 169 ff.

[8] Vgl. Heit, Werte Europas 2005, S. 9 f.

[9] Vgl. Speth / Klein, Demokratische Grundwerte 2000, S. 31 f. u. 32 f.; Habermas, Staatsbürgerschaft, 1994, S. 27; Ders., Braucht Europa 1995, S. 189 ff.

[10] Zurecht also merkt Kocka (Wo liegst du, Europa? 2004, S. 135 f.) an, daß auf der Basis der genannten universalistischen Werte wie Menschenwürde, Freiheit oder Demokratie »Abgrenzungen nur hic et nunc, nicht aber auf Dauer und prinzipiell« möglich sind, so daß »Europa ständig wachsen und immer größere Teile der Welt umfassen [könnte], sofern sie nur ihre Verhältnisse und Verhaltensweisen an jenen Werten ausrichten.«

[11] Und selbst wenn die EU kulturelle Werte zur Bedingung machen würde, wäre das Urteil darüber, welche dies sind und ob sie im gegebenen Fall für oder gegen den Einschluß sprechen, doch immer selbst wieder eine politisch getroffene Entscheidung. Entsprechende Legitimationsstrategien sind also politische Urteile, die sich als kulturelle ausgeben. – Voglrieder, Europäische Identität 2001, S. 183, hat die Differenz der Zugehörigkeit zur politischen Union Europas im Unterschied zu jener zu einem wie auch immer bestimmten vor- oder nicht-politischen Europa prägnant bezeichnet: »Wie weit Europa reicht und wer zu Europa gehört, bleibt […] gleichermaßen eine Frage des subjektiven Empfindens wie der politischen Festlegung. Während das Gefühl der Zugehörigkeit zu Europa niemandem verwehrt werden kann, liegt die Entscheidungsmacht bei konkreten Fragen […] in der Hand der Union«.

[12] Vgl. Joas / Wiegandt, Die kulturellen Werte Europas 2005. In seiner die Einzelbeiträge dieses Sammelbandes begründenden und zusammenbindenden Einleitung vollzieht Joas in diesem Sinne einen fließenden Übergang von der Bestimmung, daß Werte als Vorstellungen des Guten nicht voluntaristisch entstanden und beliebig verfügbar sind (Einleitung 2005, S. 14), zur Anamnese der »Spezifika des kulturellen ›Wertesystems‹ Europas« (S. 17) mittels der Rekonstruktion vermeintlich »charakteristische[r] Wertvorstellungen«, »lebendige[r] kulturelle[r] Traditionen« oder bestehender »Vorstellungen über das Wünschenswerte« (S. 16).

[13] Nach Vaclav Havel hat etwa das »set of values« Europas »its own clear moral foundation and its obvious metaphysical roots, whether modern man admits it or not« (Havel, Speech 1994).

[14] Die Präambel der Charta der Grundrechte, wie sie von der EU am 18. Dezember 2000 verabschiedet wurde, erklärt die »Grundlage gemeinsamer Werte« der »Völker Europas« etwa durch den Rückgriff auf das »Bewußtsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes« (Bundeszentrale, Menschenrechte 2004, S. 413).

[15] Europa-Union Deutschlands, Charta 1995, Abschn. I (»Europa als Schicksalsgemeinschaft«).

[16] Barroso, Speech 2006, S. 2 (Hervorh. O.A.).

[17] Barroso, Speech 2006, S. 1. Der Bundesfinanzminister Peer Steinbrück beendete seine im Rahmen der bundesdeutschen EU-Ratspräsidentschaft gehaltene »Europarede« im Februar 2007 mit der oben (Anm. 4) zitierten Aussage Jeremy Rifkins und macht die identitätsstiftende Bedeutung der Berufung auf europäische Werte als Merkmal und Movens der EU-Politik im internationalen Wettbewerb deutlich.

[18] Havel, Speech 1994.

[19] Für den schmalen Grat, auf dem eine solche wertebasierte Politik wandelt, lassen sich in den tagespolitischen Diskussionen zahlreiche Beispiele finden, beginnend bei den laufenden Debatten über das Tragen des Kopftuchs bei muslimischen Frauen in öffentlichen Einrichtungen, über Zwangsehen oder die Existenz von ›Parallelgesellschaften‹ bis hin zur Interpretation der FDGO als Werteordnung, insofern durch diese eine »Errungenschaft des liberalen Rechtsstaats […] wieder preisgegeben« zu werden droht, »wenn der Staat sich als Wertegemeinschaft versteht, auch wenn es eine ›liberale‹ Wertegemeinschaft ist, die Liberalismus als Weltanschauung statt als Rechtsordnung versteht« (Spaemann, Europa 2001), die nicht auf Rechten basiert und diese durchsetzt, sondern auf Werten, die es – ggf. auch auf Kosten von Rechten – durchzusetzen gilt. Zu dieser Problematik vgl. Textabschnitt 15.

[20] Vgl. Gellner / Glatzmeier, Suche 2005, S. 11 f.

[21] Konsequent argumentiert so Manfred Riedel, für den die Bestimmung des kulturell-geistigen Erbes Europas der Politik als Leitlinie zu gelten hat, um zu bestimmen, »wer dazugehört und Anteil hat am einheitlichen Wesen Europas und seinem Weg in der Zeit«, um dann in aller Deutlichkeit den politischen Zweck dieser kulturgeschichtlichen Klärung anzugeben. Demnach gelte mit Blick auf die östlichen Grenzen: Nur »[s]oweit der Osten von Christen bewohnt wird, gehört er zum europäischen Vaterland« (Riedel, Einheit 1996, S. 21 u. 33).

[22] Hierbei werden traditionelle Stereotype wie jene des Gegensatzes von ›europäischer Freiheit‹ und dem ›Despotismus des Orients‹ oder der zivilisierten europäischen gegen die unzivilisierte östliche Welt weiter transportiert. Es wäre eigens zu untersuchen, wie in solchen Diskursen ein kulturalistischer und identifikatorischer Schematismus wirksam ist, der gleichermaßen mit christlichen und konservativen wie mit liberalen und aufklärerisch inspirierten oder feministischen und anderen Gehalten besetzt, bei unterschiedlichsten Gelegenheiten aktiviert und aktualisiert werden und zu den erstaunlichsten politischen Allianzen führen kann; die jüngsten Beispiele sind etwa die Debatten um die »Ehrenmorde« oder die Inhaftierung eines 17jährigen Deutschen in der Türkei wegen Verdachts sexuellen Mißbrauchs an einer 13jährigen Britin im Juni 2007.

[23] Man denke an die große Resonanz, auf die die kulturelle Fundierung von Politik etwa durch Schriften wie Samuel Huntingtons »Clash of Civilizations« (als Aufsatz zuerst 1993) gestoßen ist und die im Zusammenhang mit den Veränderungen, die seit dem Ende der bipolaren Weltordnung und dem Durchbruch der vielfältigen Globalisierungsprozesse seit den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu analysieren wären.

[24] Barroso, Speech 2006, S. 1.

[25] Todorov, Verhinderte Weltmacht 2003, S. 95.

[26] Ebd., S. 113. – Die hier erkennbare Tendenz, wonach es so scheinen könnte, als sei nicht die »europäische Streitmacht« gegebenenfalls das Mittel zum Zweck der Sicherung ›europäischer Werte‹, sondern die ›europäischen Werte‹ das Mittel zum Zweck der Legitimation der Streitmacht und zur Förderung der Bereitschaft, sich zu opfern, ist so irritierend wie unmißverständlich.

[27] Pollock, Civil Society 2001, S. 36.

[28] Vgl. Mitterauer, Entwicklung Europas 1999.

[29] Dies findet sich z.B. auch in der konstruktivistischen Lesart Wagners (Projekt Europa 2005), wenn er die ›politische Projektidentität‹ der Europäischen Union nach dem II. Weltkrieg als neue Etappe einer seit drei Jahrtausenden währenden Tradition der Erfindung(en) Europas als soziokultureller Projektidentität(en) sieht.

[30] Nach Heffernan, Meaning of Europe 1998, S. 3, wird hier die »history of the European idea […] read ›backwards‹ from the present into the past so that recent moves towards European unification appear as an inevitable historical evolution.«

[31] Vgl. Anderson, Erfindung 2005, S. 207. Die verbreiteten Erklärungen, die Parteinahme für Europa und europäische Pluralität sei bereits als grundsätzliche Abwendung vom ›homogenisierenden‹ Prinzip der Nationalstaaten zu verstehen, transportieren deshalb unreflektiert oftmals eben jenen Virus identitärer Inklusions- und Exklusionsmechanismen, den sie doch zu bekämpfen vorgeben; dies macht ihn politisch um so heimtückischer und gefährlicher.

[32] Ausführlicher zu der hier nur anzudeutenden Problematik vgl. Asbach, Konstruktionen 2007, S. 289 ff.

[33] Vgl. etwa Prange, Werte 2006. Diese populär gehaltene, für einen breiten Leserkreis verfaßte und gerade deshalb besondere Aufmerksamkeit verdienende Darstellung sieht in der »Ubi Europa, ibi patria« überschriebenen Einleitung das Verbindende der europäischen Kultur gerade in »unserer inneren Widersprüchlichkeit, dem ewigen Zwiespalt in uns selbst, dem ständigen Hin und Her von Meinung und Gegenmeinung, von Idee und Gegenidee, von These und Antithese«. Das Resultat habe denn auch keinen Grund, sich »vor anderen Kulturen zu verstecken«, denn: »Immerhin haben wir Himmel und Erde entdeckt, das Universum und die Kontinente der Welt. Wir haben die Demokratie und den Rechtsstaat erfunden, den Humanismus und die Menschenrechte, die Gleichheit von Mann und Frau, die Evolution und die Entropie, den Leistungssport und die soziale Marktwirtschaft, die perspektivische Malerei und den Goldenen Schnitt, die Polyphonie und die Popmusik, das Absolute und die Relativitätstheorie.« Eine getragenere und im akademischen Duktus gehaltene, gleichsam von den und für die gehobenen Stände hergestellte Fassung eines solchen materialen europäischen Wertefundus sucht der erwähnte Sammelband von Joas / Wiegandt über »Die kulturellen Werte Europas« (2005) zu liefern.

[34] Beck / Grande (Kosmopolitisches Europa 2004, S. 163) sehen hier denn auch Grund und Notwendigkeit eines »minimalen Wertestolzes« Europas: »Einem Aristokratismus nämlich möge das neue Europa huldigen – seinem eigenen: dem Europa der Freiheit, der Freiheit des Individuums«, und sie begründen dies mit einem Argument, das Widerspruch in der Tat schwierig macht: »Die bunte, individualistische, laizistische Kultur, in der nicht Religion die Politik bestimmt, ist höherwertig als eine Kultur, in der man Frauen steinigt.«

[35] Heffernan, Meaning of Europa 1998, S. 3. – Vgl. exemplarisch Abschn. II in Europa-Union Deutschlands, Charta 1995, wo unter dem Titel »Europa als Wertegemeinschaft« zunächst die »europäischen Grundwerte« als jene von »Toleranz, Humanität und Brüderlichkeit« ausgemacht werden, so daß alles andere nur als Abweichung und Verstoß gegen das »eigentliche Wesen« erscheinen muß: »Europa hat seine eigenen Werte immer wieder in Frage gestellt und gegen sie verstoßen«.

[36] Dies gilt zumindest, sofern es sich nämlich nicht um ›europäische‹ Fundamentalisten, Rassisten, Sexisten oder ähnliches handelt. – Diese Einschränkung macht deutlich, daß die beliebte Rede von der Einheit der Vielfalt immer mit der historisch-empirisch hinreichend widerlegten Annahme arbeiten muß, die diversitätsfeindlichen Elemente seien als europäische intrinsisch doch diversitätsfreundlich und ihr ›Anderes‹ affirmierend.

[37] Vgl. Roy, Der islamische Weg 2006, S. 130 f., der am Beispiel neo-ethnischer Konstruktionen von »Muslimen« nach spezifischen, von den westlichen Aufnahmeländern definierten Kategorien bemerkt, daß diese konstruierte muslimische Identität dadurch abgegrenzt wird von einer pseudo-ethnischen Gruppe – ›Weiße‹, ›Europäer‹ –, die als solche erst durch diesen Bestimmungs- und Abgrenzungsakt konstituiert wird.

[38] Vgl. zu dieser Problematik der Fundierung von Rechten in Werten Böckenförde, Zur Kritik 1991, S. 82 f. Mit Blick auf die Diskussion des Verhältnisses von säkularem Staat und – im aktuellen Diskurs besonders islamischer, aber prinzipiell jeder – Religion hat Böckenförde (Religionen 2007)daran erinnert, daß der moderne Staat seine Freiheitlichkeit gerade dadurch bestätigt, daß er sie nicht an ein Wertordnungsbekenntnis bindet.

[39] Vgl. International Crisis Group, Islam and Identity 2007, deren Analyse auf die Widersprüchlichkeit einer Integration verweist, die auf politische Integration zielt, aber von einer »ethno-cultural vision of Germany« affiziert bleibt, auf kulturelle Assimilation setzt und entsprechende Prüfmechanismen »from ideologically driven civic loyalty tests to intensified surveillance of Muslim associations« institutionalisiert (S. 2). Eine kulturalistisch gerichtete Integrationspolitik stellt dabei nicht nur Anforderungen an die ›zu Integrierenden‹, sondern impliziert auch im Hinblick auf die ›Aufnehmenden‹ eine mehr als problematische, teilweise geradezu kontrafaktische kulturelle Konstruktion, die der Widersprüchlichkeit der hier existierenden Interessen, Traditionen und ›Werte‹ in keinster Weise gerecht wird. Auch dadurch werden mittels solcher Identitätskonstruktionen diejenigen, die man integrieren zu wollen vorgibt, erst recht zum ›Anderen‹ stilisiert. Hier produziert Integrationspolitik nicht grundlos das Gefühl der Ausgrenzung.

[40] Diese voraussetzungsvolle These kann an dieser Stelle über die im folgenden gegebenen Stichworte hinaus nicht weiter begründet werden. Vgl. hierzu und zum folgenden die Bemerkungen in Asbach, Geschichte 2006, sowie exemplarisch Burke (Did Europe 1980) sowie Schmale (Geschichte Europas 2000), die knapp (Burke) oder ausführlicher (Schmale) die Frage nach der »Existenz Europas vor 1700« (Burke) oder »vor 1453« (Schmale) stellen; unabhängig von der Beantwortung und Begründung der Frage weist dies auf die frühe Neuzeit als den hierfür relevanten Zeitraum.

[41] Zu den verschiedenen Elementen und Faktoren des hier entstehenden Europa als Erfahrungs- und Kommunikationsraum vgl. neben der in der vorhergehenden Anmerkung genannten Literatur Duchhardt, Europa 2003; Kocka, Wo liegst Du, Europa? 2004; StrÅth, Europe 2001, S. 28 f.

[42] »Interessenunterschiede lassen sich aufklären und lösen; einen Zusammenprall von Werten kann man nur konstatieren, aber (ohne Eliminierung des Gegners) nicht lösen« (Michalski, Politik 2000, S. 52). In den Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts wurden diese fundamentalen, die Moderne prägenden und durchziehenden Spaltungen und Konfliktlinien bekanntlich erstmals und folgenreich in ihrer ganzen Konsequenz sichtbar und sozusagen exemplarisch ausgefochten (vgl. folgende Anm.).

[43] Historisch erfolgte dies vor allem in der Reaktion auf die in der vorstehenden Anmerkung genannten frühneuzeitlichen Religionskonflikte durch den langwierigen Prozeß der Ausdifferenzierung von Staat und Gesellschaft als Sphäre der Öffentlichkeit und des Allgemeinen gegenüber der Sphäre des Privaten mitsamt der hier existierenden Vielzahl individueller und kollektiver Zweck- und Wertsetzungen; zur Logik dieser Entwicklung vgl. Böckenförde, Vorgang 1991, v.a. S. 100 ff.

[44] Die Prinzipien und institutionellen Bedingungen und Mechanismen einer solchen pluralen, Freiheit und Rechte der Akteure nicht dem Primat einer vorgegebenen und aufgegebenen Werteordnung unterwerfenden Ordnung sind wissenschaftlich diskutier- und begründbar, ebenso die soziokulturellen Bedingungen, die Akteure dazu befähigen und motivieren, sie zu erkennen und, vor allem, zu wollen. Keine Letztbegründung hingegen kann es für die grundsätzliche Wertentscheidung geben, eine solche Ordnung überhaupt wollen zu wollen und sich nicht doch verpflichtet zu sehen, andere, als höherwertiger erachtete Werte und Normen zu verwirklichen, wie man sie etwa durch Geschichte, Natur oder die eine oder andere Religion erkannt zu haben glaubt. Hier genau zeigt sich die Crux eines jeden Wertediskurses: er birgt intrinsisch die Gefahr des Konflikts und das Paradox der »wertzerstörenden Wertverwirklichung« in sich (Schmitt, Tyrannei 1979, S. 37).

[45] Vgl. generell zur Frage nach den grundlegenden Prinzipien und Institutionen pluraler Ordnungen und zur Diskussion einschlägiger Positionen Speth / Klein, Demokratische Grundwerte 2000, v.a. S. 38 ff.

[46] Judt sieht gerade die Existenz von »rivalisierende[n] Vergangenheiten Europas« und deren »strenge Untersuchung und Befragung« als Chance, hieraus zu lernen, wie man »die Wiederholung ihrer eigenen Fehler vermeiden könne« (Judt, Geschichte 2006, S. 966 u. 930). Derrida und Habermas sprechen in diesem Sinne von einer »Hermeneutik von Selbstverständigungsprozessen«, mittels derer der »politisch-ethische Wille« die »Unterscheidung zwischen dem Erbe, das wir antreten, und dem, welches wir zurückweisen wollen«, treffen muß: »Historische Erfahrungen kandidieren nur für eine bewußte Aneignung, ohne die sie eine identitätsbildende Kraft nicht erlangen« (Derrida / Habermas, Der 15. Februar 2004, S. 49).

[47] Ob dies der Fall ist und was dies für die Frage nach Einheit oder Vielfalt der Moderne im Sinne von Eisenstadts multiple modernities bedeutet, ist hier nicht weiter zu diskutieren, wäre aber natürlich essentiell für den Versuch einer Klärung dieser ganzen Problematik. Zu den Bedingungen der Moderne und den Besonderheiten Europas hierbei vgl. Eisenstadt, Vielfalt 2000, S. 9-45.

[48] Meyer, Identitätspolitik 2002, S. 169.

[49] Freilich muß sich selbst diese Verteidigung nicht als harmonisch-friedlich und freiheitlich erweisen, sofern es etwa als Argument für nationalstaatliche Souveränität im internationalen System oder für ethnisch begründete Anerkennungspolitiken verfochten wird in Gestalt der Rechtfertigung eines »pluralen Monokulturalismus« (Sen, Identitätsfalle 2007, S. 165 ff.).

[50] Zurecht also erinnert Citron, L’imaginaire 1992, S. 62, an die Janusköpfigkeit Europas: »L’Europe des Lumières est aussi celle de la traite des noirs. L’Europe a produit l’Inquisition, le nazisme, le stalinisme. S’il doit y avoir une conscience historique européenne elle ne peut être que critique.« Dabei ist zudem meist nicht das Fehlen, sondern umgekehrt gerade das Aufeinanderprallen von Werten das Problem: »Die Geschichte Europas belehrt uns, daß gemeinsame Werte oder Grundüberzeugungen noch keine hinreichende Gewähr für Frieden und Gerechtigkeit sind«, sondern immer auch »Quelle für politische und kriegerische Konflikte« (Körtner, Integration 2007, S. 7).

[51] Denn der Wertediskurs kann den supponierten absoluten Standpunkt, den eine Wertehierarchie erfordert, nicht begründen und impliziert so notwendig die Hypostasierung spezifischer Werte, ihrer Gehalte und Auslegungen. Es ist auf dieser Grundlage prinzipiell nicht möglich, etwa religiösen Fundamentalisten – seien sie katholisch, protestantisch bzw. evangelikal oder islamistisch – darzulegen, warum sie ihre absoluten Werte den absoluten Werten von Toleranz unterordnen müssen; zur Aporie einander widerstreitender letzter Werte vgl. z.B. Schmitt, Tyrannei 1991, S. 36.

[52] Dies ist ungeachtet ihres universalistischen und emanzipatorischen Selbstverständnisses notwendig der Fall und provoziert konsequenterweise Abwehrreaktionen gegen die so empfundene Fremdbestimmung. Dies führt zu der paradoxen Situation, daß heute gern als anti-modern, traditional oder fundamentalistisch charakterisierte Gegenbewegungen gegen »europäische« oder »westliche Werte« selbst Modernisierungsphänomene und -effekte darstellen; hierzu etwa Roy, Der islamische Weg 2006.

[53] Böckenförde (Religionen 2007) erinnert mit Recht daran, daß die heute so gern als vermeintlich ›anti-europäisch‹ und ›anti-modern‹ gebrandmarkte Beziehung zwischen Politik und Religion im Islam strukturell jener entspricht, die bis vor kurzer Zeit die katholische Kirche vertreten hat. »Bis vor vier Jahrzehnten noch, bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil, war auch ›Rom‹ nach heutigen Maßstäben so etwas wie eine fundamentalistische Organisation, die zur Trennung von Staat und Religion nur per Lippenbekenntnis Ja sagte.« Es zeugt auch hier von einem erstaunlichen, aber angesichts der zuvor begangenen Taten durchaus verständlichen Verdrängungsprozeß, wenn diese nach den heute vertretenen Kriterien radikal ›anti-europäische‹ und ›anti-moderne‹ Kirche das von ihr derart in Wort und Tat ausgelegte und zur Geltung gebrachte Christentum als Inbegriff und Grundlage des ›modernen Europa‹ zur Geltung gebracht haben will – möglichst in der Präambel einer künftigen Verfassung.

[54] Hier steht ›Europas‹ eigentliche Bewährungsprobe – entgegen der eigenen, recht selbstherrlichen Proklamationen – wohl noch weitgehend aus. Bisher konnte es so scheinen, da man verdrängte, daß die homogene liberale Wertegemeinschaft Europas nicht zuletzt auf der gewaltsamen Ausgrenzung von ›Anderem‹ beruht. Tony Judt (Geschichte Europas 2006, S. 24 f.) hat auf die bittere Ironie hingewiesen, daß der weitgehend spannungsfreie Aufbau der europäischen Einheit nicht zuletzt auf den ethnischen Säuberungen und Vertreibungspolitiken der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufbauen und deshalb – und weniger wegen der vermeintlichen zivilisatorischen Lernprozesse – lange Zeit so reibungslos verlaufen konnte. Der Beleg, daß man in ›Europa‹ gelernt hat, solche Prozesse auch anders zu gestalten, wäre erst heute zu führen, wo diese Probleme auch wieder in Europa auftauchen, aber zunehmend auch wieder auf globaler Ebene bearbeitet werden müssen. Die Erfahrungen der letzten beiden Jahrzehnte sprechen nicht dafür, daß diese Lernprozesse geglückt sind, fällt man doch schnell wieder in alte kulturalistisch-ethnische Denk- und Handlungsmuster zurück; man denke an die restriktiven Integrationspolitiken in der Bundesrepublik, den Niederlanden oder Dänemark, an die Entwicklungen in Bosnien, im Kosovo oder in Spanien, an die EU-Festungspolitik oder die ›westlichen‹ Politikstrategien in Irak oder Afghanistan.

ZITIEREMPFEHLUNG

Olaf Asbach, Der Wert »Europa« – seine Bestandteile, Definitionen und Funktionen (aus politikwissenschaftlicher Sicht), in: Kerstin Armborst / Wolf-Friedrich Schäufele (Hg.), Der Wert »Europa« und die Geschichte. Auf dem Weg zu einem europäischen Geschichtsbewusstsein, Mainz 2007-11-21 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft online 2), Abschnitt 7–31.
URL: <http://www.ieg-mainz.de/vieg-online-beihefte/02-2007.html>.
URN: <urn:nbn:de:0159-2008031319>.

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieses Aufsatzes hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein.
Beim Zitieren einer bestimmten Passage aus dem Aufsatz bitte zusätzlich die Nummer des Textabschnitts angeben, z.B. 8 oder 7–10.

Peter Krüger *

Der Wert »Europa« – seine Bestandteile, Definitionen und Funktionen (aus geschichtswissenschaftlicher Sicht)

Gliederung: Literaturverzeichnis

Anmerkungen
Zitierempfehlung

Text:

»Der Wert ›Europa‹ – seine Bestandteile, Definitionen und Funktionen aus geschichtswissenschaftlicher Sicht« – das ist ein gewaltiges, fast abschreckendes Thema. Vielleicht deswegen kamen mir als erstes durchaus unpassende Assoziationen in den Sinn, als ich Europa in Anführungszeichen las, nämlich an einen Börsenwert, an den Handel mit diesem Wert, an das Auf und Ab seines Kurswertes, an eine hin und wieder nötige Kapitalerhöhung, an die Möglichkeit oder Gefahr von Übernahmen der Firma »Europa« (vor allem feindliche), an das Abstoßen unrentabler Sparten und den Verschleiß eines klangvollen Namens, an einen größeren Börsenkrach und seine Konsequenzen, aber auch an die Zugkraft des Erfolgs und seiner Dokumentierung in Hochglanzbroschüren. – Das Gleichnishafte mag ja einiges an Abläufen anschaulich machen, doch bei den bewegenden Kräften Europas, den Denk- und Verhaltensweisen, den wechselnden Konstellationen, Einflüssen und Stimmungen ist das sehr viel schwieriger.

 32

I.

Allerdings möchte ich nicht gleich mit den schwersten Brocken, einer Erörterung des Wertbegriffs einerseits und des Begriffs Europa andererseits beginnen, sondern mit einem Ereignis, das weit vom gestellten Thema wegzuführen scheint, auf den ersten Blick nichts zu tun hat mit europäischen Werten oder Europa als Wert, und das doch einige Hinweise liefert auf Entwicklungen, die für die Erfassung von Wert, Nutzen und Nutznießern Europas aufschlußreich werden könnten: nämlich mit dem Friedensschluß zwischen Frankreich und Spanien am 2. Mai 1598 zu Vervins.[1] Er war ein europäisches Ereignis, ein Wendepunkt in der Geschichte der internationalen Beziehungen Europas, obwohl er bloß einen begrenzten Ausgleich, einen Kompromiß, ein fragiles Nichtkriegführen ermöglichte zwischen einer immer noch maßgebenden europäischen Großmacht – Spanien – und einer anderen, wieder den Weg zu maßgebender Stärke und führender Position findenden europäischen Großmacht – Frankreich. Daß Spanien sich auf Vervins, auf diesen, wenn auch eingeschränkten, Dialog einließ und auf weitere direkte Eingriffe in Frankreich verzichtete, bezeugte und förderte den Wiederaufstieg einer über Jahrzehnte durch Religionskriege, innere Parteiungen und damit verbunden als Schauplatz großer internationaler Auseinandersetzungen zerrütteten Großmacht, die unter Heinrich IV. auf den Weg zum modernen Staatswesen gebracht wurde.[2] Das begann mit der Wiederherstellung der inneren Einheit, dem Übertritt Heinrichs, des Hugenotten, zum katholischen Glauben als Voraussetzung der Thronbesteigung. Darauf folgte am 13. April 1598, während der Verhandlungen mit Spanien, das Edikt von Nantes, ein Ausgleich oder wenigstens ein akzeptiertes Nebeneinander von Katholiken und Hugenotten. Das Edikt als politischer Akt bekräftigte das für Europa grundlegende Ineinander von Innen- und Außenpolitik und wurde gestützt von der nachdrücklichen Betonung des Gallikanismus, der Unabhängigkeit der französischen Kirche vom Papst, und der allem übergeordneten Einheit des Vaterlandes. An einem wichtigen Punkt der Verhandlungen mit Spanien verkündete Heinrich IV. am 16. Februar 1598, daß die Unterscheidung von Katholiken und Hugenotten verschwinden müsse, alle müßten gute Franzosen sein.[3] Darin zeigten sich frühe nationale Keime; und es waren letzten Endes Nationalstaaten – wenn auch gründlich modernisierte – , die seit 1950 die europäische Einigung in Gang setzten und sie bis heute prägen.

Vervins bot ein europäisches Ereignis auch deswegen, weil es in Europa unter großen wie kleinen Staaten, auf die es sich wenigstens mittelbar auswirkte, Aufsehen erregte, die Kommunikation verstärkte, einen Wandel der Kräfteverhältnisse und den absehbaren Aufstieg einer europäischen Staatenwelt anzeigte, trotz der Beharrungskraft überstaatlicher Gewalten von Kaiser, Reich und Papsttum.[4] Papst Clemens VIII. sorgte im übrigen für eine reizvolle zeittypische Begegnung traditioneller und neuer politischer Elemente, indem er den Friedensschluß subtil vermittelte, ihn aber nicht nur zur Stärkung gegen die Protestanten, sondern auch zur Einigung der Christenheit gegen das Osmanische Reich nutzen wollte: alte Verheißung und Symbol europäischer Gemeinsamkeit im Kreuzzug und zugleich höchste Legitimierung zur Führung in Europa. Europa war eine Bezeichnung, die allmählich an die Stelle des umfassenden Begriffs der Christenheit trat.

 33

Vervins war nur eine Etappe – aber auf was für einem Weg? Der Historiker kann feststellen, wohin bestimmte Anstöße schließlich führten, aber er erkennt auch, daß die Richtung anfangs keineswegs ausgemacht war. Es handelte sich jedenfalls um eine wesentliche Etappe in der europäischen Geschichte. Denn der Vertrag brachte zwischen zwei der wichtigsten und zugleich tief verfeindeten Mächte Europas eine den Krieg beendende Vereinbarung, die man lange für unmöglich gehalten hatte. Er änderte die Machtverteilung mit Folgen für ganz Europa und eröffnete neue politische Möglichkeiten – Ansätze waren das, mehr nicht, aber auch nicht weniger. Diese Ansätze sind es, die Aufschluß über unser Generalthema vom europäischen Geschichtsbewußtsein und vom Wert »Europa« geben. Dafür einige Beispiele.

 34

Europäisches Geschichtsbewußtsein hat es selbstverständlich seit eh und je gegeben. Und das spielte insbesondere in Vervins am Ende eines Jahrhunderts, das wie wenige andere Europa geradezu umgepflügt und es von der Glaubensspaltung über das Weltbild, die Wissenschaft und die Kunst bis hin zur Politik tiefwirkend verändert hatte, eine bemerkenswerte Rolle. Ohne europäisches Geschichtsbewußtsein kein Europa. Denn Europa bot, in immer wieder sich auch räumlich änderndem Umfang, den Bezugsrahmen für die dort stets in verhältnismäßig enger Verflechtung lebenden Völker, für ihre vielfältigen Gemeinwesen, kulturellen Ausprägungen und Regionen und sowohl für ihre zahllosen Streitigkeiten als auch für ihren Verkehr untereinander und über Europa hinaus. Sich des Gemeinsamen wie des Besonderen, Eigenständigen, seiner Entstehung und seines Ortes bewußt zu werden, war unerläßlich, weil es dabei nicht zuletzt um die rechtliche Fixierung ging und die eigene Existenz von der Erfahrung abhing, von der unmittelbar gewonnenen oder von der tradierten und akzeptierten, also von der historischen Erfahrung. In beiderlei Form ist der Vertrag von Vervins von Erfahrung geprägt, vor allem von der Erfahrung jahrzehntelangen, ausufernden, ruinösen Krieges, der beide Vertragspartner erschöpft hatte. Der Frieden war zerbrechlich, hielt aber länger als vielleicht erwartet. Spanien und Frankreich wollten unbedingt einen großen europäischen Krieg vermeiden. Der große europäische Krieg – das blieb eine tief sich einprägende historische Erfahrung, die immer wieder erneuert, bis zum Zweiten Weltkrieg immer schrecklicher wurde und immer wieder ähnliche Reaktionen auslöste: die, teilweise vorübergehend auch verwirklichte, Forderung nach europäischer Gemeinsamkeit und Friedensordnung, von den Einigungsplänen ganz abgesehen. Dies war eine das europäische Geschichtsbewußtsein prägende Erfahrung, die Entdeckung des Wertes, den Europa als Gemeinschaft darzustellen vermag; und in die Tradition dieser Erfahrung gehört Vervins.

Dazu gehörte außerdem – und das setzte sich später gelegentlich in zeitgenössisch abgewandelter Form fort – eine gewisse Aufbruchstimmung frühmoderner Staatlichkeit, nun neue politische Verhältnisse durchsetzen zu können im erweiterten Handlungsraum Europas, sowohl innere Neuordnung als auch Modernisierung zwischenstaatlicher Strukturen durch den Ausbau der Diplomatie[5], der Information, der Kommunikation und des Rechts als Instrumente kalkulierbarer Beziehungen in Europa. Deswegen mußten möglichst viele bei dieser Modernisierung mitmachen, sonst funktionierte weder ein berechenbares Verhalten in der auswärtigen Politik noch eine sie erleichternde Neufundierung mit dem Ziel ähnlicher Staats-, Regierungs- und Verwaltungsprinzipien. Auch dies wurde Teil der historischen Erfahrungen, steigerte die Erwartungen modernisierter Staatlichkeit in den großen Umbruchphasen europäischer Politik und beeinflußte die Vorstellungen von Europa und von den Vorteilen einheitlicher Verfassungsgrundsätze bis in die Gegenwart – Politik aus Erfahrung und Hoffnung.

 35

Ein weiteres wichtiges Charakteristikum europäischen Bewußtseins war in Vervins erkennbar, die zunehmende Ausweitung und Verflechtung der Problemkomplexe. Das stellte Heinrichs IV. Politik gegenüber seinen, den Ausgleich mit dem Hauptgegner Spanien zunächst voller Argwohn ablehnenden Verbündeten England und Holland eindrucksvoll unter Beweis. Es ging immer mehr darum, die Konsequenzen aller Entscheidungen und die Reaktionen der anderen in der europäischen Politik zu bedenken und ihnen durch ein abgewogenes, differenziertes Vorgehen Rechnung zu tragen und die Ziele dementsprechend zu begrenzen und einleuchtend zu formulieren. Dies ist eine typische, auf europäische Verflechtung und wachsende Zahl der Akteure abstellende Haltung, die dabei Regelungsfähigkeit und Berechenbarkeit, vor allem aber die Tradition des Aushandelns von Lösungen bevorzugte und auf die im weitesten Sinne gemäßigten Kräfte, auf die »Politiker« setzte, die zu Kompromissen bereit waren. Heinrich IV. unterstützte das noch durch Versuche eines Ausbalancierens der Forderungen und der Staaten. Dieses Verhalten ist bis heute ein Kennzeichen Europas in der internationalen Politik und hat sich intern zu einem politischen Wert entwickelt, obwohl über die Jahrhunderte hinweg immer wieder auch auf außenpolitische Handlungsmuster zurückgegriffen wurde, die diesem Wert völlig widersprachen. In diesen, anfangs nicht sehr starken Anstößen, denen die allgemeine Verbindlichkeit und Stetigkeit noch fehlten, deutete sich doch der Wert an, den Europa und die europäische Ebene der Politik künftig einmal für enge Kooperation, Ausgleichsstreben und Integration erlangen konnten.

Heinrich IV. steigerte eine solche auf friedlichen Ausgleich gerichtete Politik später noch, indem er eine Macht und Ansehen fördernde schiedsrichterliche Rolle der französischen Krone in internationalen Streitigkeiten ausübte. Noch zu seinen Lebzeiten, erst recht aber nach seiner Ermordung löste das eine ganz ungewöhnliche Flut politischer Publizistik und vor allem in Frankreich seine Verherrlichung als arbiter, als Schiedsrichter der Christenheit aus.[6] Abgesehen von dem damit verbundenen Machtzuwachs und dem Anspruch auf den höchsten Rang Frankreichs in Europa kam darin die Übernahme eines wesentlichen Vorrechts des Papstes durch weltliche Mächte, vor allem aber das Verlangen nach friedlicher, durch Verfahren und durchsetzungsfähige, akzeptierte Schlichtung gesicherter Regelung von Streitigkeiten zum Ausdruck, ein Verlangen, das auch dem sich entwickelnden europäischen Völkerrecht und schließlich sogar der Vorstellung von einer durchgreifenden, über den Staaten stehenden europäischen Gerichtsbarkeit und vom Recht als einem der höchsten europäischen Werte starke Impulse gab.

 36

Europäische Werte und der Wert Europas sind vielleicht noch bedeutsamer außerhalb des Politischen. Trotzdem halte ich mich vornehmlich an das politische Vermögen, weil der Mensch zur Politik fähig ist – einem der höchsten Werte menschlicher Existenz, auch wenn der Mensch ihn gelegentlich mißbraucht. Er trägt die große Verantwortung dafür, europäische Gemeinsamkeit zu prägen und eine politische und rechtliche Ordnung und Kultur Europas zu gestalten, die unentbehrlich ist und es erlaubt, die Werte Europas überhaupt erst zu entfalten. Nebenbei bemerkt, wenn man es methodisch richtig anstellt, können diese über Politik und Recht hinausgehenden Werte auch im Rahmen einer politischen Geschichte Europas und des europäischen Geschichtsbewußtseins angemessen zur Geltung kommen.

Nach diesen Überlegungen über politische Werte im Rahmen Europas möchte ich in zwei weiteren Abschnitten in stetem Bezug auf Europa kurz auf folgende allgemeinere Punkte eingehen: zum einen auf den Begriff des Wertes in Verbindung mit Europa als Wert, zum anderen auf den Zusammenhang zwischen allgemeinen Werten, Interessen und pragmatischen Werten.

 37

II.

Hans Joas hat die Problematik kurz und treffend zusammengefaßt: »[…] der Begriff des ›Werts‹ […] ist ja ebenso umstritten und von willkürlicher Verwendung bedroht wie der Begriff ›Europa‹.«[7] Und man könnte hinzufügen, daß dies für einige andere in bezug auf Europa gebrauchten Begriffe gleichermaßen gilt, vor allem für die so arg gebeutelte »Identität«. Um dem Begriff des Wertes wieder mehr Klarheit und eine gewisse Strenge zu geben, hebt Joas die besondere Form unserer Bindung an Werte hervor, die ein »passivisches Moment«[8] und die Erfahrung und Vermittlung von Transzendenz enthalten müsse. Der Mensch muß sich gebunden fühlen, verpflichtet zur Beachtung der in einem Wert liegenden Anforderungen. Darin steckt sowohl ein Appell an unser Gewissen als auch eine Zurückweisung der Beliebigkeit, es doch ruhig einmal mit diesem, einmal mit jenem Wert zu versuchen. Es geht nicht um zeitlich oder durch die Umstände begrenzte individuelle Wahl oder Entscheidung, sondern darum, aus einer Bindung an bestimmte Werte heraus die uns laufend abverlangten Entscheidungen, die Auswahl unter mehreren Möglichkeiten zu treffen. Deswegen betont Joas so stark den Unterschied zwischen Werten auf der einen und Normen, Regeln oder gar Wünschen auf der anderen Seite. Werte sind übergeordnet und sagen aus, was wünschens- oder regelnswert ist.

Allerdings ist bei der historischen Analyse darauf zu achten, daß die der Rechtsprechung unterliegenden Normen und Regeln nicht selten verinnerlicht und als Werte verstanden oder mißverstanden werden. Für eine Analyse von europäischen Werten wäre deshalb zum Beispiel beides geschichtswissenschaftlich zu untersuchen, sowohl das in einer bestimmten Phase in Europa Wünschenswerte, einschließlich der Haltung der Regierungen dazu, als auch die Entwicklung von europäischen Publizisten und Gruppierungen, Bewegungen, Traditionen, und zwar generell im Zusammenhang mit den Grundstrukturen einer in der Neuzeit veränderten Identität, deren überkommene Prägung vor allem durch Modernisierung und Industrialisierung zum Teil erheblichen Wandlungen unterworfen war. Hier tritt der Bezug zu allgemeinen Werten hervor, die ihre Klassifizierung als »europäisch« im 19. und 20. Jahrhundert allmählich abgestreift und eine eigenständige Weiterentwicklung außerhalb Europas genommen haben. Das braucht die europäische Tradition nicht zu beeinträchtigen, man muß sich dieser Ausweitung nur stets bewußt bleiben. Es geht also nicht mehr darum, ob bestimmte Werte nur in Europa zu finden sind, sondern ob die verschiedenen, als europäisch empfundenen Werte in ihrer Auswahl, Zusammenfügung und Gesamtheit eine spezielle europäische Note haben.

 38

Einige zentrale europäische Werte seien zur Erläuterung genannt. Joas fügt die Bestimmung solcher Werte ein in den großen geschichtsphilosophischen Bogen bis zum Durchbruch der Moderne, einen Bogen, den er ansetzt mit der so genannten »Achsenzeit« globaler Hochkulturen von etwa 800 bis 200 v. Chr.[9], der Trennung des Göttlichen vom Weltlichen und der »Entdeckung (oder Erfindung) der Transzendenz« – so wörtlich[10], wobei nur die Bezeichnung ›Entdeckung oder Erfindung‹ als Gedanken- und Stilbruch im Zuge der existentiellen Entfaltung des Wertbegriffs erscheint. Der Begriff der Erfahrung von Transzendenz wäre angemessener. Joas erkennt im Ergebnis dieser Entwicklung von der Achsenzeit bis in die Moderne drei wesentliche europäische Werte[11]: Innerlichkeit als Erschließung des Innern und Intensität der Ich-Erfahrung, Hochschätzung des gewöhnlichen Lebens, Selbstverwirklichung, und zwar unter der Bedingung der Freiheit samt der Tatsache, daß die Freiheit unter den großen Religionen nur vom Christentum zum religiösen Ziel erklärt worden sei, unterstützt von der Rationalität sowie der Anerkennung und Verwirklichung von Pluralität und dem Ertragen, aktiv gesagt: dem Ausarbeiten von Differenz (etwa von der akzeptierten Differenz im Vertrag von Vervins zur Toleranz und zum Miteinander und zur Zusammenarbeit über Unterschiede hinweg). Historisch angemessen im Sinne europäischen Geschichtsbewußtseins sind dabei die dunklen Züge der Geschichte Europas gegenwärtig, wenn beispielsweise der zentrale Begriff der Freiheit auch aus seinem Verhältnis zur Sklaverei entwickelt oder wenn an die Verbrechen und das Grauen in Europa mit dem Höhepunkt im »dunklen« 20. Jahrhundert (Mazower)[12] erinnert wird.

 39

Die grundlegende Bedeutung der Freiheit für die Entfaltung von Kultur und Zivilisiertheit in Europa, aber auch von Rationalität und Vielfalt, Recht und Menschenwürde zeigt an, daß Freiheit in Europa kein abstrakter globaler Begriff bleibt, sondern durchweg in bestimmten, historisch begründeten und prägenden Zusammenhängen erfaßt wird. Darin liegt die eigentliche Bedeutung der typisch europäischen Auffassung vom Erfordernis der ständigen Arbeit an einer Geschichte der Freiheit. Damit könnte man diesen Punkt beenden. Allerdings weckt die Betrachtung wesentlicher europäischer Werte auch neue Fragen oder auch Zweifel. Wenn Werte so tief gründen, daß sie bis ins Gewissen reichen, ist es dann noch angemessen, so leichthin, wie es heute nicht selten geschieht, so ohne weiteres von Europa als einer Wertegemeinschaft zu sprechen? Darin liegt dann doch eine sehr hohe Anforderung. Infolgedessen wird auch der, ebenfalls häufig beschworene, Wertewandel schwerwiegender, existentieller als nur ein Wechsel in einer gewissen bevorzugten Haltung.

Davon unberührt wird häufig, und nicht zu Unrecht, darauf verwiesen, daß die Freiheit der Europäer, wertbezogene Entscheidungen treffen zu können, grundlegend europäisch sei, daß diese Freiheit zu den Voraussetzungen europäischen historischen Bewußtseins gehöre, schon wegen der langen Geschichte des Kampfes um die Erringung dieser Freiheit, und sie daher wesentlich zu den Charakteristika zähle, die den Wert »Europa« ausmachten. Bietet das aber nicht schon der nationale Verfassungsstaat? Trotzdem, es ist gemein-europäisch, und die europäische Einigung kann maßgebend zur Sicherung dieser freiheitlichen Basis beitragen. Überhaupt wäre es einer eingehenden historischen Analyse wert, den Verlauf der europäischen Integration daraufhin zu prüfen, wie weit die Bindung an gemeinsame Werte mit Hilfe der Einrichtungen von EG und EU in den Mitgliedsländern gefördert, zu deklaratorischer Politik mißbraucht oder auf Grund eigenständiger und hinreichender politischer Traditionen als zu weitgehender Eingriff abgelehnt worden ist.

Dahinter steht prinzipiell zunächst einmal die immer wieder neu und nie endgültig zu beantwortende Frage nach dem rechten Maß zwischen Vereinheitlichung auf der einen und Wahrung der Vielfalt und der Unterschiede als wesentlichem Wert Europas auf der anderen Seite. Eine weitere, jeweils nur im historischen Kontext zu klärende Zweifelsfrage bleibt offen, nämlich ob wichtige Wertvorstellungen zwar auf Grund historischer oder gegenwartsbezogener Untersuchung oder auch durch politische Entscheidung als europäisch deklariert, von der Mehrheit der Menschen in den Mitgliedsländern jedoch gar nicht Europa zugeordnet werden.

 40

III.

Bei europäischen Werten ist allerdings noch etwas ganz anderes zu berücksichtigen: die Konkurrenzsituation, in der europäische Werte nicht nur zu nationalen Traditionen und Wertbindungen stehen, zu politischen Taktiken und dem jeweils opportunen Wechsel der Regierungen zwischen der nationalen und europäischen Ebene der Politik, sondern auch die Konkurrenz zwischen europäischen Werten und europäischen Interessen. In Verbindung damit wäre noch eine weitere, nicht ganz so tiefgreifende, aber notwendige Kategorie von Werten zu erörtern – pragmatische Werte möchte ich sie nennen. Sie umfassen spezielle Vorstellungen vom Umgang der Europäer miteinander, über die man, etwa in der internationalen Politik Europas, ausdrücklich oder stillschweigend Einvernehmen voraussetzen kann oder für deren Anerkennung eine Regierung sich einsetzt, ohne daß derartige Werte den geistigen und moralischen Rang der bereits genannten Grundwerte erstreben. Sie sind auch enger mit Interessen verknüpft, geben aber ebenfalls Orientierung, sind handlungsleitend, beanspruchen Geltung, und einige könnten sogar in die Werte ersten Ranges oder in deren weitgefaßten Umkreis aufsteigen.

Um Beispiele zu nennen: Der Vertrag von Vervins war – wie erwähnt – vor allem zur Verhinderung weiterer ruinöser Kriege geschlossen worden, und für einige Zeit wurde der große europäische Krieg, den man fürchtete, unterbunden. Denn Spanien und Frankreich waren damals die entscheidenden Mächte. Die Sorge vor dem großen europäischen Krieg blieb – auch dies ein wichtiger Untersuchungsgegenstand – bestehen, wurde zum Ausgangspunkt des Wiener Kongresses und erlangte dort Geltung in der Form des Friedens als europäischer Wert. Allerdings erst nach 1945, nach schwerwiegendem Versagen der Politik erreichte diese Gegenwirkung gegen den europäischen Krieg den Status eines allgemein verbindlichen, vorrangigen und maßgebenden europäischen Wertes der Friedenspflicht und wurde ein wesentlicher Impuls der europäischen Integration – Grundlage der Gemeinschaft und Anerkennung des Wertes, den Europa für den Frieden besitzt. Ein weniger spektakuläres Beispiel, doch mit dem vorangegangenen folgerichtig verknüpft, ist die, auch in Vervins praktizierte, allmählich weiterentwickelte Anerkennung von Interessen der Staaten, solange sie sich in Grenzen halten, also als legitim und akzeptabel gelten – wie akzeptabel, ist Sache des Aushandelns und der Kompromißfähigkeit, beides pragmatische Traditionen und Werte internationaler Politik in Europa seit Jahrhunderten. Ihre Bedeutung wuchs sowohl wegen der Entfaltung der Autonomie als Charakteristikum und zentraler Wert moderner politischer und gesellschaftlicher Entwicklung sowie des modernen souveränen Staates und seiner Staatsraison als auch wegen der zunehmenden Bemühungen, Kriege einzudämmen und sie schließlich zu ächten. Damit wuchs zugleich als dritter pragmatischer Wert in diesem Bunde die Bedeutung des Interessenausgleichs und der friedlichen Streitschlichtung mit dem ganzen reichen völkerrechtlichen Instrumentarium auf diesem Gebiet.

 41

Damit wäre schon einiges auch über die Bedeutung von Interessen im Verhältnis zu Werten gesagt. Auf den unabhängigen souveränen Staat bezogen geht es bei den Interessen um den grundlegenden Wert der Vielfalt in Europa und damit auch um eine Spannung zwischen europäischen Werten: nachhaltige Beachtung von Vielfalt kann den Nationalstaat zu Lasten der Gemeinschaft stärken. Deshalb ist die Anerkennung und Regelung von Interessen so wichtig, einschließlich der Festlegung von Verfahren zum Interessenausgleich, auch und gerade in der EU, und – immer wichtiger unter nun 27 Mitgliedstaaten – die angemessene Wahrung der Beteiligung an den Entscheidungen für alle Regierungen. Denn gleichberechtigte Partizipation gehört zu den Grundwerten der Gemeinschaft und zum maßgebenden Interesse ihrer Mitglieder als selbständige Staaten. Werte und Interessen sind im Hinblick auf Europa und seine Gemeinschaftspolitik infolgedessen vielfach und unlösbar miteinander verknüpft. Die verbindliche Festlegung europäischer politischer Werte und damit des Wertes, den Europa hat, ist ohne die Einwirkung der Interessen der Mitglieder unmöglich.[13]

Bei den allgemeinen oder kulturellen Werten Europas, die als erste behandelt wurden, ist das Einvernehmen von vornherein mehr oder weniger gegeben. Je stärker aber die nationalen Interessen berührt werden, also bei den politischen Werten und in den Randzonen und Überschneidungen politischer und kultureller Werte, etwa der Freiheit, wird das schon schwieriger, weil es hier um Festlegungen geht, die politischer, auf Interessen basierender Entscheidungen bedürfen. Aber die kulturellen Werte Europas sind, damit man sein Leben nach ihnen einrichten kann, abhängig von der festen Verankerung der politischen Werte.

IV.

Die abschließenden Bemerkungen beziehen auch Aspekte der öffentlichen Debatte ein. Eine besondere Rolle spielen Europapläne und Ähnliches.[14] Es ist jedoch nicht immer so, daß die bekannten – oder auch noch weitgehend unbekannten – Pläne gemeinsamer europäischer Ordnung wie mit einer leuchtenden Fackel vorangetragen würden und die Politiker in den einzelnen Ländern sich nur sehr zögernd oder unmutig die Augen rieben, allmählich doch etwas Verwertbares daran entdeckten und schließlich, als kaum noch eine andere vernünftige Lösung in Europa übrigblieb, zu vorsichtigen Schritten begrenzter Integration übergingen. Nicht selten war es eher umgekehrt: Politiker gingen mit ingeniöser Politik insofern manchmal voran, als sie mögliche Entwicklungslinien gemeinsamen Verhaltens und Vorgehens aufzeigten oder vielleicht auch nur andeuteten, die den Interessen nicht nur des eigenen Staates, sondern auch der anderen europäischen Staaten dienen konnten, aber dann außerhalb der politischen Praxis zu teilweise eindrucksvollen Zukunftsentwürfen ausgestaltet wurden. Das zeigte sich etwa an der anregenden Wirkung, die in dieser Hinsicht der Vertrag von Vervins und die Außenpolitik Heinrichs IV. ausübten, nicht nur in Form des Friedensplans seines Ministers Sully.

 42

Diese Wechselbeziehungen zwischen konkreter Politik mit ihren eigennützigen Zielen, aber eben auch mit manchmal weiterführenden Anregungen internationaler Ordnung – oder sogar deren Verwirklichung – auf der einen Seite und den Friedens- und Europaplänen auf der anderen Seite traten besonders klar und ergiebig im Zeitalter des Wiener Kongresses zutage. Dies wird inzwischen eingehend untersucht[15], ebenso das jeweilige Umfeld von Europaplänen jeder Art. Die Untersuchung sollte jedoch nicht nur punktuell bei herausragenden historischen Beispielen ansetzen. Wir brauchen durchgehende Untersuchungen des Verhältnisses von Europaplänen zur politisch-gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konstellation in Europa über längere Zeiträume hinweg. Dabei wäre in Rechnung zustellen, daß insbesondere mit dem Durchbruch der Moderne der überkommene Kommunikationsraum in Europa eine beträchtliche Verdichtung und Intensivierung durch die nicht nur technisch immer effizienteren Verbreitungsmechanismen erfuhr. Vor allem nahmen Umfang, Aufnahmefähigkeit und politische Bedeutung der öffentlichen Meinung rasch zu, ebenso der Transfer von Ideen, Vorstellungen, Modellen für Strukturen aller Art und der transnationale Fachdiskurs. Deswegen sind weitergefaßte Untersuchungen über das Entstehen gemeinsamer europäischer Wertvorstellungen und über die Überzeugung vom Wert, den Europa für Bestrebungen ganz unterschiedlicher Art darstellen könnte, sowie über das europäische Geschichtsbewußtsein sehr nützlich. Sie sollten sich auch mit europäischen Debatten befassen, die über den Europa-Diskurs im engeren Sinne hinausgehen und sich mit akuten oder langfristigen Problemen, die für Europa wichtig sind, auseinandersetzen – mit politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen, technischen und allgemein kulturellen Fragen. Besondere Bedeutung käme der Bildung und Ausbildung zu: Bildung aus der Tradition seit der Antike als neu zu formulierender Grundwert der modernen Gesellschaft in Europa. In diesem allgemeinen Zusammenhang sollten die Integrationsfelder und integrierenden Kräfte, die schon lange vor der eigentlichen politischen Integration wirksam wurden, von der Wirtschaft und Technik bis zur Kommunikation, angemessen berücksichtigt werden.[16]

 43

Europa ist also kein Wert an sich. Europa ist ein vom Verlauf der Geschichte abhängiger Begriff, über den immer neu zu debattieren und zu entscheiden ist und der infolgedessen einen Prozeß zum Ausdruck bringt, an dem auch die Kritik und die Gegenkräfte teilhaben. Davon abhängig fügen sich europäische Werte immerhin zu einer Art schwankendem summarischem Wert Europas von im zeitlichen Ablauf unterschiedlicher Kraft und Mischung zusammen. Im Blick des Betrachters wird daraus eine Bewertung Europas insgesamt. Insofern entspricht das auch der Vielfalt Europas und der im Laufe der Zeit unterschiedlichen Dynamik europäischer Gemeinsamkeit, ein Abbild seiner Stärken und Schwächen. Dieses Wertebündel ist in seiner Mannigfaltigkeit, fern von einem monolithischen Wertkoloß, faszinierend als Ausdruck der weiterzuentwickelnden Lebenskraft Europas. Und es ist seine Schwäche, daß es manchmal in einer Beliebigkeit der Werte oder in der Reduzierung auf einige unter ihnen, in der Instrumentalisierung weniger Wertbezüge je nach Interessenlage oder gar in Versuchen höherer Rechtfertigung ideologischer, politischer oder gesellschaftlicher Zwecke zu versinken droht. Das kann sowohl zur übermäßigen Betonung einzelner Werte als auch zur Propagierung von je nach Opportunität ständig neuen Werten und zur Forderung nach ihrer verfassungsmäßigen Absicherung auf der europäischen Ebene zugunsten von Gruppeninteressen führen. Was bleibt, ist der dauernde Ansporn, sich immer wieder für europäische Werte und Gemeinsamkeit einzusetzen. Vielleicht besteht ja der Wert »Europa« nur in uns und in unserer Anstrengung.

 44

Literaturverzeichnis

Bély, Lucien (Hg.): L’invention de la diplomatie. Moyen Age – Temps modernes, Paris 1998.

Bély, Lucien: Conclusion des travaux. La paix de Vervins, fille d’Enfer ou fille de Dieux ?, in: Jean-François Labourdette u.a. (Hg.), Le Traité de Vervins, Paris 2000, S. 557–568.

Borodziej, Włodzimierz u.a. (Hg.): Option Europa. Deutsche, polnische und ungarische Europapläne des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2005, 3 Bde. (Bd. 1: Essays, Bd. 2: Regesten, Bd. 3: Texte).

Borromeo, Agostino: Clément VIII, la diplomatie pontificale et la paix de Vervins, in: Jean-François Labourdette u.a. (Hg.), Le Traité de Vervins, Paris 2000, S. 323–344.

Jaspers, Karl: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München/Zürich 1949.

Joas, Hans u.a. (Hg.): Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt/M. 2005.

Joas, Hans: Die kulturellen Werte Europas. Eine Einleitung, in: ders. u.a. (Hg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt/M. 2005, S. 11–39.

Kampmann, Christoph: Eine »neue Formel« für die Vorherrschaft Ludwigs XIV.? Leibniz, Bodin und das Arbitrium Europae, in: Klaus Malettke u.a. (Hg.), Französisch-deutsche Beziehungen in der neueren Geschichte. Festschrift für Jean Laurent Meyer zum 80. Geburtstag, Berlin 2007 (Forschungen zur Geschichte der Neuzeit. Marburger Beiträge 10), S. 129–148.

Krüger, Peter: Das unberechenbare Europa. Epochen des Integrationsprozesses vom späten 18. Jahrhundert bis zur Europäischen Union, Stuttgart 2006.

Krüger, Peter: Vervins. Le résultat précoce d’une vue systémique des affaires étrangères en Europe, in: Jean-François Labourdette u.a. (Hg.), Le Traité de Vervins, Paris 2000, S. 415–429.

Labourdette, Jean-François u.a. (Hg.): Le Traité de Vervins, Paris 2000.

Malettke, Klaus u.a. (Hg.): Französisch-deutsche Beziehungen in der neueren Geschichte. Festschrift für Jean Laurent Meyer zum 80. Geburtstag, Berlin 2007 (Forschungen zur Geschichte der Neuzeit. Marburger Beiträge 10).

Malettke, Klaus: Le traité de Vervins et ses conséquences pour l’empereur et pour l’empire, in: Jean François Labourdette u.a. (Hg.), Le Traité de Vervins, Paris 2000, S. 493–512.

Mazower, Mark: Der dunkle Kontinent – Europa und der Totalitarismus, in: Hans Joas u.a. (Hg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt/M. 2005, S. 367–385.

Schulin, Ernst (Hg.): Universalgeschichte, Köln 1974 (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 72, Geschichte).

 45

[*] Peter Krüger, Prof. (em.) Dr., 1975-2002 ordentlicher Professor für Neuere Geschichte, Universität Marburg.

[1] Umfassend in Bestandsaufnahme, Wirkungsfeldern und Neuansatz der Forschung Labourdette, Vervins 2000.

[2] Bély, Conclusion des travaux 2000, S. 558–562.

[3] Krüger, Vervins – vue systémique 2000, S. 423.

[4] Siehe dazu neben anderen die Beiträge von Malettke und Borromeo in: Labourdette, Vervins 2000, S. 493–512 und 323–344.

[5] Bély, L’invention de la diplomatie 1998.

[6] Dazu und allgemein zur Institution und Funktion des arbiter im frühneuzeitlichen Europa siehe die eingehenden Forschungen von Christoph Kampmann, zuletzt Kampmann, Arbitrium Europae 2007, bes. S. 139–142.

[7] Joas, Einleitung 2005, S. 13.

[8] Ebd.

[9] Ebd., S. 17, 19–22. – Joas bezieht sich auf Jaspers, Ursprung und Ziel der Geschichte 1949; siehe dazu auch Schulin, Universalgeschichte 1974.

[10] Joas, Einleitung 2005, S. 17.

[11] Ebd., S. 18, weiter S. 26–30.

[12] Mazower, Dunkler Kontinent 2005, S. 367–385.

[13] Über Grundzüge der historischen Entwicklung bis zur EU: Krüger, Unberechenbares Europa 2006, passim.

[14] Auch methodisch grundlegende Behandlung von Europaplänen (Materialsammlung, Texte, Interpretation): Borodziej, Option Europa 2005.

[15] Neueste Veröffentlichung in Vorbereitung von Wolfram Pyta über das Mächtekonzert 1814–1853.

[16] Hinweise in Krüger, Unberechenbares Europa 2006.

ZITIEREMPFEHLUNG

Peter Krüger, Der Wert »Europa« – seine Bestandteile, Definitionen und Funktionen (aus geschichtswissenschaftlicher Sicht), in: Kerstin Armborst / Wolf-Friedrich Schäufele (Hg.), Der Wert »Europa« und die Geschichte. Auf dem Weg zu einem europäischen Geschichtsbewusstsein, Mainz 2007-11-21 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft online 2), Abschnitt 32–45.
URL: <http://www.ieg-mainz.de/vieg-online-beihefte/02-2007.html>.
URN: <urn:nbn:de:0159-2008031319>.

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieses Aufsatzes hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein.
Beim Zitieren einer bestimmten Passage aus dem Aufsatz bitte zusätzlich die Nummer des Textabschnitts angeben, z.B. 33 oder 32–35.

Herbert Uerlings *

»Eine freie Verbindung selbständiger, selbstbestimmter Wesen«. Friedrich von Hardenbergs (Novalis) Europa-Rede

Gliederung: Geschichte und Kairos
Frühromantisches Europa
Fazit und offene Fragen
Literaturverzeichnis

Anmerkungen
Zitierempfehlung

Text:

Friedrich von Hardenbergs Europa-Rede ist ein denkwürdiger Text. Dafür gibt es vier Gründe: (1) Diese im November 1799 im Jenaer Freundeskreis vorgetragene Rede kündete »zum ersten mal öffentlich in deutscher Sprache von der Vision einer europäischen Gemeinschaft – genau zweihundert Jahre vor der Etablierung des Euro«[1]. (2) Auf keinen zweiten Text wird bis heute so oft Bezug genommen, wenn es in historischer Perspektive in der Europa-Essayistik um die Bestimmung einer kulturellen Identität des Kontinents geht. (3) Kein zweiter Text zu Europa ist so umstritten wie diese Rede.[2] (4) Hardenbergs Europa-Rede, und auf diesen Aspekt müssen sich die folgenden Ausführungen beschränken, ist aus inhaltlichen Gründen ein denkwürdiger, auch des Nach-Denkens würdiger Text.

Die unter dem Titel »Die Christenheit oder Europa« bekannt gewordene Schrift ist, gerade auch aus der Sicht ihres Verfassers, Ausdruck einer ganz bestimmten Zeitstunde. Im Spätherbst 1799, nach damaliger Zeitrechnung unmittelbar vor Anbruch des neuen Millenniums, soll den Zeitgenossen die menschheitsgeschichtliche Bedeutung der aktuellen Situation vor Augen geführt werden, um sie zum Ergreifen des geschichtlichen Kairos aufzufordern.

Dabei geht es zum einen, das wird am Ende der Rede deutlich genug ausgesprochen, um einen konkreten Friedensschluss. Novalis’ Europa-Rede ist ein Aufruf zu einer religionsgestützten überkonfessionellen Friedenspolitik. Damit sollte das von den Koalitionskriegen erschütterte Europa aus dem Zustand immer wieder erneut geschlossener und gebrochener Waffenstillstände befreit und dem Ideal eines ›ewigen Friedens‹ näher gebracht werden. Hardenbergs Vorschlag ist Teil der durch Kants Schrift Vom ewigen Frieden (1795) inspirierten Debatte um eine neue Friedensordnung in Europa, eine Diskussion, an der sich auch ein weiterer Frühromantiker, Friedrich Schlegel, mit seinem Versuch über den Begriff des Republikanismus (1796) beteiligt hatte. In dieser Debatte ging es aber, zumal wenn sie mit chiliastischen Untertönen geführt wurde, um weit mehr als um Friedenspolitik, und so ist auch die Europa-Rede mehr als ein politischer Aufruf.

 46

Die Erfahrung, in einem seit der Französischen Revolution von Kriegen erschütterten Kontinent zu leben, verband sich bei den Frühromantikern mit einer Kritik der neuzeitlichen Legitimation des Staates. Die naturrechtliche Vertragstheorie, nach der die Bürger zugunsten der Befriedigung vitaler Interessen und Bedürfnisse einen gewissen Zwang in Gestalt von Gesetzen akzeptieren, implizierte aus frühromantischer Sicht eine nicht akzeptable Trennung von Staat und Gesellschaft sowie von Politik und Moral und galt als der Keim permanenter inner- und zwischenstaatlicher Krisen und Kriege. Die Französische Revolution hatte in dieser Sicht weder das Legitimationsdefizit des Staates beseitigt, noch die Demokratie als eine Staatsform empfohlen, unter der sich Wahrheit und Moralität leichter durchsetzen könnten; sie schien darüber hinaus die Stabilität nicht nur des französischen Staates auf Dauer zu gefährden. Während andere Staatstheorien des 18. Jahrhunderts – die von Rousseau, Montesquieu, aber auch Kant und Fichte – versuchten, die Spannung zwischen politischem und gesellschaftlichem Willen innerhalb des naturrechtlichen Rahmens zu mildern, griff Novalis auf die integrierende Kraft der Religion zurück, die für ihn Priorität vor der Frage der Staatsform hatte. Die in der Neuzeit verloren gegangene Einheit von Politik und Religion sollte also wiederhergestellt werden. Die Religion – eine neue Religion (wie noch zu zeigen sein wird) – sollte ihre Einheit stiftende Leistung aber gerade unter Wahrung der als spezifisch modern geltenden Freiheit, der Autonomie des Subjekts, erbringen. Das wird in Hardenbergs sog. ›Staatsschrift‹ Glauben und Liebe gewissermaßen innerstaatlich, in der Europa-Rede dagegen im Blick auf eine internationale Friedensordnung unter dem Vorzeichen der ›Liebe‹ entwickelt. Ähnlich wie in Hegels gleichzeitigen Überlegungen soll die (uneigennützige) Liebe die Kraft sein, mittels derer die vielen endlichen Einzelnen sich selbst als Individuen und damit den Staat hervorbringen und vollenden sollen. Die neue Gesellschaft, der »poetische Staat«, wäre eine »freye Verbindung selbständiger, selbstbestimmter Wesen« (II,457:95)[3].

Aus der Sicht der Frühromantiker ist dies gewissermaßen die ›Teleologie von Europa‹: die »freye Verbindung selbständiger, selbstbestimmter Wesen«, und das Jahr 1799 ist, aus noch darzulegenden Gründen, der Kairos: Jetzt ist der geeignete Zeitpunkt zur Verwirklichung Europas – deshalb der Aufruf an die gebildete bzw. politische Klasse Europas. Es geht also um Geschichte, Gegenwart und Zukunft Europas.

 47

Der näheren Untersuchung dieses Europa-Konzepts seien zwei philologische Anmerkungen vorangestellt. Die erste betrifft die Textsorte: Es handelt sich um eine Rede, genauer gesagt um die Gattung der aristotelischen Parteirede, der Oratio deliberativa. Deren Ziel ist es, die Zuhörer zu eingreifendem Handeln aufzufordern, und zu diesem Zwecke darf sie sich gewisser Lizenzen bedienen, insbesondere bei der Darstellung der Vergangenheit und Gegenwart. Dies hervorzuheben ist wichtig, weil es in der Vergangenheit immer wieder zu Fehllektüren gekommen ist: Man darf das Mittelalterbild der Europa nicht mit dem Friedrich von Hardenbergs gleichsetzen, denn es handelt sich nicht um eine historiographische Abhandlung, sondern um eine gezielt parteiliche Darstellung. Das aber konnten oder wollten schon seine Jenaer Hörer von 1799, der eigene aufgeklärt-protestantische Freundeskreis, nicht realisieren. Sie reagierten mit Unverständnis, Ablehnung und satirisch-ironischem Widerspruch.[4]

Die zweite Anmerkung bezieht sich auf den Titel der Rede. Die geläufige Überschrift »Die Christenheit oder Europa« stammt nicht von Novalis, sie wurde – von wem, ist unbekannt – erst lange nach seinem Tod geprägt und ist also auch nicht autorisiert. Novalis selbst hat seine Rede schlicht »Europa« (an Friedrich Schlegel, 31. Januar 1800; IV,317) genannt und dabei sollte es bleiben.

Geschichte und Kairos

Das Ziel der Rede ist die Aufforderung zur Herstellung des »ewigen Friedens« (III,524) durch eine umfassende, auch die konfessionellen Grenzen hinter sich lassende geistig-religiöse Erneuerung unter frühromantischen Vorzeichen. Als eine Art Vorbild für den heraufzuführenden künftigen Zustand wird die frühmittelalterliche katholische Christenheit beschrieben.

Entsprechend den Regeln der Rhetorik einer Oratio deliberativa geht es dabei um Plausibilitätsstützung, was bedeutet: die Darstellung kann und soll parteiisch sein, sie muss aber auch auf Tatsächliches rekurrieren. Novalis leistet dies, indem er eine auf historiographische Quellen und psychologische Wahrscheinlichkeit gestützte Darstellung des Mittelalters liefert. So entsteht ein Bild dieser Zeit, das – gemessen am damaligen Kenntnisstand der Historiographie – Wahrscheinlichkeit und historische Glaubwürdigkeit beanspruchen darf. Sinn und Zweck dieser Konstruktion ist die Beglaubigung der am Ende der Rede entworfenen Zukunftsutopie.

Dabei geht es nicht um die Wiederherstellung frühmittelalterlicher Zustände, sondern gemäß der Auffassung, dass der Stoff der Geschichte »fortschreitende, immer mehr sich vergrößernde Evolutionen« (III,510) seien, fordert der Sprecher dazu auf, den gegenwärtigen Kairos zu nutzen und etwas, das in seiner Perspektive bereits einmal Gestalt gewonnen hat, auf einer höheren Stufe erneut herzustellen.

 48

Die mittelalterliche Welt wird deshalb zunächst ganz positiv gezeichnet. Im Mittelpunkt steht die Einheit Europas, dessen politische Mächte durch den gemeinsamen Glauben geeint waren und dessen Bürger in einer lebendigen und anschaulichen Religion Sicherheit, Orientierung und Trost fanden. »Glauben und Liebe« (III,510) herrschten, ermöglicht durch eine Geistlichkeit, deren wichtigste Aufgabe es war, die »Ersten unter den Menschen an Geist, Einsicht und Bildung zu seyn« (III,510).

Noch im Mittelalter aber sei diese Geistlichkeit dann in eine »[u]nendliche Trägheit« verfallen und habe sich »Erfahrung und Gelehrsamkeit« (ebd.) von den Laien nehmen lassen müssen. Damit sei eine Kultur entstanden, die für den »Sinn des Unsichtbaren« (III,509) schädlich geworden sei. An die Stelle von »Glauben und Liebe« seien »Wissen und Haben« (III,510) getreten. Verband ursprünglich alle »Ein großes gemeinschaftliches Interesse« (III,507), so tritt jetzt an die Stelle des »unendlichen Glauben[s]« das »eingeschränkte Wissen« (III,508) und aus einer – von der Kirche vorgelebten – Besitzlosigkeit wird das »Haben« (III,510). Hinter dieser Kritik des ›Wissens und Habens‹ steht letztlich die romantische Kritik an der Aufklärung: der Besitzindividualismus ist ein Kernstück der aufklärerischen Naturrechtslehre und der Ich-Philosophie (Hobbes, Rousseau, Fichte).

Mit diesem Mittelalter-Bild setzt sich der Sprecher der Rede in schroffen Gegensatz zur herrschenden Auffassung, d.h. zur Aufklärungshistoriographie, wie sie Iselin, Spittler, Pütter oder Zimmermann vertraten. Ihnen galt das Mittelalter als Zeit der Barbarei und das Papsttum als unerträgliches Joch. Novalis konnte aber anschließen an Werke anderer bedeutender Historiker, vor allem an Johannes von Müllers Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft (1786–95) sowie Edward Gibbons Geschichte des Verfalls und Untergangs des Römischen Reiches (1776–88). Wesentliche Gedanken finden sich bereits hier. Müller beschrieb das frühmittelalterliche Europa als ein großes Gemeinwesen, das durch den Glauben und die päpstliche Hierarchie zusammengehalten wurde und eine europäische Bundesrepublik begünstigte. Bei Gibbon wird die weltgeschichtliche Dimension der christlichen Religion betont, die bei Novalis als »religiöses[s] cosmopolitische[s] Interesse« (III,512) erscheint, das über die Staatsgrenzen hinweg Einheit stiftende Wirkung habe. Im Zuge der Vorarbeiten notiert Novalis einmal: »Kein Umstand in der Religionsgeschichte ist merckwürdiger, als die neue Idee im entstandnen Xstenthum, einer ›Menschheit‹ und einer ›allgemeinen Religion‹« (III,579:193). Bei Gibbon fand Novalis ferner eine Darstellung des Wunderglaubens und des Heiligen- und Reliquienkults, die vom Geschichtsschreiber, trotz einer skeptischen Distanz, dann auch noch historisch legitimiert wird. Novalis führt diese Tendenz fort zu einer Aufwertung unter mentalitätsgeschichtlichem Vorzeichen und dem einer psychologischen Wahrscheinlichkeit. Sowohl Müller als auch Gibbon sehen ferner im moralischen und geistigen Verfall der päpstlichen Hierarchie den Grund für den bereits im Mittelalter beginnenden Niedergang dieser Kultur. Novalis konnte sich also auf bedeutende historiographische Werke seiner Zeit stützen. Das in der Europa entworfene Bild des frühen Mittelalters verband auf eigentümliche Weise – gemessen an den damaligen Maßstäben und Kenntnissen – historische Faktizität und Utopie, beides lizenziert und gefordert durch die Rhetorik der Oratio deliberativa, der aristotelischen Parteirede, die die parteiische, aber plausibilitätsgestützte Darstellung verlangt.[5] An die Darstellung des Mittelalters schließt sich, beginnend bereits mit der Verfallsbeschreibung, die einer krisenhaften Entwicklung an. Sie führt bis in die Gegenwart, d.h. bis zur Aufklärung, denn die Französische Revolution wird dann wieder unter dem Vorzeichen einer neuen Zeit gesehen.

Die europäische Geschichte zwischen Frühmittelalter und Gegenwart erscheint als »Oszillation, ein Wechsel entgegengesetzter Bewegungen« (III,510), die im Rückblick als »fortschreitende, sich vergrößernde Evolution« erkennbar wird. Das führt dazu, dass, was in der Rezeption häufig übersehen wurde, die Entwicklungen, die zur Moderne geführt haben, nicht nur negativ, sondern auch positiv bewertet werden.

 49

So wird die erste große, geschichtsträchtige Entgegensetzung, der Protestantismus, damit gerechtfertigt, dass er die Freiheit des Gewissens in Religionsdingen durchgesetzt habe – allerdings um einen hohen Preis: die Kirchenspaltung. Außerdem habe er durch die Errichtung landesfürstlicher Konsistorien (seit 1542), den Augsburger Religions- und Landfrieden (1555) und das Schriftprinzip seine Errungenschaft wieder zunichte gemacht. Letztlich habe der Protestantismus so dazu beigetragen, dass das Christentum seinen »großen politischen friedestiftenden Einfluß« (III,512) verloren habe und der »religiöse Sinn« nachhaltig geschädigt worden sei.

Auch die – in der Logik dieser Rede – zweite große Bewegung der europäischen Geschichte, die Aufklärung, wird ambivalent beurteilt. Novalis, der an die führenden Vertreter der deutschen Aufklärung – Lessing, Kant – anschließt, übt, wie alle Romantiker, gleichzeitig schärfste Kritik an jenen Formen der Aufklärungsphilosophie, die für die Religion, oder, wie es in einer bezeichnenden Verallgemeinerung heißt, für »alle« »Gegenstände des Enthusiasmus« (ebd.) keinen Raum lassen. Gemeint sind damit der Materialismus der französischen Aufklärung, der Rationalismus und der Deismus. Diese Formen der Aufklärung machen, wie es in Hardenbergs eindrucksvoller und viel zitierter Metaphorik heißt, »die unendliche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle, die vom Strom des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister und Müller und eigentlich ein ächtes Perpetuum mobile, eine sich selbst mahlende Mühle sey« (ebd.).

Die Aufklärung kulminiert in der Französischen Revolution, in der der Sprecher »eine zweite Reformation, eine umfassendere und eigenthümlichere« (III,517) sieht. Wie die erste Reformation entzündet sie sich an einem »Mangel an Freiheit« (ebd.), verschärft aber dann die geistige Krise. Allerdings wird diese Krise diesmal so weit zugespitzt, dass die Voraussetzungen für eine grundlegende Veränderung geschaffen sind. Denn die »zweite Reformation« hat zur Abdrängung alles Religiösen in den Privatbereich geführt, was als notwendige Befreiung von erstarrten äußeren Formen begrüßt wird. Das schlechte Alte soll vollständig untergehen: »Soll die Revolution die französische bleiben, wie die Reformation die Lutherische war?« (III,518), lautet die rhetorische Frage. In diesem Zusammenhang wird auch das Ende der katholischen Kirche in ihrer überlieferten Form gefordert bzw. als bereits erfüllte Bedingung der Erneuerung der Christenheit benannt. Denn durch die französische Besetzung des Kirchenstaates, den Tod Pius VI. und das Verbot einer Neuwahl war aus der Sicht des Sprechers das Ende des Papsttums gekommen. Über den Katholizismus urteilt er daher: »Seine zufällige Form ist so gut wie vernichtet, das alte Pabstthum liegt im Grabe, und Rom ist zum zweytenmal eine Ruine geworden« (III,524). Hinzu kommt an dieser Stelle der Rede der Zusammenbruch der Staatskirche des Ancien régime in Frankreich, einem katholischen Land und zugleich dem, »das am meisten modernisirt war, und am längsten aus Mangel an Freiheit in asthenischem Zustand gelegen hatte« (III, 517). In Frankreich erkennt der Sprecher – er spielt dabei auf den Kult des Höchsten Wesens in der Revolution an – auch die Keime eines neuen Religionsverständnisses. Dennoch aber gilt die Französische Revolution nur als gewissermaßen der vorletzte Schritt in der Geschichte des ›Mündig-Werdens‹ Europas. Novalis geht es, wie er in einer Entwurfsnotiz festhält, um die »Teleologie der Revolution« (III,575:157), und um diese zu vollenden, um einen Rückfall in eine halbe Aufklärung zu verhindern, müssten religiöse Ideen wieder zwischen weltlich-politischen Kräften und Interessen vermitteln. Ohne dieses religiöse Element bleibe der »Staatsumwälzer«, wie das Beispiel Frankreich zeige, ein »Sisyphus« (III,517).

 50

Hier berechtige nun die Entwicklung in Deutschland zu den größten Hoffnungen, vor allem die in Philosophie, Wissenschaften und Künsten. Damit kommt ein neuer, wichtiger Aspekt der europäischen Geistesgeschichte ins Spiel. In einer überraschenden gedanklichen Wende wird erläutert: »Wo keine Götter sind, walten Gespenster, und die eigentümliche Entstehungszeit der europäischen Gespenster, die auch ihre Gestalt ziemlich vollständig erklärt, ist die Periode des Uebergangs der griechischen Götterlehre in das Christenthum« (III,520 f.).

Auch dieser Satz, d.h. bezeichnenderweise nur seine aus dem Kontext gerissene erste Hälfte: »Wo keine Götter sind, walten Gespenster«, wurde immer wieder zum Beleg für Hardenbergs angebliches Rekatholisierungsprogramm missbraucht. Gemeint ist etwas anderes. Novalis beschreibt die spätantike Entstehung der hermetischen Tradition, die bis ins 18. Jahrhundert hinein neben der neuzeitlichen Wissenschaft herlief und in den Geheimgesellschaften jener Zeit, die der Sprecher der Europa zuvor als »jetzt noch unreifen, aber gewiß wichtigen geschichtlichen Keim […]« (III,514) bezeichnet hatte, eine große Rolle spielte.

»Das neue Religionskonzept soll durch die Wiedervereinigung von Glauben und Vernunft den neuzeitlichen Gegensatz von glaubensloser Wissenschaft und alchemistisch-magischem Aberglauben überwinden, der im Sinne Hardenbergs immer auf ein wahres Bedürfnis verwiesen hatte. Zudem soll eine mit dem Christentum verbundene Naturphilosophie[6] die Wiederkehr der Götter auf neuer Stufe ermöglichen und damit die ›Gespenster‹ der hermetischen Naturphilosophie – auch sie Ausdruck eines legitimen Bedürfnisses nach Vergeistigung der Natur – bannen«.[7]

Die intellektuellen Träger dieser Entwicklung sind – natürlich – die Frühromantiker (Novalis, die Brüder Schlegel, Tieck, Schelling, Schleiermacher, der Physiker Johann Wilhelm Ritter u.a.) und diejenigen, bei denen es verwandte Bestrebungen gab, d.h. aus Hardenbergs Sicht allen voran Goethe.

In der Jetztzeit der Rede, dem geschichtlichen Kairos, dem Anbruch der »neuen goldenen Zeit« nehmen die Frühromantiker damit die Position ein, die im frühen Mittelalter, der »alten goldenen Zeit«, die Geistlichkeit innehatte: die »Ersten unter den Menschen an Geist, Einsicht und Bildung« (III,510) zu sein. Die intellektuelle Avantgarde Deutschlands wird in der Europa-Rede dazu aufgerufen, Träger und Förderer der Einheit von Religion, Wissenschaft und Kunst zu werden. Diese Elite könne diese Funktion wahrnehmen, weil sie das Problem der Freiheit gelöst und »einer höhern Epoche der Cultur« (III,519) zugearbeitet habe, die nicht mehr dem »Sinn des Unsichtbaren« (III,509) schädlich sei.

 51

Erst jetzt wendet sich der Sprecher dem Thema zu, das bei der Konzeption der Rede den Ausgangspunkt bildete, »dem politischen Schauspiel unsrer Zeit« (III,522), und entwickelt jenen Gedanken, der bei der Beschreibung der Lage Frankreichs schon auftauchte:

»Es ist unmöglich daß weltliche Kräfte sich selbst ins Gleichgewicht setzen, ein drittes Element, das weltlich und überirdisch zugleich ist, kann allein diese Aufgabe lösen. Unter den streitenden Mächten kann kein Friede geschlossen werden, aller Friede ist nur Illusion, nur Waffenstillstand; auf dem Standpunkt der Kabinetter, des gemeinen Bewußtseyns ist keine Vereinigung denkbar« (ebd.).

Diese Einschätzung war im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht ungewöhnlich, und im Blick auf die spätere Entwicklung ist man versucht, Novalis recht zu geben: Die Balance-of-power-Politik Metternichs wurde eher zum Problem als zur Lösung. Novalis war nicht der einzige, der solcher Taktik von vornherein skeptisch gegenüberstand. Er folgt hier – bis in die Wortwahl hinein – Kants Zum ewigen Frieden. Wie Kant sein Zielbild eines europäischen Völkerbundes (ähnliche Überlegungen gibt es auch in Aufzeichnungen Hardenbergs) und eines durch eine Weltrepublik herzustellenden ewigen Friedens durch Ideen der Vernunft legitimiert bzw. aus diesen Postulaten abgeleitet hatte, so will auch der Sprecher der Europa-Rede Politik in Ideen fundieren. Dazu wählt er den Topos der »neuen, dauerhafteren Kirche« (III,524), die an die Stelle des Papsttums und des Protestantismus treten soll. Von einer »neuen Kirche« hatten auch Kant, Schleiermacher und Hölderlin gesprochen. Damit war zunächst einmal nur eine Vereinigung von Menschen auf der Grundlage gemeinsamer, für ihr Handeln als verbindlich angesehener Vernunft-Ideen gemeint – in den Worten von Kants Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793): eine Vereinigung unter einer göttlichen moralischen Gesetzgebung. Aus Kants Umdeutung des religiösen zum ›philosophischen‹ Chiliasmus stammt auch die Topik des Rede-Schlusses. Der von Hardenberg ersehnte ewige Frieden, die neue goldene Zeit, ist, in frühromantischer Sicht, nur in Form einer unendlichen Annäherung zu verwirklichen, die zugleich moralisch geboten ist. Alle Zielvorstellungen der Rede enthalten den Grund zu einer unendlichen Annäherung, sie sind Postulate.

Die Religion sollte künftig, anders als im Frühmittelalter, ihre Einheit stiftende Leistung gerade unter Wahrung der Freiheit, der Autonomie des Subjekts, erbringen. Das »heimliche Mündigwerden« der Menschen, das Erlangen der Subjektautonomie, bezeichnet, trotz aller Widrigkeiten und Rückschläge, den roten Faden der Entwicklung Europas. Die noch herzustellende »neue Kirche« soll die »ächte Freiheit« (III,542) bringen.

Von dieser war in der alten Goldenen Zeit nicht die Rede. Um diese Freiheit hatten daher die Französische Revolution und der Protestantismus vergeblich gerungen. Deshalb wird die in der Rede propagierte »Regeneration von Europa« als Ziel der »Teleologie der Revolution« (III,575:153) verstanden.

 52

In der Rede selbst macht der Sprecher regen Gebrauch von der »ächte[n] Freiheit« (III,524) gegenüber der theologischen Orthodoxie, vor allem bei der abschließenden bündigen Bestimmung dessen, was denn das Christentum eigentlich sei:

»Das Christenthum ist dreifacher Gestalt. Eine ist das Zeugungselement der Religion, als Freude an aller Religion. Eine das Mittlerthum überhaupt, als Glaube an die Allfähigkeit alles Irdischen, Wein und Brod des ewigen Lebens zu seyn. Eine der Glaube an Christus, seine Mutter und die Heiligen. Wählt welche ihr wollt, wählt alle drei, es ist gleichviel, ihr werdet damit Christen und Mitglieder einer einzigen, ewigen, unaussprechlich glücklichen Gemeinde« (III,523).

Bei dieser dreifachen Gestalt des Christentums handelt es sich in Wahrheit um eine frühromantisch inspirierte Zukunftsreligion, bei der das Mittlerprinzip im Zentrum steht, d.h. bei der grundsätzlich alles Irdische geheiligt – oder wie der poetologische terminus technicus lautet: ›romantisiert‹ – werden kann. Diesem Interesse an einer Mittlerreligion entspringt auch die eigentümliche Zeichnung der vorreformatorischen Religiosität in der Europa-Rede. Novalis spricht in seinen Randbemerkungen zu Friedrich Schlegels ›Ideen‹ von einer »heiligen Revolution« (III,493), darin gehe es um einen »Messias im Pluralis« (III,493), der »in tausend Gliedern zugleich« (III,519) empfangen werden soll. Die Abgrenzung des Christentums von den übrigen Religionen wird aufgelöst, und die christliche Religion als »symbolische Vorzeichnung einer allgemeinen, jeder Gestalt fähigen, Weltreligion« (an Just, 26.12.1798; IV,272) bezeichnet. Dadurch wird – auch innergesellschaftlich – die Möglichkeit eines religiösen Pluralismus eröffnet, und es wird deutlich, warum und inwiefern die Frühromantiker dem Christentum eine zentrale Rolle einräumen: Es geht nicht nur um den Bekanntheitsgrad der christlichen Mythologie, d.h. die Tatsache, dass es sich um eine bereits etablierte und deshalb für eine Gemeinschaftsstiftung besonders gut geeignete Kollektivsymbolik handelt, sondern es geht vor allem darum, dass das Christentum, jedenfalls ein frühromantisch interpretiertes, nach Hardenbergs Überzeugung wie keine zweite Religion wesentliche Prinzipien der Moderne verkörpert: Selbstreflexivität, geistige Freiheit, unendliche Perfektibilität und die Relativität der dogmatischen und institutionellen Form. Das sind Kriterien moderner Religiosität, die, aus der Sicht der Frühromantiker, in den philosophisch-theologischen Debatten der 1790er Jahre entwickelt wurden und an denen sich die historischen Gestalten und Formen des Christentums wie jede andere Form von Religiosität messen lassen muss. Zur Modernität des Christentums gehört aus frühromantischer Sicht, dass es seine historische Gestalt überschreitet und neue Religionen und neue Offenbarungen hervortreibt.

 53

Die frühromantische Mittlerreligion ist eine Antwort auf die religiöse Situation der 1790er Jahre, d.h. den Streit um das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung, und der Versuch einer modernen Antwort auf die Säkularisierung. Die Mittlerreligion vermittelt geistige Autonomie mit Transzendenz, indem sie im Bewusstsein hält, dass die symbolische Vergegenwärtigung des Absoluten nicht dessen Real-Präsenz bedeutet und deshalb unendlich viele Offenbarungen möglich sind.

Die Mittlerreligion und ihre ›Neue Mythologie‹ sind aber auch zu verstehen als Lösungsvorschlag für Probleme der zeitgenössischen (Natur-)Wissenschaften. Der frühromantische Vorschlag, den von der Metaphysik nicht zu lösenden Konflikt zwischen rationalem Deismus und Pantheismus dadurch zu lösen, dass die Erscheinungen als Vermittlung von Transzendenz und Immanenz verstanden werden, erfolgte unter Rückgriff auf die platonistische Auffassung von der »großen Kette der Wesen«, die mit der Vorstellung von der »unendlichen Perfektibilität« verbunden wurde.[8]

Das wichtigste Medium einer so verstandenen religiösen Darstellung und Erfahrung aber wird die Kunst. Sie tritt insofern an die Stelle der Religion, als sie selbst Vergegenwärtigung des Unbedingten in der Phantasie, narrative Konstruktion der Einheit von Immanenz und Transzendenz, Darstellung der Erscheinung des Absoluten in Natur und Geschichte ist. Diese Systemkonkurrenz lässt die etablierten Offenbarungsreligionen nicht unberührt: »Das Xstenthum ist durchaus historische Religion, die aber in die Natürliche der Moral, und die Künstliche der Poesie, oder die Mythologie übergeht.« (III,667:607)[9] Von Mythologie kann Novalis sprechen, weil es um die Versinnlichung von Ideen geht, von ›neuer‹ Mythologie ist die Rede, insofern Erscheinung und Idee nicht zusammenfallen, sondern so aufeinander bezogen werden, dass die Erscheinungswelt zum Mittler, zum Symbol oder zur Allegorie wird. Das ist gemeint mit der anschaubaren Einheit von Erscheinungswelt und Idee in der stetigen Bewegung der Erscheinungen. Während die dichterischen Texte solche Epiphanien des Absoluten inszenieren, wird in der Europa-Rede die historische Religion, das Christentum, poetisiert oder, wenn man so will, romantisiert: Seine Entwicklung, insbesondere die Entstehung des Konfessionsgegensatzes, wird gedeutet als Prozess der Herausbildung einer neuen, frühromantischen Mittlerreligion, die Vernunft und Offenbarung sowie die transzendentalphilosophische Sicherung der Subjektautonomie und die Möglichkeit der Heiligung der gesamten Erscheinungswelt vereinbaren will. Das aber sind die Grundstrukturen der frühromantischen Poesie. An ihnen muss sich messen lassen, was als Religion will auftreten können. Nach der Überzeugung der Frühromantiker kann das Christentum sich daran messen, insofern es sich selbst als die ›ausgezeichnete‹ Mittlerreligion verstehen lässt. Dennoch gilt die selbstbewusste Vermischte Bemerkung Nr. 108: »Wenn der Geist heiligt, so ist jedes ächte Buch Bibel.« (II,462:108) Das ist die Rechtfertigung der frühromantischen Kunstreligion.

 54

Frühromantisches Europa

Die Frühromantiker verfügten also über den Begriff einer kulturellen und politisch-geschichtlichen Einheit Europas.[10] Dieser Europa-Begriff der Frühromantik ist erstens ein dynamischer Begriff, in den sowohl deskriptive wie normative Elemente eingehen. ›Europa‹ bezeichnet in dieser Hinsicht eine seit Jahrhunderten andauernde Bildungsgeschichte, aber auch ein noch zu realisierendes Kulturideal: »[D]as eigentliche Europa muß erst noch entstehen«[11], schreibt Friedrich Schlegel in seiner Zeitschrift Europa. In Hardenbergs Europa-Rede hatte dieser Gedanke in dem Grundmodell »fortschreitender, sich vergrößernder Evolutionen« seinen Ausdruck gefunden. Das Konzept ›Europa‹ ist zweitens Ausdruck des Bewusstseins, der ›Moderne‹ anzugehören. ›Europa‹ und ›Moderne‹ gehören im Selbstverständnis der Frühromantiker so eng zusammen, dass sie fast Synonyme sind. Hinzu kommt drittens das Bewusstsein, in einem christlichen Zeitalter zu leben. Das Christentum oder – allgemeiner – die Religiosität, die damit gemeint war, steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Offenbarungsreligion, denn sie ergibt sich aus einer Reflexion über deren historische Erscheinungsform und seine Funktion: Hervorgehoben werden von den Frühromantikern die nur ›symbolische‹ – auf künftige Erscheinungsformen verweisende – Gestalt, die Funktion der Stiftung kultureller Kohärenz und, als spezifische Leistungen der christlichen Religion, die Verknüpfung von Immanenz und Transzendenz, die Verinnerlichung, Individualisierung und Pluralisierung des Gottesbegriffs und das Bewusstsein des unendlichen Wertes der Person.

Das frühromantische Konzept eines im Werden befindlichen, modernen, christlichen Europa ergibt sich weniger aus dem, was als Nicht-Europa von ihm abgegrenzt wird, als daraus, dass es als moderne Antwort auf Probleme der Moderne entworfen wird. Dieser selbstreflexive Charakter des frühromantischen Europa-Konzepts ist selbst das wichtigste Zeichen dafür, dass es in die Moderne gehört.

Das neuartige Zeitbewusstsein der romantischen Generation ist geprägt durch die Erfahrung einer Beschleunigung des Erfahrungswandels, der als irreversibel und damit als Signum der Moderne erfahren wird. Diese Grunderfahrung verbindet sich mit einem »Führungswechsel der Zeithorizonte«[12]: Die Gegenwart ist nicht mehr (oder doch erst in zweiter Linie) Endpunkt der Vergangenheit, sondern Ausgangspunkt für eine prozessual offene und tendenziell unabschließbare Zukunft. Durch diese Zeiterfahrung sind in Form einer selbstbezüglichen offenen Prozessualisierung alle Kategorien geprägt, die im Zuge der frühromantischen Selbstverständigung über Europa entwickelt werden. Die Historisierung des Denkens ist in der Frühromantik, stärker als zuvor und danach, in erster Linie Ausdruck einer durch die Interessen der Gegenwart geleiteten Dynamisierung.

 55

»Europa ist das Land der Mannigfaltigkeit und Veränderlichkeit, der Bildsamkeit und Künstlichkeit«, resümiert Friedrich Schlegel in seinen Allgemeinen Bemerkungen über Europa und bringt diesen Gedanken auf einen Begriff, den der »Perfektibilität von Europa«[13]. Diese geschichtsphilosophische Denkfigur zeigt sich nirgends deutlicher als in der Idee vom Goldenen Zeitalter. Die Europavisionen der Frühromantiker, besonders deutlich ist dies in Hardenbergs Europa-Rede, sind Konkretionen dieser Utopie eines wiederkehrenden Goldenen Zeitalters.

Mit diesem Grundzug einer selbstreflexiven offenen Prozessualisierung reagiert die Frühromantik auf unterschiedliche Modernisierungsschübe. Diese werden als notwendige, aber sowohl chancenreiche als auch problematische Entwicklungen verstanden, die die gegenwärtige Krisensituation heraufbeschworen haben. Diese Krise ist aus frühromantischer Sicht zugleich Kairos: Europa findet zu sich selbst bzw. wird dazu aufgerufen, dies zu tun.

Aus der Sicht der Frühromantik ist dieses Europa um 1800 Produkt einer Ausdifferenzierung politischer, wissenschaftlicher, religiöser und ästhetischer Diskurse. Die Modernisierungsschübe, auf die die Frühromantiker reagieren und die auch ihre Sicht auf die Französische Revolution prägen, ergeben sich aus der Verzeitlichung und Ausdifferenzierung; sie sind aber unterschiedlicher Art und liegen auf unterschiedlichen Feldern der Kultur. Zu den wichtigsten Themen gehören die Legitimation politischer Herrschaft, die Frage einer angemessenen Konzeption von Natur und (Natur-)Wissenschaft, die Folgen der Säkularisierung und die Funktion der Kunst. Mit ihrer Konzeption des offenen Kunstwerks und der unendlichen Hermeneutik hat die Frühromantik zur Ausdifferenzierung des Teilsystems Kunst entscheidend beigetragen.

Die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche wird einerseits unter den Oberbegriffen der ›Bildung‹ und der Subjektautonomie positiv bewertet. Andererseits wird die ›Differenzierung‹ (Trennung) von als zusammengehörig geltenden Bereichen der Kultur als Problem erfahren.

Darauf reagieren die Frühromantiker mit der Forderung nach einer umfassenden kulturellen Erneuerung, die als unabschließbare Zusammenführung des Getrennten konzipiert wird. Darin liegt der Dreh- und Angelpunkt des frühromantischen Europa-Konzepts: die progressive Universalität Europas.

 56

Fazit und offene Fragen

Blickt man von heute aus auf dieses Konzept zurück und verbindet damit die Frage nach dem Werte- und Normwandel, so lassen sich vier Aspekte festhalten:

Die frühromantischen Überlegungen zu Wert- und Normfragen sind, nicht nur in Hardenbergs Europa-Rede, eng mit Europa verbunden, d.h. sie werden als in Europa entwickelte Konzepte mit universalem Anspruch verstanden.

Das frühromantische Europa lässt sich in politisch-moralischer Hinsicht – schlagwortartig – charakterisieren als ideengesteuert, antimaterialistisch und nicht kapitalistisch-marktwirtschaftlich organisiert. Im Hintergrund steht die feste Überzeugung, dass sich Einzelstaaten und ein Staatenverbund primär auf der Grundlage eines ›Gemeingeistes‹ fundieren lassen. Die naturrechtliche Anerkennung eines prinzipiellen Bruchs zwischen Einzelinteresse und Gemeinwille wird ausdrücklich zurückgewiesen. Von dieser Position aus führt schwerlich ein Weg in den heutigen Pluralismus mit seiner Trennung von Staat und Gesellschaft. Andererseits darf man sich als heutiger Europäer, im Blick auf die jüngste Vergangenheit, aber auch die nähere Zukunft, fragen, ob eine rein wirtschaftsliberale Begründung der EU von den Bürgern (und Politikern) dieses Kontinents als hinreichendes politisches Motiv für die Einigung angesehen wird. – Die frühromantische Orientierung an Werten (Ideen) führt außerdem zu einer Vernachlässigung der Frage der politisch-rechtlichen Organisation. Schärfer formuliert: Die demokratische Partizipation von Massen gehört nicht zum frühromantischen Europa-Konzept und Wertehorizont. (Bemerkenswerterweise hat auch die EU an dieser Stelle bis heute – allerdings jetzt wider besseren Wissens – ein fundamentales Demokratiedefizit.) Aus der Definition Europas primär als Wertegemeinschaft ergeben sich jedoch auch andere, aus heutiger Sicht weniger ›defizitäre‹ Aspekte: Das frühromantische Europa wird nicht geopolitisch, nicht nach dem Konzept eines Bundes von Nationen, und auch nicht als supranationaler Staat, sondern eben als Werte- und Kulturgemeinschaft definiert, dies wiederum geschieht primär nicht in Abgrenzung gegenüber anderen Kulturen, sondern gegenüber der eigenen Vergangenheit.

 57

Die grundlegende Eigenschaft des frühromantischen Europa ist die unendliche Progressivität, das Bewusstsein des permanenten Normwandels. Das frühromantische Europa ist der Kontinent der Renaissancen, Reformationen und Revolutionen. Die sog. ›positiven Formen‹ in Religion, Politik, Wissenschaft, Kunst und Leben haben dem Rechnung zu tragen und diesen Wandel zu ermöglichen. Nur unter dieser Voraussetzung gehen nach frühromantischer Überzeugung Subjektautonomie und Vergesellschaftung bzw. ›Gemeinschaftsbildung‹ zusammen. Dieses Prinzip der selbstbezüglichen unendlichen Progressivität oder der Perfektibilität hat im Kontext der Aufklärung bekanntlich noch einen weiteren Namen, der auch sehr präzise benennt, was Novalis mit Europa verbindet, was er selbst in seiner Rede tut und wozu er aufruft: Es ist das Prinzip der (Selbst-)Kritik.

Die frühromantische Bezeichnung für diesen transzendentalen, die Bedingungen der Möglichkeit »ächter Freiheit« sichernden Rahmen lautet ›Religion‹. Dabei spielt das Christentum einerseits eine besondere Rolle, andererseits wird eine Vorstellung von religiösem Pluralismus entwickelt, bei dem sogar die Kunst an die Stelle der Religion treten kann. Zu diesem religiösen Wertehorizont der Frühromantik bzw. der Europa-Rede kurz einige Kommentare:

Zunächst ist auf einige enttäuschte Erwartungen hinzuweisen: Die Hoffnung, das Papsttum und mit ihm die katholische Kirche in ihrer überlieferten Form seien am Ende, erwies sich als trügerisch. Im heutigen Europa gibt es nicht nur keine christliche Einheitskirche, sondern es sind alle Religionen präsent. ›Europa‹ bedeutet heute Vielfalt der Religionen. Nicht erfüllt hat sich außerdem die Hoffnung auf eine ›Physik‹, d.h. eine Naturlehre, die ›Geist‹ und ›Materie‹ wieder vereint und damit ›religiöse Erfahrung‹ wissenschaftlich rehabilitiert.

Die besondere Wertschätzung des Christentums und der religiöse Pluralismus stehen in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander. Kriterium für die Wertschätzung ist die Trennung von Immanenz und Transzendenz. Europa ist in dieser Sicht der Kontinent der Entdeckung fundamentaler Dualität (zwei Welten, zwei Reiche, Gott und Welt, Offenbarung und Vernunft, Geist und Materie, Glauben und Wissen, Kirche und Staat u.a.m.). Diese Dualität wirkt idealiter als produktive Spannung, d.h. sie schafft den Spielraum für eine Mittlerreligion und damit Subjektautonomie. Es ist fraglich, inwieweit die Frühromantiker diese Struktur auch dem Islam und dem Judentum oder gar den nicht-monotheistischen Religionen zugebilligt haben. Man wird wohl sagen dürfen: Lessings Ringparabel, wonach der Wert einer Religion – oder doch der drei Offenbarungsreligionen – sich daran erweise, welche zu einer besseren moralischen Praxis führe, gilt hier so nicht.

Man muss Hardenbergs Meinung, nur die Religion sei Garant für eine Verbindung von Freiheit und Gleichheit und damit für einen »ewigen Frieden«, nicht teilen. Aus heutiger, zumal aktueller Sicht, leuchtet spontan eher das Gegenteil ein. Allerdings sind fundamentalistische Strömungen aus Hardenbergs Religionsbegriff gerade ausgeschlossen. Wichtiger ist vielleicht etwas anderes: Hardenbergs Begriff der Religion ist so offen, dass er im Kern eigentlich nur noch ein Prinzip der Vermittlung von Einzelnem und Allgemeinem, von Endlichem und Unendlichem, Ding und Unbedingtem, Immanenz und Transzendenz, Empirischem und Absolutem bezeichnet. Das »vereinigende[…], universalisirende Prinzip[…]« (III,512), auf das es Hardenberg in der Europa-Rede ankommt, wird in modernen Staaten nicht mehr durch die Religion verkörpert und garantiert, sondern durch das Recht, genauer gesagt durch eine Rechtskultur, die sich auf die Menschenrechte gründet. Allerdings ist und bleibt auch das hier zugrunde liegende bürgerlich-liberale Modell der wechselseitigen Anerkennung freier Subjekte jeder Erfahrung bzw. jeden ›Beweises‹ entzogen; es ist eine regulative Idee der Vernunft, ein Postulat. Und man könnte die Frage anschließen, ob und inwieweit sich das Funktionieren westlicher Staaten nicht immer noch religiösen Restbeständen verdankt, Milieus, in denen, gewissermaßen kontrafaktisch, Gemeingeist als Postulat praktiziert und eingeübt wird. Jedenfalls hat Europa mit ganz und gar säkularisierten westlich-modernen Staaten noch keine Erfahrung.

Novalis’ Europa-Rede ist, so kann man resümieren, vor allem mit ihren Antworten, manchen falschen Freunden ferner, und, vor allem im Problembestand, vielen Verächtern und vielleicht auch unbefangenen heutigen Lesern näher als gedacht.

 58

Literaturverzeichnis

Kasperowski, Ira: Mittelalterrezeption im Werk des Novalis, Tübingen 1994.

Kondylis, Panajotis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, München 1986.

Lovejoy, Arthur O.: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens [1933], Frankfurt/M. 1993.

Luhmann, Niklas: Weltzeit und Systemgeschichte. Über Beziehungen zwischen Zeithorizonten und sozialen Strukturen gesellschaftlicher Systeme, in: Hans Michael Baumgartner u.a. (Hg.), Seminar: Geschichte und Theorie. Umrisse einer Historik, Frankfurt/M. 1976, S. 337–387.

Lützeler, Paul Michael: Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart, München/Zürich 1992.

Lützeler, Paul Michael (Hg.): Europa. Analysen und Visionen der Romantiker, Frankfurt/M. 1982.

Mähl, Hans-Joachim: Utopie und Geschichte in Novalis’ Rede Die Christenheit oder Europa, in: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 52 (1992), S. 1–16.

Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz, 3., nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Aufl. in vier Bänden mit einem Begleitband, Stuttgart 1977 ff.

Schlegel, Friedrich: Allgemeine Bemerkungen über Europa, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Hans Eichner und Jean-Jacques Anstett. Bd. 11: Wissenschaft der europäischen Literatur. Vorlesungen, Aufsätze und Fragmente aus der Zeit von 1795–1804. Mit einer Einleitung und Kommentar hg. von Ernst Behler, München/Paderborn/Wien 1958, S. 15–18.

Schlegel, Friedrich: Reise nach Frankreich, in: Europa. Eine Zeitschrift. Erster Band (1803), S. 5–40.

Schmale, Wolfgang: Geschichte Europas, Wien/Köln/Weimar 2001.

Schulz, Gerhard: »An die Geschichte verweise ich Euch«. Novalis’ Die Christenheit oder Europa zweihundert Jahre später, in: Mitteilungen der Internationalen Novalis-Gesellschaft 4 (2002), S. 9–23.

Stockinger, Ludwig: Die Christenheit oder Europa – eine Lektüre nach 200 Jahren, in: Mitteilungen der Internationalen Novalis-Gesellschaft 4 (2002), S. 25–43.

Stockinger, Ludwig: »Es ist Zeit«. Kairosbewußtsein der Frühromantiker um 1800, in: Manfred Jakubowski-Tiessen u.a. (Hg.): Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 277–302.

Stockinger, Ludwig: Die Auseinandersetzung der Romantiker mit der Aufklärung, in: Helmut Schanze (Hg.), Romantik-Handbuch, Stuttgart 1994, S. 79–105.

Stockinger, Ludwig: »Tropen und Räthselsprache«. Esoterik und Öffentlichkeit bei Friedrich von Hardenberg (Novalis), in: Klaus-Detlef Müller u.a. (Hg.), Geschichtlichkeit und Aktualität. Studien zur deutschen Literatur seit der Romantik. Festschrift für Hans-Joachim Mähl zum 65. Geburtstag, Tübingen 1988, S. 182–206.

Uerlings, Herbert: Das Europa der Romantik. Novalis, Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Manzoni, in: Blütenstaub. Jahrbuch für Frühromantik 1 (2007), S. 45–80.

Uerlings, Herbert: Novalis (Friedrich von Hardenberg), Stuttgart 1998.

 59

[*] Herbert Uerlings, Prof. Dr., Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Universität Trier.

[1] Schulz, »Geschichte« 2002, S. 9. – Zur Deutung der Rede in der neueren Novalis-Forschung vgl. neben der Arbeit von Kasperowski, Mittelalterrezeption 1994, vor allem: Mähl, Utopie 1992, Stockinger, »Zeit« 1999, Stockinger, Christenheit 2002, Uerlings, Novalis 1998, S. 93–117. Für eine Überblicksdarstellung vgl. zuletzt Uerlings, Europa 2007.

[2] Vgl. Lützeler, Schriftsteller 1992, S. 13 f.: »Hier setzte die intensive essayistische Auseinandersetzung deutschsprachiger Autoren mit dem Europa-Thema ein, und auf keine andere vergleichbare Studie wird während der folgenden 200 Jahre in den Europa-Essays deutschsprachiger Schriftsteller so häufig zurückgegriffen. Novalis’ Rede ist durch ihre vielfältige Rezeption mit Zustimmung und Ablehnung, Affirmation und Kontroverse zu so etwas wie einem Leuchtturm im Meer deutschsprachiger Europa-Essays geworden: Die einen steuern auf ihn los, weil er rettende Ufer verspricht; den anderen signalisiert er eine Gefahrenzone, von der man sich möglichst weit entfernt hält; und dritte halten ihn für ein Museumsstück, dessen Leuchten nur noch Unterhaltungswert besitzt.«

[3] Aus den Werken Friedrich von Hardenbergs wird im fortlaufenden Text nach dem Muster »(Bandzahl, Seite: Nr. einer Aufzeichnung)« zitiert nach der Ausgabe: Novalis, Schriften 1977 ff.

[4] Zur Aufnahme der Rede im Jenaer Freundeskreis vgl. die Einleitung von Richard Samuel (III, S. 497–506, hier S. 498 f.).

[5] Zu Hardenbergs Mittelalter-Bild und seiner Rezeption historischer Quellen wie der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft vgl. Kasperowski, Mittelalterrezeption 1994.

[6] Vgl. Vermischte Bemerkungen Nr. 73, N II,440–444.

[7] Stockinger, »Tropen und Räthselsprache« 1988, S. 206.

[8] Vgl. Lovejoy, Kette 1993, Kondylis, Aufklärung 1986, Stockinger, Auseinandersetzung 1994, S. 95–97.

[9] Vgl. die Aufzeichnungen »Über die mögliche Mythologie (Freyes Fabelthum) des Xstenthums, und seine Verwandlungen auf Erden« (III,666:604) und »In den Evangelien liegen die Grundzüge künftiger und höherer Evangelien« (III,669:609).

[10] Auf eine Darlegung der sehr langen Vorgeschichte dieses Begriffs wird hier ebenso verzichtet wie auf Ausführungen zu den Veränderungen nach 1800. Aus der Fülle der einschlägigen Literatur vgl. dazu Schmale, Geschichte 2001 und die Einleitung des Herausgebers in Lützeler, Europa 1982, S. 9–53.

[11] Schlegel, Reise 1803, S. 39.

[12] Luhmann, Weltzeit 1976, S. 370.

[13] Schlegel, Bemerkungen 1958, S. 17 f. – Die Allgemeinen Bemerkungen über Europa sind Teil der in Köln und Paris gehaltenen Vorlesungen zur »Geschichte der europäischen Literatur« (1803/04). Schlegel grenzt hier Europa von Asien ab. Dass andere Kontinente so gut wie nicht berücksichtigt werden, liegt an der Zentralstellung von Kunst und Literatur: Sie sind, nach Schlegels Meinung und Kenntnisstand, in nennenswerter Weise nur in Europa und Asien entwickelt, aber nicht in Amerika und Afrika. – Die von Friedrich Schlegel herausgegebene Zeitschrift Europa wäre eine gesonderte Betrachtung wert. Sie wird ihrem Titel nicht gerecht, und obwohl der Universalismus und Kosmopolitismus der Frühromantik nicht verschwinden, vertritt Friedrich Schlegel deutlich die Auffassung von einer (wünschenswerten) kulturellen und politischen Dominanz Deutschlands.

ZITIEREMPFEHLUNG

Herbert Uerlings , »Eine freie Verbindung selbständiger, selbstbestimmter Wesen«. Friedrich von Hardenbergs (Novalis) Europa-Rede, in: Kerstin Armborst / Wolf-Friedrich Schäufele (Hg.), Der Wert »Europa« und die Geschichte. Auf dem Weg zu einem europäischen Geschichtsbewusstsein, Mainz 2007-11-21 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft online 2), Abschnitt 46–59.
URL: <http://www.ieg-mainz.de/vieg-online-beihefte/02-2007.html>.
URN: <urn:nbn:de:0159-2008031319>.

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieses Aufsatzes hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein.
Beim Zitieren einer bestimmten Passage aus dem Aufsatz bitte zusätzlich die Nummer des Textabschnitts angeben, z.B. 47 oder 46–49.

Aram Mattioli *

Denkstil »christliches Abendland«. Eine Fallstudie zu Gonzague de Reynold

Gliederung:

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Zitierempfehlung

Text:

I.

»Europa« gehört nicht nur zu den vielen Chamäleonbegriffen der politisch-sozialen Sprache. Das Reden über »Europa« ist auch in einem hohen Maße diskursiv standardisiert.[1] Deshalb lassen sich die meisten Europa-Konzeptionen spezifischen Denkstilen zuordnen, die unter anderem abhängig sind von Milieuprägungen, Generationenzugehörigkeiten, Gegenwartserfahrungen und weltanschaulichen Grundhaltungen. Über Denkstil-Analysen lassen sich nicht nur Denkschemata und ihre impliziten wie expliziten Gegenwartsbezüge herauspräparieren, sondern müssen auch die spezifischen Zeiterfahrungen der sie tragenden Denkkollektive in den Blick geraten. Wenn im Folgenden die Europa-Konzeption des Freiburger Kulturhistorikers Gonzague de Reynold (1880–1970) thematisiert wird, interessiert diese also nicht als unverwechselbare und schon gar nicht als originelle Denkleistung, sondern als rechtskatholische Variante eines wirkungsmächtigen Denkstils, der seine Blütezeit zwischen 1920 und 1960 hatte.

II.

In den Debatten um Europa rivalisierten noch in der Wirtschaftswunderwelt der 1950er-Jahre eine Reihe unterschiedlicher Konzepte miteinander. Die heute »so selbstverständliche Gleichsetzung von liberaler Demokratie, Pluralismus und ›Europa‹«[2], hat Vanessa Conze unlängst zu Recht bemerkt, war in den beiden ersten Nachkriegsjahrzehnten nur ein europäisches Projekt unter anderen. Nach den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges und seinen tief greifenden Folgen für den Kontinent galten zwar hegemoniale, faschistische und nationalsozialistische Europaideen wie die »Mitteleuropas«, der »Universalità di Roma« und der »Neuen Ordnung« als hoffnungslos diskreditiert, und über die rechtslastigen Projekte des »Reiches« und der Donauföderation war die Zeit hinweggegangen.[3] Eine erstaunliche Lebenskraft legte dagegen auch nach 1945 die bereits in der Romantik als Kritik an der entstehenden Fabrik- und Maschinenwelt erfundene Abendland-Idee an den Tag. Bis um das Jahr 1960 war das »zu erneuernde und bedrohte ›christliche Abendland‹«[4] ein inflationär beschworener Topos, und zwar nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, der Republik Österreich und der Schweiz, sondern – was in der deutschsprachigen Forschung zumeist zu wenig berücksichtigt wird – auch in Frankreich, Belgien, Italien und auf der iberischen Halbinsel.

 60

Obwohl das Zauberwort »Abendland« im heraufziehenden Kalten Krieg sehr Unterschiedliches bedeuten konnte und es keineswegs bloß in den Schriften konservativer und katholischer Akademiker auftauchte[5], handelte es sich doch um einen Denkstil[6], der vor allem in rechtskatholischen, häufig der Amtskirche und der hohen Politik nahe stehenden Bildungsmilieus verbreitet war.[7] »Christliches Abendland« stand im antiliberalen Denkstil konservativer Katholiken für die gemeinsamen kulturellen Wurzeln der West-, Mittel- und Südeuropäer in einem ideal gedachten Hochmittelalter. Die streng konservativen Abendländer, unter denen sich auffällig viele Akademiker, Politiker und Offiziere adliger Herkunft fanden, bauten nach 1945 ein auf Öffentlichkeit zielendes konservatives Netzwerk aus, zu dem Zeitschriften (»Neues Abendland«), Akademien und Organisationen wie das Centre Européen de Documentation et Information (CEDI) gehörten. Das 1952 auf Anregung des späteren Franco-Ministers Alfredo Sánchez Bella gegründete CEDI, dem bis 1960 Otto von Habsburg als Ehrenpräsident vorstand, betätigte sich als politische Lobby für das von Caudillo Francisco Franco mit eiserner Faust regierte Spanien. Viele Mitglieder des CEDI sahen in Francos Diktatur ein Regime, in dem viele Elemente einer wahrhaft christlichen Gesellschaft verwirklicht waren.[8] Das von Antonio de Oliveira Salazar autoritär regierte Portugal hielten einige von ihnen für den »bestregierten Staat Europas«. Eine ähnliche Haltung legte auch Papst Pius XII. an den Tag, der autoritäre Diktaturen in katholischen Ländern wie Portugal, Spanien und Brasilien keineswegs ablehnte, sondern sie nur schon ihres militanten Antikommunismus wegen schätzte und zur Wertegemeinschaft des »christlichen Abendlandes« zählte.[9]

 61

Ein idealtypischer Vertreter des abendländischen Denkstils und rechtskatholischen Denkkollektivs war der Aristokrat Gonzague de Reynold, der von 1931 bis 1950 an der Universität Fribourg »Histoire des civilisations« lehrte. Erstaunlicherweise ist dieser wirkungsmächtige Historiker, dessen Werke in den katholischen Bildungsmilieus Westeuropas bis in die 1960er Jahre über alle Sprachgrenzen hinaus intensiv gelesen und rezipiert wurden, heute fast vollständig vergessen. De Reynold galt im Jahrzehnt, als der europäische Integrationsprozess mit der Gründung des Europarates (1949) und der Unterzeichnung der »Römischen Verträge« (1957) seinen Anfang nahm, als einer der führenden Europa-Historiker weltweit.[10] Der konservative Kulturhistoriker verdankte sein internationales Renommee dem sieben Bände umfassenden Monumentalwerk »La Formation de l’Europe«, das seit 1944 auf Französisch und wenig später auch in einer gekürzten spanischen Übersetzung erschien.

Schon der schiere Umfang seines Hauptwerkes, aber auch dessen klassisch-humanistische und katholische Grundierung verschafften Gonzague de Reynold im Europadiskurs des Kalten Krieges eine herausgehobene Stellung. Noch 1959 legte der Freiburger Professor anlässlich der Salzburger Hochschulwochen als Experte für das Abendland-Thema seine Ansichten zu den kulturellen Grundlagen Europas und den Zukunftsaussichten der europäischen Integration dar.[11] Bekannte Persönlichkeiten wie der französische Außenminister Robert Schuman, der Kaisersohn Otto von Habsburg und der Politologe André Siegfried verehrten de Reynold als bedeutenden Denker. 1955 bekannte Robert Schuman, immerhin einer der Gründerväter des modernen Europa, dass die geistige Begegnung mit dessen Opus magnum entscheidend für sein wachendes europäisches Engagement gewesen sei.[12] Für das Jahr 1957 schlug die Universität Fribourg ihren Emeritus der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften sogar für den Literaturnobelpreis vor. Bezeichnenderweise begründete der Dekan der Philosophisch-Historischen Fakultät de Reynolds Nominierung damit, dass sich dieser mit »La Formation de l’Europe« zum Verteidiger der »abendländischen Kultur« aufgeschwungen und sich zu einem beredten Anwalt eines föderalistischen Europas gemacht habe.[13]

 62

III.

Kaum einer seiner zahlreichen Bewunderer störte sich im Kalten Krieg noch daran, dass der 1880 geborene Nobelpreisanwärter zwanzig Jahre zuvor als einer der Meisterdenker der autoritären Rechten von sich reden gemacht und dass seine Europa-Konzeption lange Zeit im Dienste einer antidemokratischen Gegenutopie gestanden hatte.[14] Zum Ärger des Establishments in der demokratischen Schweiz hatte sich schon der junge Gonzague de Reynold darin gefallen, seine Welthaltung als die eines »Reaktionärs«[15] zu umschreiben. Freilich gaben ihm die katholisch-aristokratischen Milieueinflüsse seiner Jugend den Horizont vor, an dem er die Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts maß. Als kleinem Landadligen blieb ihm die industrielle Zivilisation stets genauso fremd wie die Aufklärung und der aufklärerische Geist der Moderne, die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie. Die fortschreitende Säkularisierung der Welt empfand er als Abfall von der göttlichen Schöpfungsordnung und die Demokratisierung des politischen Lebens als Verstoß gegen die natürliche Ungleichheit der Menschen. Gonzague de Reynold blieb zeitlebens ein Repräsentant jener vorindustriellen Eliten, die sich der Moderne aus innerster Überzeugung verweigerten und dem beschleunigten sozialen Wandel einen traditionalistisch motivierten Widerstand entgegensetzten.[16]

Wie andere Abendländer seiner Generation sehnte er in der Zeit der Weltkriege eine umfassende Rechristianisierung Europas herbei. Parallel dazu entwickelte er starke Sympathien für die faschistische Diktatur in Italien und begann Benito Mussolini, von dem er 1927 das erste Mal in Privataudienz empfangen wurde, wie zahlreiche Konservative als bedeutenden Staatsmann zu verehren. Als er 1929 das politische Manifest »La Démocratie et la Suisse. Essay d’une philosophie de notre histoire nationale« veröffentlichte, stellte ein überparteiliches Komitee im Kanton Bern offen die Frage, ob Gonzague de Reynold mit seinen systemfeindlichen Überzeugungen an einer Universität eines demokratischen Landes weiter tragbar sei. Nach seiner Berufung nach Fribourg machte er sich in den dreißiger Jahren einen Namen als wirkungsmächtigster Vordenker der »nationalen Revolution« in der Schweiz. Im Windschatten der antidemokratischen Machtergreifungen in Europa plädierte er offen für eine autoritäre Umgestaltung der Schweiz.[17]

Wie vielen anderen Abendländern war ihm der »Estado novo«, dem er in seinem 1936 erschienenen (und zwei Jahre später ins Deutsche übersetzten) Buch »Portugal« ein Denkmal setzte, Vorbild und Inspirationsquelle. In dem von Antonio de Oliveira Salazar autoritär regierten Land fand er das, wonach er jahrelang gesucht hatte: den Idealtyp des »Etat chrétien«. Der Lissaboner Machthaber, der seine Untertanen mit eiserner Faust regierte, hätte von Gonzague de Reynold kein größeres Lob erhalten können als die ernst gemeinte Empfehlung, dass die Nationen Europas gut daran täten, sich möglichst rasch zu »portugalisieren«.[18] Durch und durch katholischer Aristokrat, der in den Kulturtraditionen des französischen Ancien Régime verwurzelt war, konnte er dagegen mit dem totalitären, völkischen, plebejischen und kirchenfeindlichen »Dritten Reich« nur wenig anfangen.[19]

 63

Die Europa-Konzeption des Freiburger Professors, der die Schweiz zwischen 1922 und 1938 in der prestigereichen Völkerbundskommission für intellektuelle Zusammenarbeit vertrat, stand von Anfang an im Dienste seiner Gegenwartsüberzeugungen. Ihre argumentative Kraft bezog sie aus einem kulturkritischen Krisendiskurs, in dem die Behauptung zentral war, dass die moderne europäische Kultur dekadent und in ihrer gegenwärtigen Form nicht zukunftsfähig sei. Bereits im Sommer 1925 hatte er in der Wiener Wochenzeitschrift »Das Neue Reich« eine kleinere Abhandlung unter dem Titel »Zum Problem: Untergang des Abendlandes« erscheinen lassen, in der er die in Oswald Spenglers Bestseller entwickelten Thesen bestätigte.[20] Unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise faßte er seine kulturpessimistischen Gegenwartsdiagnosen im Kultbuch »L’Europe tragique«, das 1934 bei »Spes« in Paris erschien, systematisch zusammen. Darin variierte er das Bild vom »verwundeten, dem kranken, dem blutenden und schmerzgequälten Europa«[21], das untergehen werde, weil sich die liberale Zivilisation gänzlich erschöpft habe. Am Horizont würden sich bereits die Konturen einer »neuen Welt« abzeichnen, in denen christliche Monarchien und andere autoritäre Systeme das Sagen haben würden. In dieser »neuen Welt« sei kein Platz mehr für Demokratien. Selbst die Schweiz müsse, wenn sie nicht im Strudel der Weltereignisse untergehen wolle, zu ihren »wahren Traditionen« zurückfinden, endlich ihre demokratische Staatsform überwinden und zu einem autoritären Regime werden, an dessen Spitze ein diktatorisch regierender Landammann stehe.[22]

Mit seinen Endzeitvisionen übte Gonzague de Reynold eine Fundamentalkritik am modernen Europa, das seit der Französischen Revolution auf eine abschüssige Bahn geraten und seiner »wahren Mission« untreu geworden sei. Für ihn bestand die Sendung Europas darin, auf der Grundlage seines antiken und christlich-humanistischen Kulturerbes wieder so zu erstarken, damit es in der Welt erneut jene Führungsrolle übernehmen könne, die der Kontinent nach dem Ersten Weltkrieg an die USA und die Sowjetunion verloren hätte. In der spätkolonialen Welt gehörte de Reynold zu jenem Kreis von Politikern, Gelehrten und Intellektuellen, die noch immer an die Möglichkeit und Wünschbarkeit europäischer Überlegenheit über die restliche Welt glaubten.[23] Europa für den Mittelpunkt der Welt haltend, wandte er sich nicht nur gegen eine fortschreitende Amerikanisierung der Kultur, sondern warnte auch vor der »Schwäche des durch den Kommunismus angefaulten Europa«[24]. Die Sowjetunion, dieser Inbegriff von »Anti-Europa«[25], verkörperte für ihn alles, was ihm an der Moderne verhasst war: den Werterelativismus und die um sich greifende »Gottlosigkeit«, die »Vermassung« der Gesellschaft, die Zerstörung der Familie durch die Emanzipation der Frau und die Infragestellung von überlieferten Hierarchien.

 64

Wie andere rechtskatholische Intellektuelle der Zeit redete Gonzague de Reynold seit Mitte der zwanziger Jahre von einer abendländisch-christlichen Reichsvision. Im Mittelalter sei die Einheit Europas im fränkischen Großreich Karls des Großen und später im Heiligen Römischen Reich bereits einmal modellhaft verwirklicht gewesen.[26] Diese Reiche mit ihren von den Päpsten in Rom gekrönten Kaisern faszinierten ihn nicht nur als monarchisch-ständische und christlich geprägte Gebilde. In ihren Bann schlug ihn die staufische Universalmonarchie des frühen 13. Jahrhunderts auch ihres vor- und transnationalen Charakters wegen. Als lockerer Dachverband hatte das Heilige Römische Reich unterschiedliche Territorien diesseits und jenseits der Alpen überwölbt und germanische und romanische Völker gleichermaßen umfasst. Trotz reichsrechtlich vorgegebener Rahmenbedingungen ließ es eine landesherrliche Autonomie und ein starkes Eigenleben in den einzelnen Territorien zu. In dessen gleichermaßen hierarchischer wie föderalistischer, christlicher wie korporativer Grundarchitektur sah er ein zeitloses Modell europäischen Zusammenlebens und eine vorbildliche Friedensordnung verwirklicht. Bezeichnenderweise spielte das Byzantinische Reich, wie es bis zur Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen (1453) im östlichen Mittelmeerraum existiert hatte, in seinem ganz den Traditionen der Westkirche verpflichteten Denkstil keine Rolle.

Seit 1926 verklärte Gonzague de Reynold das Heilige Römische Reich zur historisch erprobten und zeitlos gültigen Form europäischer Einheit schlechthin. Im christlichen Universalreich des frühen 13. Jahrhunderts schien ihm eine ideale europäische Völkergemeinschaft vorgebildet, an dem sich – zeitgenössisch aktualisiert – auch die künftige europäische Ordnung orientieren sollte.[27] In seinem Buch »Die Tragik Europas« aus dem Jahr 1935, das im »Dritten Reich« bald nach dessen Erscheinen verboten wurde, brachte er den Satz zu Papier: »Am nötigsten wäre, dass wir einen Karl den Großen mitsamt seinem Reich wiederfänden.«[28] So diffus und versponnen seine Reichsvision blieb, so unübersehbar war, dass er eine autoritär-elitäre Europa-Konzeption verfolgte, die als Grundsatzkritik am aktuellen Zustand des Kontinents verstanden werden wollte. Mit seiner antiliberalen Antiutopie entfaltete er vor dem Zweiten Weltkrieg in den rechtskatholischen Kreisen Frankreichs, Österreichs und Belgiens die größte Wirkung. Zeitweise stieß sie auch im faschistischen Italien auf Interesse.

 65

In der Woche vom 14. bis zum 20. November 1932 veranstaltete die Reale Accademia d’Italia in Rom einen »Convegno Volta« zu Europa. Als Teilnehmer lud das Regime führende Repräsentanten der Rechten in die »ewige Stadt« ein. Im Rahmen der aufwändig in Szene gesetzten 10-Jahresfeierlichkeiten des »Marschs auf Rom« nahmen am Anlass so unterschiedliche Politiker, Gelehrte und Intellektuelle wie Gugliemo Marconi, Hermann Göring, Robert Michels, Alfred Rosenberg, Francesco Orestano, Hjalmar Schacht, Alfred Weber, Pierre Gaxotte, Daniel Halévy, Karl Anton Prinz von Rohan, Stefan Zweig, William Martin und Gonzague de Reynold teil. Der »Convegno Volta« wuchs sich nicht nur zu einer Sympathiekundgebung für das faschistische Regime in Italien aus, sondern verdient auch als späte Reaktion auf die Europa-Initiative von Aristide Briand Beachtung.

Im September 1929 hatte Frankreichs Außenminister vor dem Völkerbundsplenum für die Völker Europas eine »Art föderatives Band« angeregt. Wenige Monate danach hatte Briand, der auch Ehrenpräsident der 1923 gegründeten Paneuropa-Bewegung war, in einem Memorandum die Schaffung einer »Union fédérale européenne« vorgeschlagen. Diese »föderale europäische Union« wollte die einzelstaatliche Souveränität nicht antasten, aber im Blick auf einen dauerhaften Frieden in Europa die Zusammenarbeit der Staaten in Wirtschafts-, Bildungs-, Migrations-, Verkehrs- und Kommunikationsfragen intensivieren.[29] Briands Europaprojekt kam zur Unzeit. Die Weltwirtschaftskrise, die durch sie angestachelten nationalen Egoismen und die Machtübertragung an Adolf Hitler bereiteten jeder Form von supranationaler Verständigungspolitik ein Begräbnis erster Klasse.

Seit 1932 zu einer aktiven Außenpolitik entschlossen, wollte Benito Mussolini das Feld europapolitischer Initiativen nicht den demokratischen Staaten überlassen.[30] Im prächtigen Cäsarensaal auf dem Kapitol gab der »Duce« am 14. November 1932 dem Wunsch Ausdruck, dass der »Convegno Volta« auch Auswirkungen auf die internationale Politik haben möge. Tatsächlich verwandelte sich der Kongress in eine politische Diskussion über das gegenwärtige und zukünftige Europa.[31] Über den Debatten schwebte die Frage, ob und wie das faschistische Italien eine Vorreiterrolle auf dem alten Kontinent übernehmen könnte.[32]

 66

Nicht wissenschaftlich, sondern politisch bezog auch Gonzague de Reynold Stellung. Bereits in der ersten Sitzung des »Convegno Volta« trug er seine Überlegungen über »L’Europe comme unité« vor. De Reynolds Ansprache verstand sich als Beitrag zur Frage, wie eine »neue europäische Ordnung« geschaffen werde könne. Allerdings blieben seine Überlegungen weit hinter den selbst geweckten Erwartungen zurück. In seiner Rede erteilte er nicht nur liberalen Europaideen eine Absage, sondern auch dem Paneuropa-Konzept von Richard Coudenhove-Kalergi.[33] Ein »Europe unifiée«, das sich am Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika oder dem des schweizerischen Bundesstaates orientiere, sei weder möglich noch wünschbar. Vielfalt und Komplexität würde den Charakter der europäischen Zivilisation ausmachen. Überdies bildeten die »Vaterländer« das konstitutive Element Europas, und diese »Vaterländer« bräuchten Unabhängigkeit, Souveränität und Grenzen.[34] Unter dem Beifall der Teilnehmer redete er einem »Europa der Vaterländer« das Wort. Der Freiburger Homme de lettres konnte sich Europa in den dreißiger Jahren nur als locker gefügte Interessengemeinschaft von souveränen Nationalstaaten denken. Ihr primärer Zweck müsse die Bewahrung des Friedens sein. Angesichts der nach 1935 ständig steigenden Kriegsgefahr war dies immerhin etwas.

Seit der deutschen Niederlage bei Stalingrad begann auch Gonzague de Reynold, sich mit der Nachkriegsordnung zu beschäftigen. Bezeichnenderweise war für ihn ein Neubau nur unter der Bedingung möglich, dass Europa zu seinen »wahren Traditionen« zurückkehre. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte de Reynold innerlich auf der Seite der Achsenmächte gestanden, von denen er annahm, dass sie einem neuen autoritären Zeitalter zum Durchbruch verhelfen würden. Zwar hatte er mit der nationalsozialistischen Idee einer »Neuordnung Europas« und dem sich dahinter verbergenden rassistischen Hegemonialkonzept nie viel anfangen können. Doch bis weit ins Jahr 1942 hatte er in der Wehrmacht einen Garanten gegen die »Bolschewisierung Europas« gesehen und sich von der bizarren Annahme leiten lassen, dass aus dem Ringen zwischen den Achsenmächten und den Alliierten schließlich der »Etat chrétien«, wie er von Salazar in Portugal und von Franco in Spanien begründet worden war, als dritter Weg die Oberhand gewänne. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr wurde er sich gewahr, dass er sich mit seinen Annahmen über den Gang der Weltgeschichte gründlich getäuscht hatte und die Nachkriegsordnung ganz anders aussehen würde, als er sie sich seit Jahren erträumt hatte.

 67

IV.

Unter dem Eindruck der Kriegswende gab Gonzague de Reynold seiner Europa-Konzeption einen betont klassisch-humanistischen Anstrich und vermied es künftig tunlichst, diese in Form einer Reichsvision zu präsentieren. Obwohl 1945 keinen eigentlichen Bruch in seinem Europadenken bedeutete, suchte sich dieses nun eine politisch unverdächtigere Begrifflichkeit. Tatsächlich setzte beim Freiburger Professor eine intensive Reflexion darüber ein, woher der alte Kontinent komme und wohin er sich in Zukunft entwickeln werde.[35] Wissenschaftlich ging es ihm fortan entscheidend darum, Europas »Fundamentaltyp« (»type fondamental«) zu bestimmen und das hieß für ihn, die historischen »Kraftlinien« (»lignes de force«) und kulturellen »Konstanten« (»constantes«) des kleinsten Kontinents seit der griechischen Antike zu bestimmen.[36] In einem kristallklaren Französisch verfasst und von klassisch-humanistischen Bildungsidealen kündend, gehören die sieben Bände von »La Formation de l’Europe« nicht nur zu den umfangreichsten, sondern auch zu den wirkungsmächtigsten Werken ihrer Gattung.

In der 3.000 Seiten starken Synthese, die die monographische Einzelforschung zu einem höheren Ganzen zusammenfügen wollte, argumentierte de Reynold nicht nur historisch. Durch Exkurse in die griechische Mythologie, christliche Theologie, katholische Geschichtsphilosophie[37], aber auch in die Geographie und Etymologie verlieh er ihr eine unverwechselbare Handschrift. Das Unternehmen lief auf keine moderne Geschichte der Zivilisationen Europas hinaus, wie sie zur selben Zeit vom britischen Historiker Arnold J. Toynbee betrieben wurde. Im Kern zielte es darauf ab, den Idealtyp europäischer Kultur zu bestimmen, den de Reynold im »Zeitalter der Christenheit«, im 13. Jahrhundert, am Perfektesten verwirklicht sah.[38] Schließlich verdanke Europa dem Christentum nicht nur seine Existenz und »Seele«, sondern auch das »Wesen seiner Zivilisation«.[39]

 68

Für die historische Gestaltwerdung Europas verwendete er die Metapher eines mehrgeschossigen Hauses. Über einem prähistorischen Keller und einem griechischen Erdgeschoss hätten die Jahrhunderte nach und nach ein römisches und germanisches Stockwerk errichtet, bevor über dem Rohbau schließlich ein »christliches Dach« errichtet worden sei.[40] Der griechischen Poliswelt und dem Hellenismus verdanke Europa nichts weniger als seine Kultur, der römischen Antike die politische Idee des Imperiums und den Franken unter Karl dem Großen eine Reichsbildung im Zeichen des Kreuzes. Diese ebenso einfache wie folgenreiche Grundthese bestimmte den ganzen Aufbau des Werks. Nach einer allgemein gehaltenen Einleitung mit dem Titel »Qu’est-ce que l’Europe« (1944) folgten nacheinander Bände über »Le Monde grec et sa pensée« (1944), »L’Hellénisme et le génie européen« (1944), »L’Empire romain« (1945), »Le Monde barbare«[41] (1949/53), »Le Monde russe« (1950) und »Le Toit chrétien« (1957). Unbesehen davon, ob er über das klassische Griechenland, das Imperium romanum zur Zeit der Cäsaren oder die Welt der Völkerwanderungszeit handelte, wollte Gonzague de Reynold stets bloß jene Kulturelemente bestimmen, die schließlich den Bau des »christlichen Abendlands« ermöglicht hatten.[42] Die »Epoche der Christenheit« im Hochmittelalter stellte für ihn Synthese und Höhepunkt einer über tausend Jahre währenden Kulturentwicklung dar.

Anlage und Hauptthesen von »La Formation de l’Europe« trafen den Nerv der Zeit und brachten das abendländische Selbstverständnis konservativer Kreise während des Kalten Krieges zum Ausdruck. Ein sprechendes Zeitdokument ist de Reynolds Werk schon allein wegen des zugrunde gelegten Europa-Begriffs. Europa sei zwar der kleinste aller Kontinente und geographisch nur eine Verlängerung Asiens, doch von der Geographie mit Meeren begünstigt, bilde es das Zentrum und den Brennpunkt der Welt.[43] Nur Europa habe eine Kultur wirklich universalen Charakters ausgebildet. Als imperiales Gebilde im römischen Altertum ins Leben getreten, müsse es fortfahren, seine Zivilisation über den ganzen Erdball zu verbreiten. Nur so werde es seiner globalen Mission gerecht: »L’Europe, c’est le continent qui doit se projeter hors de soi-même, celui de l’expansion et de la conquête, de la découverte et de la colonisation. L’Europe est née impériale. Elle a été créée pour être le globe«[44] – hielt er an einer Stelle apodiktisch fest.

 69

Wie viele Konservative seiner Zeit unterschied de Reynold zwischen einem »wahren« und einem »falschen« Europa. »L’Europe européenne, l’Europe originaire et originale, c’est l’Occident«[45], behauptete er kategorisch. Ausgehend von der Setzung, dass die europäische Kultur das Werk des römisch-katholischen Christentums sei, identifizierte er Europa ganz mit dem westlichen Teil des Kontinents. Für dieses »europäische Europa« verwendete er den hoch belasteten Begriff »Occident«, der auch im Französischen »Westen« und »Abendland« bedeutet. Zur abendländischen Kernzone gehörten für ihn Länder wie Frankreich, Belgien, Irland und Deutschland, aber auch Spanien, Italien, Österreich und die Schweiz. Obwohl geographisch bereits zu Osteuropa gehörend, würden auch das katholische Polen und Litauen noch zum »Occident« gehören und eine abendländische Vormauer gegen das »barbarische Asien« bilden. Das slawische Osteuropa, das nach der Befreiung von der deutschen Besatzungsherrschaft immer stärker dem sowjetischen Machtbereich eingefügt wurde, stand in seiner Wertehierarchie weit unter dem mediterranen Raum, den er für die eigentliche Wiege der europäischen Kultur hielt. Unter dem Eindruck des beginnenden Kalten Krieges brachte er diese für ihn typische Haltung so auf den Punkt:

»Il y a deux Europes: l’occidentale, l’orientale. L’orientale n’est que la continuation de l’Asie. En revanche, l’occidentale est la vraie Europe, l’Europe européenne, le foyer de cette civilisation qui, grâce au christianisme, est la seule de l’histoire qui se soit révélée capable d’être universelle.«[46]

Während er das romanische und germanische Europa als Welt der Städte, Universitäten und Kathedralen beschrieb, stünde das slawische Osteuropa seit Jahrhunderten unter dem kulturfeindlichen Einfluss Asiens. Ungarn, Rumänen und Bulgaren hätten keinen Beitrag zur Kultur Europas geleistet. Der Osten des Kontinents sei dem Westen schon deshalb unterlegen, weil es dort so viele Analphabeten gebe. Überdies seien die Slawen von Natur aus dumpfe und geistig minderbemittelte Wesen.[47] In dem 1950 publizierten Band »Le Monde russe« behauptete er gar, dass Russland in beinahe jeder Hinsicht das Gegenprinzip zum »wahren Europa« bilde. Russland würde seit jeher eine barbarische Existenz hinter der europäischen Zivilisationsgrenze führen. In seiner »mental map« stand es für »integralen Asiatismus« und »Despotismus«.[48] Die Sowjetunion sei nichts mehr als die aktuellste Inkarnation des »ewigen Russland«. Denn Russland sei nie »russischer« gewesen als unter Stalin.[49] Und nie sei die christlich-abendländische Kulturwelt vor einer so tödlichen Gefahr gestanden wie heute durch die Sowjetunion.[50] All dies hatte mit wissenschaftlicher Gelehrsamkeit und wirklichen Kenntnissen über die Geschichte Osteuropas nichts, mit Slawophobie und grobschlächtigem Antikommunismus hingegen viel zu tun. Ungefiltert reproduzierte de Reynold in seinem wissenschaftlichen Hauptwerk abendländische Denkfiguren, die diesseits des »Eisernen Vorhangs« weit verbreitet und populär waren.

 70

Der »barbarischen Welt Russlands« stellte Gonzague de Reynold in »Le Toit chrétien« das goldene Zeitalter des »christlichen Abendlandes« gegenüber. Historisch gesehen hätte der Bau Europas an jenem Tag seinen krönenden Abschluss gefunden, als der Kontinent christianisiert worden sei – lautete die Hauptaussage des Buches.[51] Tatsächlich versuchte der Autor in dem 520 Seiten zählenden Abschlussband zu zeigen, wie das Christentum Europa gemacht und dieses den Kontinent während des Hochmittelalters schließlich »bewohnbar und menschlich« habe werden lassen.[52] Nach ausladenden theologischen Reflexionen zur »christlichen Konzeption von Welt und Geschichte« argumentierte de Reynold erst auf den letzten 200 Seiten im strengen Sinn historisch.

Karl der Große sei der Gründer des christlichen Europa gewesen.[53] Sein Reich hätte sich über »alle wesentlichen Teile Europas« erstreckt: nämlich über Frankreich, Deutschland und Italien.[54] Kein christlicher Herrscher hätte die Wahrheit, dass jede Kultur auf einem »spirituellen Prinzip« beruhe, besser verstanden als Karl; und niemand hätte besser als er durchschaut, dass zivilisieren christianisieren bedeute.[55] Dieser vom Papst gekrönte Kaiser hätte die abendländische Christenheit in einem Imperium geeinigt, das es Menschen unterschiedlicher Herkunft erlaubt habe, harmonisch in Frieden, Ordnung und Sicherheit zu leben.[56] Auf den von Karl gelegten Grundlagen hätte sich im 13. Jahrhundert das Heilige Römische Reich zu voller Blüte entfaltet, jene ideale Gemeinschaft, ohne die Europa nicht verstanden werden könne.[57] In diesem verklärten Bild von Karl als »Pater Europae« blieb einiges ausgespart. In seiner langen Regierungszeit hatte der machtbewusste Frankenherrscher die Grenzen seines Reiches nicht nur durch blutige Eroberungskriege ausgedehnt, sondern war bei der Bekehrung feindlicher Stämme auch nicht vor brutaler Gewalt zurückgeschreckt.

So gelehrt das monumentale Werk »La Formation de l’Europe« auch anmutete: Es war nicht frei von Blickverengungen, Beschönigungen[58] und zeittypischen Vorurteilen. Europa war für Gonzague de Reynold nur zur Zeit Karls des Großen und der staufischen Universalmonarchie, in der die Menschen in der richtigen christlichen Weltordnung gelebt hatten, groß gewesen. Alles was später kam, sei ein Abglanz einstiger Größe gewesen. Systematisch abgewertet wurde darin der zivilisierende Beitrag von Aufklärung und Menschenrechten. Gar nicht oder nur ganz am Rande gewürdigt wurde darin der Beitrag von Byzanz und jener der Mauren und Osmanen. Wenn das künftige Europa nicht zu einer »Kolonie unterentwickelter Völker« degradiert werden wolle, müsse es zu seinen »wahren Ursprüngen« zurückkehren – lautete die keineswegs überraschende Quintessenz. Wenn dies geschehe, könne ein vereintes Europa mit seiner überlegenen Kultur sogar die ganze Welt erretten. »L’Europe n’a plus qu’une chance de salut: s’unir […] Si elle s’unit, si elle reprend conscience de soi-même, de son âme chrétienne, de sa supériorité de civilisation et par conséquent de sa mission civilisatrice, c’est le monde entire qu’elle sauvera.«[59]

 71

Innerhalb des Gesamtspektrums katholischer Europa-Ideen, die von christdemokratischen bis zu konservativen Positionen reichten, bewegte sich Gonzague de Reynolds Vision vom »christlichen Abendland« während des Kalten Krieges auf der äußersten Rechten. Obwohl sie sich betont unpolitisch gab, stand sie im Dienst zeitkritischer Negationen, eines giftigen Antikommunismus und eines eurozentrischen Weltbildes. Die Konferenz von San Francisco, aus der 1945 die Vereinten Nationen (UNO) hervorgingen, nahm er als Triumph aller Nichteuropäer über die Europäer wahr. Ganz im Unterschied zum Völkerbund, den er für eine Neuauflage des Heiligen Römischen Reiches gehalten hatte, waren ihm die Vereinten Nationen schon deshalb suspekt, weil die UdSSR und die unabhängig gewordenen Nationen der »Dritten Welt« in ihr den Status als gleichberechtigte Mitglieder erhielten. Für nichteuropäische Gebiete und selbst für die USA konnte er nie ein tieferes Verständnis entwickeln. Im Gegenteil: Wie bei vielen anderen Konservativen richtete sich de Reynolds Abendland-Idee stets auch gegen die von Amerika symbolisierte Moderne; sie besaß durchaus eine antiwestliche Stoßrichtung. Gegenüber der angeblichen Geschichtslosigkeit der Neuen Welt betonte er die in einer langen Geschichte begründeten Kulturtraditionen Europas.[60]

Diese Grundhaltung änderte sich auch nicht, als er 1949 mit seiner jüngsten Tochter zu einer Amerikareise aufbrach und mehrere Woche Uruguay, Brasilien und Argentinien bereiste. Ein »zivilisierter Europäer«, hielt er in seinem Reisebuch »Impressions d’Amérique« fest, begegne in Südamerika einer Welt, die ihn dazu zwinge, noch einmal alle Stufen der gesellschaftlichen Entwicklungen zu durchlaufen, die seine Vorfahren längst hinter sich gelassen hätten.[61] Gemessen am Erbe des »christlichen Abendlandes« erschienen ihm die präkolumbianischen Kulturen als primitiv. Selbst die Inkas, die noch das zivilisierteste Volk des Doppelkontinents gewesen seien, hätten in ihrer Kulturentwicklung kaum den Stand der europäischen Bronzezeit erreicht. Denn wie wäre es sonst zu erklären, dass eine Handvoll Spanier ihr Großreich so leicht hätten erobern können.[62] Buenos Aires, Montevideo und Rio de Janeiro erlebte er als eine Ansammlung von anonymen Häuserfluchten und Slums, nicht aber als Städte mit einem historischen Gesicht. Die Schwäche Amerikas bestünde darin, dass es keine Vergangenheit besäße.[63] Bezeichnenderweise wurde der Bericht dort emphatisch, wo er seine Rückkehr in das abendländische Kerneuropa beschrieb. Ausgerechnet in Portugal, das von Diktator Antonio de Oliveira Salazar mit eiserner Faust regiert wurde, empfand er die zivilisatorische Überlegenheit Europas besonders stark. Denn nur Klöster wie Belem und Batalha würden von »wahrer Kultur«[64] zeugen.

V.

In den 1950er Jahren erzielte Gonzague de Reynold mit seiner Europavision noch eine beachtliche Wirkung. Mit der kulturellen Öffnung der westeuropäischen Gesellschaften seit Mitte der sechziger Jahre allerdings schritt die Zeit schnell über sie hinweg. Auch dieser diskursive Niedergang war sehr typisch für den abendländischen Denkstil, der heute nur noch in Kreisen älterer konservativer Akademiker gepflegt wird.

 72

Literaturverzeichnis

Archiv des Schweizerischen Schriftstellerverbandes, Zürich: Dossier Gonzague de Reynold: Beilage zum Schreiben von Rektor W. Oswald, 25. Februar 1956.

Aschmann, Birgit: »Treue Freunde …«? Westdeutschland und Spanien 1945–1963, Stuttgart 1999.

Bonjour, Edgar: Die Schweiz und Europa. Ausgewählte Reden und Aufsätze, Bd. 3, Basel 1973.

Breuning, Klaus: Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur (1929–1934), München 1969.

Chabot, Jean-Luc: Aux origines intellectuelles de l’Union européenne. L’idée d’Europe unie de 1919 à 1939, Grenoble 2005.

Chélini, Jean: L’Eglise sous Pie XII, Bd. 2: L’après-guerre 1945–1958, Paris 1989.

Conze, Eckart: Vom deutschen Adel. Die Grafen von Bernstorff im zwanzigsten Jahrhundert, Stuttgart u.a. 2000.

Conze, Vanessa: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920–1970), München 2005.

Conze, Vanessa: Richard Coudenhove-Kalergi. Umstrittener Visionär Europas, Gleichen u.a. 2004.

 73

De Reynold, Gonzague: Cités et Pays suisses. Edition définitive, Lausanne 1948.

De Reynold, Gonzague: Conscience de la Suisse. Billets à ces Messieurs de Berne, Neuenburg 1938.

De Reynold, Gonzague: Das Bedürfnis nach Einigkeit und das Heil Europas, in: Reichspost, 25. Dezember 1926.

De Reynold, Gonzague: Das Fortleben des heiligen römischen Reiches, in: Schönere Zukunft, 23. Januar 1927.

De Reynold, Gonzague: Die drei grossen Richtlinien der päpstlichen Politik, in: Schönere Zukunft, 24. Juli 1927.

De Reynold, Gonzague: Die Schweiz im Kampf um ihre Existenz, Luzern 1934.

De Reynold, Gonzague: Die Tragik Europas, Luzern 1935.

De Reynold, Gonzague: Der geistig-moralische Zustand des Europa von heute, in: Schönere Zukunft, 13. Oktober 1929.

De Reynold, Gonzague: Europas Einheit. Jerusalem – Griechenland – Rom, München 1961.

De Reynold, Gonzague: Impressions d’Amérique, Lausanne 1950.

De Reynold, Gonzague: La Formation de l’Europe, 7 Bde., Fribourg, Paris 1944–1957.

De Reynold, Gonzague: La Formation de l’Europe, Bd. 1: Qu’est ce que l’Europe?, Fribourg 1944.

De Reynold, Gonzague: La Formation de l’Europe: Bd. 4: L’Empire romain, Paris 1945.

De Reynold, Gonzague: La Formation de l’Europe, Bd. 6: Le Monde russe, Paris 1950.

De Reynold, Gonzague: La Formation de l’Europe, Bd. 7: Le Toit chrétien, Paris 1957.

De Reynold, Gonzague: La Suisse de toujours et les évènements d’aujourd’hui, Boudry 1940.

De Reynold, Gonzague: La Suisse et le monde nouveau. Conférence prononcée à Genève le 26 janvier 1934 sous les auspices de l’Union nationale, Genf 1934.

De Reynold, Gonzague: La survie de l’Empire romain, in: Le Figaro, 7. Mai 1926.

De Reynold, Gonzague: L’Europe comme unité, Rom 1933.

De Reynold, Gonzague: L’Europe tragique. La Révolution moderne. La fin d’un monde, Paris 1934.

De Reynold, Gonzague: Portugal gestern – heute, Salzburg u.a. 1938.

De Reynold, Gonzague: Romanitas, in: Allgemeine Rundschau, 5. Oktober 1929.

De Reynold, Gonzague: Zum Problem: Untergang des Abendlandes, in: Das Neue Reich, 13. Juni 1925, S. 871–875 und 20. Juni 1925, S. 897–899.

 74

Drews, Isabel »Schweizer erwache!« Der Rechtspopulist James Schwarzenbach (1967–1978), Frauenfeld u.a. 2005.

Elvert, Jürgen: Mitteleuropa! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918–1945), Stuttgart 1999.

Faber, Richard: Abendland. Ein politischer Kampfbegriff, Hildesheim 1979.

Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache[1935], Frankfurt/M. 19943.

Fleury, Antoine (Hg.): Le Plan Briand d’Union fédérale européenne. Perspectives nationales et transnationales, Bern u.a. 1998.

Herbert, Ulrich: Liberalisierung als Lernprozess. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze, in: Ders. (Hg.), Wandlungsprozesse und Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002, S. 7–49.

Kaelble, Hartmut: Europäer über Europa. Die Entstehung des europäischen Selbstverständnisses im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2001.

Kettenacker, Lothar: Der Mythos vom Reich, in: Karl Heinz Bohrer (Hg.), Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion Frankfurt/M. 1983, S. 261–289.

Kletzin, Birgit: Europa aus Rasse und Raum. Die nationalsozialistische Idee der Neuen Ordnung, Münster u.a. 20022.

König, Paul: Gonzague de Reynold. Der europäische Gedanke, Hildesheim 2003.

Ledeen, Michael A.: Universal Fascism. The Theory and Practice of the Fascist International 1928–1936, New York 1972.

Lehmann, Walter: Die Bundesrepublik Deutschland und Franco-Spanien in den 50er Jahren. NS-Vergangenheit als Bürde?, München 2006.

Mattioli, Aram: Gonzague de Reynold – Vordenker, Propagandist und gescheiterter Chef der »nationalen Revolution«, in: Ders. (Hg.), Intellektuelle von rechts. Ideologie und Politik in der Schweiz 1918–1939, Zürich 1995, S. 135–156.

Mattioli, Aram: Gonzague de Reynold (1880–1970), in: Heinz Duchhardt u.a. (Hg.), Europa-Historiker. Ein biographisches Handbuch, Bd. 2, Göttingen 2007, S. 189–210.

Mattioli, Aram: Zwischen Demokratie und totalitärer Diktatur. Gonzague de Reynold und die Tradition der autoritären Rechten in der Schweiz, Zürich 1994.

Pöpping, Dagmar: Abendland. Christliche Akademiker und die Utopie der Antimoderne 1900–1945, Berlin 2002.

Sestan, Ernesto / Saitta, Armando: Vorwort, in: Federico Chabod, Der Europa-Gedanke. Von Alexander dem Großen bis Zar Alexander I., Stuttgart 1963, S. V–IX.

Schildt, Axel: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999.

Schmale, Wolfgang: Geschichte Europas, Köln, Weimar 2001.

Schuman, Robert: M. Gonzague de Reynold et la politique européenne, in: Gonzague de Reynold et son oeuvre. Etudes et témoignages publiés à l’occasion de son 75e anniversaire, Fribourg 1955, S. 396.

Ziegerhofer-Prettenthaler, Anita: Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, Wien u.a. 2004.

 75

ANMERKUNGEN

[*] Aram Mattioli, Prof. Dr., Lehrstuhl für Allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuesten Zeit, Universität Luzern.

[1] Grundlegend für diesen Ansatz Schmale, Geschichte Europas 2001.

[2] Conze, Europa der Deutschen 2005, S. 1.

[3] Grundlegend dazu Breuning, Vision des Reiches 1969; Ledeen, Universal Fascism 1972; Faber, Abendland 1979; Kettenacker, Mythos vom Reich 1983, S. 261–289; Elvert, Mitteleuropa! 1999; Kletzin, Europa aus Rasse und Raum 20022.

[4] Schildt, Zwischen Abendland und Amerika 1999, S. 21. Vgl. auch Faber, Abendland 1979.

[5] Schildt, Zwischen Abendland und Amerika 1999, S. 22.

[6] Zur Definition von Denkstil und Denkkollektiv vgl. Fleck,Entstehung und Entwicklung 19943, S. 130 u. 135.

[7] Pöpping, Abendland 2002 und Conze, Europa der Deutschen 2005, S. 11f.

[8] Grundlegend dazu Aschmann, »Treue Freunde …«? 1999, S. 425–435; Conze, Europa der Deutschen 2005, S. 173–185 und Lehmann, Die Bundesrepublik Deutschland und Franco-Spanien 2006, S. 65–75. Vgl. als Beispiel für ein prominentes Schweizer CEDI-Mitglied, das sich später als Rechtspopulist und Führer einer gegen Ausländer gerichteten Überfremdungsbewegung einen Namen machte, auch Drews, »Schweizer erwache!« 2005. James Schwarzenbach war in vielerlei Beziehung Gonzague de Reynolds Schüler.

[9] Chélini, L’Eglise 1989, S. 440f.

[10] Näheres dazu in König, Gonzague de Reynold 2003 und Mattioli, Gonzague de Reynold 2007, S. 189–210.

[11] Aus den Salzburger Vorträgen ging folgende Buchveröffentlichung hervor: de Reynold, Europas Einheit 1961.

[12] Schuman, M. Gonzague de Reynold 1955, S. 396 und König, Gonzague de Reynold 2003, S. 207 u. 359ff.

[13] Archiv des Schweizerischen Schriftstellerverbandes, Zürich: Dossier Gonzague de Reynold: Beilage zum Schreiben von Rektor W. Oswald, 25. Februar 1956. Als 1957 der französische Schriftsteller Albert Camus den Nobelpreis für Literatur zugesprochen erhielt, glaubten viele Anhänger der Freiburger Kandidatur an eine krasse Fehlentscheidung des schwedischen Preiskomitees.

[14] Vgl. dazu Mattioli, Zwischen Demokratie und totalitärer Diktatur 1994.

[15] Bonjour, Die Schweiz und Europa 1973, S. 231.

[16] Ähnliches hat für Deutschland Eckart Conze (Vom deutschen Adel 2000) belegt.

[17] Mattioli, Gonzague de Reynold 1995, S. 135–156.

[18] De Reynold, Portugal gestern – heute 1938, S. 25.

[19] Zu seiner Haltung zu den totalitären Großdiktaturen vgl. Mattioli, Zwischen Demokratie und totalitärer Diktatur 1994, S. 218ff.

[20] Das Neue Reich, 13. und 20. Juni 1925.

[21] De Reynold, Der geistig-moralische Zustand 1929.

[22] Vgl. de Reynold, La Suisse et le monde nouveau 1934; ders., Die Schweiz 1934; ders., Conscience de la Suisse 1938; ders., La Suisse de toujours 1940.

[23] Kaelble, Europäer über Europa 2001, S. 147ff.

[24] De Reynold, Die drei grossen Richtlinien 1927.

[25] De Reynold, L’Europe tragique 1934, S. 398.

[26] Vgl. etwa de Reynold, La survie 1926; ders., Bedürfnis nach Einigkeit 1926; ders., Fortleben des heiligen römischen Reiches 1927; ders., Romanitas 1929.

[27] De Reynold, Fortleben des heiligen römischen Reiches 1927.

[28] De Reynold, Die Tragik Europas 1935, S. 391.

[29] Vgl. Fleury (Hg.), Le Plan Briand 1998.

[30] Chabot, Aux origines intellectuelles 2005, S. 152.

[31] Sestan / Saitta, Vorwort 1963, S. VIII.

[32] De Reynold, L’Europe tragique 1934, 393. »Ce qui réunissait tous ces esprits divers et même opposés, c’était un sentiment commun: l’inquiétude. L’inquiétude romaine à la recherche de la paix romaine.«

[33] Ausführlich dazu Conze, Coudenhove-Kalergi 2004; Ziegerhofer-Prettenthaler, Botschafter Europas 2004.

[34] De Reynold, L’Europe comme unité 1933, S. 5.

[35] De Reynold, Formation de l’Europe, Bd. 1, 1944, S. 30f.

[36] Ebd., S. 32.

[37] Häufig zitierte Gewährsleute waren darin die Patristiker, insbesondere Augustinus und Thomas von Aquin natürlich, aber auch der französische Hoftheologe Jacques Bossuet.

[38] De Reynold, Formation de l’Europe, Bd. 7, 1957, S. 497.

[39] De Reynold, Formation de l’Europe, Bd. 1, 1944, S. 36. »Civilisation européenne est donc synonyme de civilisation chrétienne.«

[40] Ebd., S. 35.

[41] Band 5 unterteilte er in die Teilbände »Les Celtes« und »Les Germains«.

[42] Typisch für diese methodisches Vorgehen ist etwa das Kapitel »Permanence de Rome«. Vgl. de Reynold, Formation de l’Europe, Bd. 4, 1945, S. 237–271.

[43] De Reynold, Formation de l’Europe, Bd. 1, 1944, S. 74.

[44] Ebd., S. 75.

[45] Ebd., S. 55.

[46] De Reynold, Cités et Pays suisses 1948, S. 7.

[47] De Reynold, Formation de l’Europe, Bd. 6, 1950, S. 57f.

[48] Ebd., S. 356.

[49] Ebd., S. 354.

[50] Ebd., S. 368.

[51] De Reynold, Formation de l’Europe, Bd. 7, 1957, S. 29.

[52] Ebd., S. 30.

[53] Ebd., S. 388 u. 405.

[54] Ebd., S. 403.

[55] Ebd., S. 397.

[56] Ebd., S. 405.

[57] Ebd., S. 426. »Ne pas comprendre le Saint-Empire, c’est s’interdire de comprendre l’Europe.«

[58] Ebd., S. 483. Die Kreuzritter, die sich 1095 aufgemacht hätten, die heiligen Stätten des Christentums in Palästina zu erobern, seien die »wahren Soldaten Christi« gewesen.

[59] Ebd., S. 517.

[60] Ähnliches betont für die deutschen Abendländer Herbert, Liberalisierung als Lernprozess 2002, S. 21.

[61] De Reynold, Impressions d’Amérique 1950, S. 29.

[62] Ebd., S. 35.

[63] Ebd., S. 83f.

[64] Ebd., S. 74ff.

ZITIEREMPFEHLUNG

Aram Mattioli, Denkstil »christliches Abendland«. Eine Fallstudie zu Gonzague de Reynold, in: Kerstin Armborst / Wolf-Friedrich Schäufele (Hg.), Der Wert »Europa« und die Geschichte. Auf dem Weg zu einem europäischen Geschichtsbewusstsein, Mainz 2007-11-21 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft online 2), Abschnitt 60–75.

URL: <http://www.ieg-mainz.de/vieg-online-beihefte/02-2007.html>.

URN: <urn:nbn:de:0159-2008031319>.

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieses Aufsatzes hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein.

Beim Zitieren einer bestimmten Passage aus dem Aufsatz bitte zusätzlich die Nummer des Textabschnitts angeben, z.B. 61 oder 60–63.

Ulrich Wyrwa *

Das Bild von Europa in der jüdischen Geschichtsschreibung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts

Gliederung:

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Zitierempfehlung

Text:

»Europa schreitet vorwärts, das ist der Trost bei solchem Jammer!« schrieb Isaak Markus Jost angesichts der Lage der Juden in Osteuropa in der Mitte des 19. Jahrhunderts, jener Autor, der als erster jüdischer Historiker seit Flavius Josephus’ antikem Werk eine Gesamtdarstellung der Geschichte der Juden von den Anfängen bis zur Gegenwart vorlegt hatte.[1] Heinrich Graetz wiederum, der mit seiner elfbändigen Universalgeschichte der Juden zum spiritus rector der jüdischen Geschichtsschreibung in Europa wurde, zitierte in seinem Werk einen im 16. Jahrhundert aus Portugal geflohenen Juden: »Und Europa, Europa, meine Hölle auf Erden!«[2] Und Simon Dubnow schließlich, der eine ganz neue national-jüdische Sicht von der jüdischen Geschichte entwarf und für die Autonomie der Juden in Osteuropa eintrat, fragte sich in seinem Tagebuch von 1925, nachdem er die Schrecken des Ersten Weltkrieges erlebt hatte und Zeuge der ersten Friedensverhandlungen in Europa geworden war, ob er wohl »den Beginn der Vereinigten Staaten Europas noch erleben« werde. »Natürlich nicht«, so sein resignierter Nachsatz.[3]

Und doch hatte Dubnow jede »Lossagung von Europa« kritisiert und seinen zionistischen Zeitgenossen entgegengehalten, dass »die jüdische Diaspora ein historisches Anrecht auf ein Leben in Europa« habe.[4] Tatsächlich lebten im 19. Jahrhundert gut 80% der jüdischen Weltbevölkerung in Europa, und seinen Höhepunkt erfuhr die jüdische Präsenz auf dem ›alten Kontinent‹ zu Beginn der 1880er Jahre, als nahezu 90% aller Juden Europäer waren.[5] Trotz dieser Dominanz Europas in der jüdischen Geschichte ist bisher kaum gefragt worden, was Europa für die zeitgenössischen Juden bedeutete und welches Bild von Europa in der jüdischen Geschichtsschreibung entworfen wurde.

Im Folgenden sollen drei unterschiedliche Vorstellungen von Europa in der jüdischen Geschichtsschreibung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts skizziert werden, wobei diese Bilder jedoch nicht scharf voneinander zu trennen sind, sondern mitunter ineinander übergehen und sich gelegentlich auch überlagern.[6] Herangezogen werden dazu in erste Linie Werke der jüdischen Geschichtsschreibung im engeren Sinne, also Texte jüdischer Historiker zur Geschichte der Juden selbst, zugleich sollen aber auch Schriften jüdischer Historiker berücksichtigt werden, die nicht dezidiert zur Geschichte der Juden gearbeitet, sich aber dennoch mit dem Judentum auseinandergesetzt haben. Einbegezogen werden schließlich Schriften jüdischer Intellektueller, die zwar keine wissenschaftliche Ausbildung als Historiker erfahren, sich gleichwohl aber zu historisch-politischen Themen oder zu Fragen der jüdischen Vergangenheit geäußert haben.

 76

Die Untersuchung der Vorstellungen von Europa in diesem Sample von Texten zeigt, dass Europa in der jüdischen Historiographie erstens als ein Geschichts- und Erfahrungsraum erscheint. Europa wurde als Kontinent mit der größten jüdischen Bevölkerung vorgestellt, in dem durchaus unterschiedliche Formen jüdischen Lebens nebeneinander existierten, die gleichwohl von denjenigen in Asien, beziehungsweise im Orient, oder in Afrika und Amerika unterschieden waren. Zugleich erschien Europa als Raum einer Leidens- und Gelehrtengeschichte der Juden, der mit der Französischen Revolution und dem Projekt der Emanzipation eine Wende erfahren hat.

Davon zu unterscheiden ist zweitens ein zivilisatorischer Begriff von Europa, der auf die kulturelle Rolle Europas und seiner Zivilisation für die jüdische Bevölkerung zielt und der mitunter mit einem Plädoyer für eine Europäisierung der jüdischen Kultur verbunden ist.

Drittens schließlich lässt sich in der jüdischen Geschichtsschreibung auch ein emphatischer Begriff von Europa ausmachen, jener Begriff, der semantisch mit der Formulierung dessen, was als ›Europagedanke‹ bezeichnet wird, verknüpft ist, wobei dieser auf eine europäische Einigung zielende Begriff im jüdischen Kontext mitunter auch auf die besondere Rolle zielte, die die europäischen Juden für Europa und in der Herausbildung der europäischen Zivilisation gespielt haben.

I.

Exemplarisch zeigt sich die Vorstellung von Europa als einem Geschichts- und Erfahrungsraum, Ort der Leidens- und Gelehrtengeschichte sowie dem wichtigsten Siedlungsgebiet der Juden seit dem Ausgang der Antike, im Werk von Heinrich Graetz. Schon in den ersten Bänden seiner Geschichte der Juden führte Graetz aus, wie sich zunächst Asien, Afrika und Europa gegenüberstanden.[7] Eine Geschichte »im eigentlichen Sinne des Wortes« hätten die Juden in Europa erst seit dem 6. Jahrhundert, als »sie durch das Zusammentreffen günstiger Umstände ihre Kräfte entwickeln konnten und Leistungen hervorbrachten, wodurch sie ihren Brüdern im Orient den Vorrang streitig machten«.[8] In der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts seien die Juden Europas »aus dem Dunkel« herausgetreten, während sich gleichzeitig der Mittelpunkt der allgemeinen Geschichte nach West-Europa verlagert habe.[9] Mit dem Untergang des karolingischen Reiches wurde Europa jedoch erneut von Anarchie zersetzt und von »fanatischen Geistlichen« beherrscht,[10] und die Kreuzzüge, in deren Zusammenhang Graetz auch von einem Kampf zwischen Europa und Asien, zwischen dem Christentum und dem Islam, spricht, hätten in die Geschichte der Juden »ein bluttriefendes Blatt« eingefügt.[11]

 77

In Asien lebten im 12. Jahrhundert zwar noch immer mehr Juden als in Europa, doch von den europäischen Juden ging ein neues Selbstbewusstsein aus, so dass Europa nach Graetz zum »Hauptsitz des Judentums« wurde,[12] und dies, obgleich Philipp IV., der 1306 die Juden aus Frankreich vertrieben hatte, für Graetz zu denjenigen Fürsten gehörte, die »den hochmütigen, eigensinnigen, gewissenlosen Despotismus in Europa heimisch gemacht« hätten.[13] Es folgten, wie Graetz schrieb, für die jüdischen Gemeinden in fast ganz Europa »die allertraurigsten Tage«.[14] Im 16. Jahrhundert schien es, so fuhr er fort, »mit den Juden im christlichen Europa zu Ende zu gehen. Überall Haß, Verfolgung und Ausweisung.«[15] Allein von Holland sei »der erste Strahl einer besseren Zeit« ausgegangen, und in Europa waren die Augen aller jüdischen Gemeinden auf Amsterdam gerichtet.[16] Eine grundlegende Wende in der Geschichte der Juden in Europa setzte mit der Französischen Revolution ein: »Auch für die Niedrigsten und Geächtetsten in dem europäischen Gesellschaftsleben, für die Juden, sollte endlich der Tag der Erlösung und Befreiung nach so langer, langer Knechtschaft unter den europäischen Völkern aufgehen.«[17] In seiner Begeisterung für die Ideen von 1789 treten bei Graetz zugleich Momente sowohl eines zivilisatorischen als auch eines emphatischen Begriffs von Europa hervor, auf den er erneut in der Schilderung vom Ausbruch der Revolution im Februar 1830 und vom März 1848 zurückkommt:

»Vor den Augen des bis zur Stumpfheit ernüchterten Europa geschah ein geschichtliches Wunder, das es von einem Ende zum andern aufrüttelte«, schrieb Graetz über die Februarrevolution von 1830.[18] Und die Revolution von 1848 begrüßte er emphatisch mit den Worten: »Unerwartet und überwältigend schlug für die europäischen Juden die Stunde der Befreiung. […] Ein Freiheitsrausch kam über die europäischen Völker, der hinreißender und wunderbarer war als in den Jahren 1789 und 1830«.[19]

Wie für Graetz begann verständlicherweise auch für den französisch-jüdischen Historiker Theodore Reinach 1789 eine neue Ära in der Geschichte des Judentums.[20] »La Révolution francaise ouvre une ère nouvelle dans l’histoire du judaisme, comme dans celle de l’Europe occidentale«.[21] Im Mittelpunkt seiner 1884 erschienenen Histoire des Israélites stand die Verfolgung der Juden in den verschiedenen Teilen Europas, wobei Reinach sich nicht nur auf die großen Staaten Frankreich, Deutschland und Großbritannien konzentrierte, sondern auch die kleinen Länder und Randregionen einbezog. Reinach beschloss seinen Überblick über die Lage der Juden im christlichen Europa mit den kleinen Staaten Serbien, Bulgarien und Rumänien, sowie mit Ausführungen über den europäischen Teil der Türkei, um von dort zur Lage der Juden in Nordafrika, Persien, Indien, China und Amerika überzugehen.[22] Hinsichtlich der Französischen Revolution nahm Europa auch bei Reinach eine über den gemeinsamen Geschichts- und Erfahrungsraum hinausgehende Bedeutung an, wenn er etwa schrieb, dass 1789 die französischen Ideen in ganz Europa Resonanz fanden.[23]

 78

Die Zustimmung zu den Idealen und Intentionen der Französischen Revolution teilten Graetz und Reinach mit David Castelli, dem Autor der ersten italienischen Darstellung der jüdischen Geschichte.[24] Mit der Französischen Revolution hat auch für Castelli eine neue Phase in der Geschichte der Juden begonnen. Ihnen seien gleiche Rechte zuerkannt worden und sie hätten die Möglichkeit erhalten, so schrieb er in der Widmung seiner 1899 erschienenen Schrift Gli Ebrei. Sunto di Storia politica e Letteraria, am öffentlichen Leben teilzunehmen.[25] Castelli konzentrierte sich jedoch in seiner Darstellung auf die antike jüdische Vergangenheit, lediglich in einem abschließenden Kapitel gab er einen kurzen Abriss über die jüdische Geschichte seit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem. Die Geschichte der Juden in Europa während des Mittelalters wechselte, und hier zeigt sich eine Übereinstimmung mit Graetz’ Sicht von der jüdischen Geschichte als einer Leidens- und Gelehrtengeschichte, zwischen Perioden der Prosperität und von wissenschaftlichem und literarischem Ruhm mit Phasen der Verfolgung und des Elends.[26] Castelli gab in diesem Abschnitt einen kurzen Abriss der Lage der Juden in den verschiedenen Ländern Europas und betonte, dass die europäischen Juden vor allem während der Kreuzzüge blutigen Verfolgungen und grausamen Massakern ausgesetzt gewesen seien.[27] Als sich im 16. Jahrhundert in Europa die neuen Territorialstaaten durchzusetzen begannen, sei den Juden überall mit Verachtung und Empörung begegnet worden, oder sie seien, wenn sie nicht vertrieben worden waren, gezwungen worden, in abgeschotteten Ghetti zu wohnen.[28] Mit der Französischen Revolution hätten sich die Prinzipien der bürgerlichen Gleichberechtigung auch in den anderen Staaten durchgesetzt und seien nunmehr zu einer Errungenschaft der Zivilisation geworden. Hier zeigen sich wie bei Graetz auch bei Castelli Momente eines zivilisatorischen Begriffs von Europa. Die Juden würden nicht mehr gehasst und verachtet, sie hätten vielmehr von sich aus zur Verbreitung der Kultur beigetragen.[29]

Wie Graetz, Reinach und Castelli idealisierte auch Martin Philippson, derjenige Historiker, der Graetz’ Werk zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die jüngste Gegenwart fortsetzte, die Französische Revolution als einen Neuanfang in der jüdischen Geschichte.[30] In der Zeit des sozial aufgestiegenen und patriotisch engagierten Judentums geschrieben, stellte Philippson die jüdische Geschichte im Unterschied zu Graetz nicht mehr als eine Leidens- und Gelehrtengeschichte, sondern als eine Erfolgsgeschichte dar, die jedoch durch die Entstehung des Antisemitismus wieder bedroht wurde. Emphatisch begann Philippson seine Neueste Geschichte des Jüdischen Volkes mit dem Satz: »Die Befreiung ist den Juden Europas aus dem grossmütigen Lande gekommen, das zum ersten mal in unserem Weltteile […] den Grundsatz der Freiheit […] aufgestellt hat: aus Frankreich«.[31] In seiner Darstellung breitete Philippson ein europäisches Panorama der Entwicklung der jüdischen Geschichte in allen Ländern Europas aus, und doch kamen bei Philippson immer wieder auch Momente eines deutsch-jüdischen Patriotismus zum Tragen, der sich über die europäischen Dimensionen seiner historischen Interessen legten. Diese zeigten sich insbesondere in dem Kapitel über die Wirkungen der deutschen Reformbewegung auf andere Ländern, in dem er die These vertritt, dass nur die deutsche Judenheit »Trägerin der jüdischen Wissenschaft, des Strebens nach Neugestaltung des Judentums, überhaupt des Interesses am jüdischen Wesen« gewesen sei.[32] Diese auf Deutschland fokussierten Passagen Philippsons erklären sich vor allem aus seiner politisch-patriotischen Haltung, auf Grund derer er sich auch als Freiwilliger zum Krieg gegen Frankreich gemeldet hatte. Und doch hatte Philippson gleichsam wider Willen eine europäische intellektuelle Biographie insofern, als er zuvor, ehe er sich der jüdischen Geschichte zuwandte, intensiv zur allgemeinen europäischen Geschichte gearbeitet hatte, als Rektor der Universität Brüssel fungierte, Mitglied zahlreicher europäischer Akademien war und in dieser Funktion auch die Gründung einer europäischen historischen Zeitschrift angeregt hatte.[33] trotz seiner deutsch-patriotischen Haltung ging Philippson in seiner Strukturierung der neuesten jüdischen Geschichte von den europäischen Dimensionen jüdischen Lebens aus, Europa stellte auch für ihn einen Geschichts- und Erfahrungsraum dar.

 79

Dies gilt ebenso für den niederländisch-jüdischen Pädagogen Levie David Staal, wie es sich etwa in seinem 1906 publizierten Schulbuch »Israel onder de Volkeren« zeigt.[34] Staal gab darin für die frühe Neuzeit sowohl eine Skizze der Geschichte des niederländischen wie des europäischen Judentums, in der er sich jedoch auf Österreich, Deutschland und Frankreich konzentrierte. In seinem Kapitel über die Entwicklung der mit der Französischen Revolution beginnenden Phase der staatsbürgerlichen Gleichstellung bezog Staal dann auch die kleineren Staaten in seine Darstellung ein und ließ diesem Kapitel Ausführungen über die Juden im 19. Jahrhundert außerhalb Europas folgen, in denen er jeweils eine kurze Skizze über Asien, Afrika, Amerika und Australien bot.[35]

Einen ähnlichen geschichtsräumlichen Begriff von Europa hatte schließlich auch der Mitherausgeber der Encyclopaedia Judaica Mark Wischnitzer, der gleichfalls an der historischen Sektion des Jiddischen Wissenschaftlichen Instituts in Berlin tätig war.[36] In der Einleitung zu seinem 1935 erschienenen Kompendium ›Die Juden in der Welt. Gegenwart und Geschichte des Judentums in allen Ländern‹ wies Wischnitzer darauf hin, dass 80 bis 90% der Juden noch im 12. Jahrhundert im Orient und in Nordafrika lebten.[37] Ende des 15. Jahrhunderts war annähernd die Hälfte der jüdischen Bevölkerung bereits in Europa ansässig, und dem folgte ein, so Wischnitzer, »Europäisierungsprozeß von ungeahntem Ausmaße«.[38] Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts aber stehe Europa im Zeichen der Massenauswanderung nach Amerika, die Wischnitzer auch als »Europaflucht« bezeichnete.[39] In seinem lexikalischen Hauptteil skizzierte Wischnitzer dann die Entwicklung des Judentums in den einzelnen Ländern der Erde, Europa tauchte darin als Lemma nicht mehr auf.

II.

Ein davon abweichender, nicht nur geschichtsräumlicher, sondern zivilisatorischer Begriff von Europa ist in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts in jenem Kreis jüdischer Intellektueller entwickelt worden, deren Ziel es war, das Judentum als Wissenschaft zu konstituieren und die damit eine innere Reform sowie eine neue Tradition im Judentum begründeten.[40] So hatte das Mitglied des 1819 in Berlin gegründeten Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden, Eduard Gans, im Organ des Vereins, der Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums, Beiträge zur Geschichte der Juden publiziert, in denen er ein europäisches Tableau der jüdischen Vergangenheit präsentierte. Gans, Halbjähriger Bericht, April 1822, zit. nach: Reissner, Eduard Gans, S. 71f. [41] In einem Vortrag innerhalb des Vereins präzisierte Gans im Hegelschen Sinne seinen Begriff von Europa als »das notwendige Ergebnis der vieltausendjährigen Anstrengungen des vernünftigen Geistes«. Was Europa nach Gans auszeichnete war seine »Vielheit, deren Einheit allein im Ganzen ist«. Die »Eigentümlichkeiten des heutigen Europa«, so fuhr er fort, beruhten »hauptsächlich auf dem Reichtum seines vielgliedrigen Organismus«. Im Mittelpunkt seines Begriffs von Europa standen Freiheit und Selbstverwaltung:

»Das ist des europäischen Menschen Glück und Bedeutung, daß er in den mannigfachen Ständen der bürgerlichen Gesellschaft frei den seinigen sich erwählen darf, daß er in den erwählten alle übrigen Stände der Gesellschaft fühlt.«[42]

Hinsichtlich der Frage der Auswanderung nach Amerika, wie sie einige Mitglieder des Vereins propagierten, wurden auch Vorbehalte vorgebracht, da der Verein, wie es hieß, »in Europa wirken und Europäische Kultur und Europäisches Leben unter den Juden verbreiten wolle«.[43]

 80

Zu einem der profiliertesten ›Europäer‹ aus dem Verein wurde das Gründungsmitglied Leopold Zunz.[44] In der Vorrede zu seiner Schrift über die jüdischen Gottesdienste schrieb er, dass es Zeit sei, den Juden in Europa Recht und Freiheit zu gewähren,[45] und den Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Zivilisation in Europa und der Lage der Juden machte er in einer Rezension der judenfeindlichen Schrift des aus der Toskana stammenden und an die Universität Warschau berufenen Theologen Luigi Chiarini deutlich: »Zu den noch nicht gereiften Früchten wachsender Civilisation und Staatskunst darf man in den meisten Ländern Europa’s unbedenklich die Angelegenheiten der Juden zählen«.[46] Der breite europäische Horizont seines historisch-politischen Denkens zeigte sich etwa in dem Stichwort Juden für die 9. Auflage des Brockhaus Konversationslexikons von 1845,[47] und die europäischen Perspektiven in Zunz öffentlicher Tätigkeit werden insbesondere in seinem politischen Engagement seit der Revolution von 1848/49 deutlich. So eröffnete er eine Rede in einem Berliner Wahlbezirk mit den Worten: »Grosse Bewegungen durchziehen jetzt Europa«.[48] Einen Vortrag vor einem Berliner Bezirksverein im Jahr 1864 zum Thema »Selbstregierung« schloss er mit den Worten: »Nun wohl, auch wir, Deutschland und Europa haben an dem Ausbau der Selbstregierung, an der Freiheit der Einzelnen wie an der Freiheit der Gemeinden zu arbeiten«.[49] Wie für Graetz und jene jüdischen Historiker, für die Europa vorwiegend ein Geschichtsraum darstellte, war auch für Zunz die Französische Revolution ein Wendepunkt nicht nur der jüdischen, sondern auch der allgemeinen europäischen Geschichte. Frankreich, so führte Zunz in einem weiteren Vortrag vor dem Berliner Bezirksverein zum Thema »Revolution« aus, habe den Kampf »für Gleichheit und Meinungs-Freiheit« »mit dem ganzen übrigen Europa aufgenommen«. Emphatisch schloss er mit dem Bekenntnis, dass die »Bewegung von 1789« noch nicht beendet sei, vielmehr sei »noch eine Weltrevolution in Europa nöthig«, um die »Ideen der Freiheit und des gleichen Rechts durchzusetzen«. Erst wenn »mit der Selbstregierung der Rechtsstaat in dem gesammten Europa aufgerichtet sein wird, dann ist ›die Revolution‹ geschlossen«.[50] Auch in seinen religionsgeschichtlichen Arbeiten griff Zunz diese politischen Ideen auf; eine Studie über die hebräischen Handschriften in Italien eröffnete er beispielsweise mit dem Satz: »Zu den Schattenseiten europäischer Kultur gehört die Behandlung der Juden und des Judenthums«.[51]

 81

Einen zivilisatorischen Begriff von Europa hatte auch Heinrich Heine, der in seiner kurzen Berliner Zeit ebenfalls am Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden beteiligt war, glaubte er doch, mit der Taufe das »Entréebillet zur europäischen [Hervorhebung U. W.] Kultur« erhalten zu können.[52]

Wie Gans und Zunz hatte auch der Historiker Isaak Markus Jost, gleichfalls Mitbegründer des Vereins für die Wissenschaft und Cultur der Juden, einen zivilisatorischen Begriff von Europa.[53] Von dem traditionskritischen und den Intentionen der Aufklärung verpflichteten jüdischen intellektuellen Milieu geprägt, aus dem auch die Idee hervorgegangen war, das Judentum als Wissenschaft zu konzipieren, wollte Jost mit seiner historischen Arbeit, wie er im Vorwort des ersten, 1820 erschienenen Bandes seiner neunbändigen Geschichte der Israeliten schrieb, die »Gespenster der Vorzeit« vertreiben und zur Belehrung und Besserung der Juden beitragen.[54] Sein Bild von Europa wird vor allem in seiner zeitgeschichtlichen Darstellung der neueren Entwicklung der jüdischen Geschichte, 1846 und 1847 erschienen, deutlich. Den Erfolg seines Jahrhunderts sah Jost vor allem darin, dass es alle »Schranken der persönlichen Freiheit« aufgehoben habe, ein Erfolg, den er nicht zuletzt auf die europäische Bildung zurückführte.[55] In seiner religionsgeschichtlichen Darstellung der jüdischen Geschichte sah er gar im preußischen König Friedrich II. eine Erscheinung, in der »ganz Europa« die »Strahlen eines neuen Tages« erblickt habe,[56] und in seiner Allgemeinen Geschichte des Israelitischen Volkes von 1832 lobte er, dass sich in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts zahlreiche jüdische Gemeinden »der europäischen Zivilisation mit starken Schritten nähern«.[57] Insbesondere hob Jost das Engagement des Hamburger Anwalts Gabriel Riesser für die Emanzipation der Juden hervor, der sich dadurch, wie Jost betonte, »einen europäischen Ruf erworben« habe.[58] In keinem europäischen Land aber hätten die Juden früher »gleiche Freiheit« genossen wie in Holland.[59] Während sie in anderen europäischen Staaten »der Misshandlung der Völker und der Willkür der Großen« ausgesetzt seien, war ihr Schicksal im Herzogtum Savoyen erträglich.[60] Besonders problematisch war das Schicksal der Juden in Russland und Polen, »deren ganzen Jammer Europa«, wie Jost betont, gar nicht erfahren habe.[61] Die Ursache dafür sah Jost vor allem darin, dass die Bildung »hinter dem übrigen Europa bei weitem zurückgeblieben« sei.[62]

 82

Wie sehr das Europabild in Josts zeitgeschichtlicher Darstellung vom Begriff der Bildung und der europäischen Zivilisation geprägt ist, zeigt sich besonders, wenn er die Beziehungen der Juden Europas zu denjenigen in anderen Kontinenten schildert. Im Verhältnis zu Amerika changiert Josts Begriff von Europa dabei zwischen einem transatlantisch-westlichen, in dem Amerika miteingeschlossen ist, und einem allein auf das ›alte‹ Europa konzentrierten Begriff. In seiner Neueren Geschichte etwa heißt es, dass die Vereinigten Staaten von Amerika, in denen die Freiheit »der allgemein herrschende Grundsatz ist«, »als europäische Staaten zu betrachten sind«.[63] In seiner zuvor erschienenen zweibändigen Gesamtdarstellung hingegen hatte er Europa und Amerika noch voneinander unterschieden, und hervorgehoben, dass in dem Augenblick, als die neuen Ideen von Gleichheit und Freiheit in Europa durchbrachen, die Revolution in Amerika schon »alles, was in Europa erst das Werk vieler Mühe sein sollte« vollendet habe.[64] Die Türkei wiederum stand für Jost im Übergang zu den Ländern der asiatischen Despotie, auch wenn sich in der »europäischen Türkei« große jüdische Gemeinden wie diejenigen von Konstantinopel und Thessaloniki befänden.[65] So versäumte es Jost nicht darauf hinzuweisen, dass die Türkei »eben jetzt dem europäischen Geist sich immer mehr annähert«.[66] Hoffnungen auf eine zivilisatorische Entwicklung und eine Verbesserung der Lage der Juden hatte Jost »durch das Eindringen europäischer Cultur in Algier« auch für Nordafrika, auch wenn die dortigen Juden »kaum erst aus dem Dunkel« hervorgetreten seien. »Der Zustand der Israeliten ist darin, wie überall im Reiche des Islam, eine schmähliche Unterdrückung, Zurücksetzung, Absperrung«.[67] Die chinesischen Juden hingegen stünden »in keiner oder sehr lockerer Berührung mit der europäischen Cultur«, doch die Zeit wird auch sie, so Josts fortschrittsoptimistische und eurozentrische Sicht, »in den Kreis der geistigen Entwicklung hineinziehen, je weiter die europäische Gesittung nach dem Osten vordringt und die asiatische Trägheit überwindet«, wobei Jost hoffte, »dass nicht bloß Waffengewalt den Europäern eine solche Übermacht« verschaffen möge.[68]

»Die Lehre«, so fasste Jost die Ergebnisse seiner zeitgeschichtlichen Darstellung zusammen, »welche das gebildete Europa längst empfing, doch noch immer nicht beherzigt«, liege darin, dass jede Gesetzgebung, die Juden und Nichtjuden voneinander trenne, nicht auf der Höhe der Zeit sei und den »Keim des Verderbens« in sich trage.[69]

Welche Bedeutung die europäische Kultur für Jost hatte, zeigt sich auch in einem Brief, in dem Jost nicht nur Goethe und Lessing, sondern auch den englischen Dramatiker Shakespeare, den französischen Schriftsteller Alphonse Lamartine, den spanischen Dichter Petro Calderon und den Autor des portugiesischen Nationalepos Luis de Camoes als seine Lehrer bezeichnete.[70]

 83

Seine Aufgabe sah Jost darin, mit der Darstellung der jüdischen Vergangenheit die Juden der Gegenwart auf ihre aktuellen politischen Aufgaben und die Bestimmung ihrer Zeit vorzubereiten, und diese wiederum sah er in der bürgerlichen Gleichstellung und kulturellen Bildung der Juden. Hatte Jost mit seiner Arbeit an der jüdischen Geschichte in der frühen Phase der Emanzipation begonnen, so legte der italienische Rabbiner und Herausgeber der italienisch-jüdischen Zeitschrift Il Vessillo Israelitico, Flaminio Servi, kurz vor Abschluss der Emanzipationsgeschichte im Jahr 1871 ein Werk mit dem Titel Gli Israeliti d’Europa nella Civiltà vor, in dem er wie Jost einen zivilisatorischen Begriff von Europa entwickelte.[71] Im ersten Teil seines Buches gab Servi zunächst eine Darstellung der neueren Geschichte der Juden in Europa von 1789 bis 1870, in der er die jüdischen Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit mit Hilfe von Anekdoten illustrierte. Im zweiten Teil schilderte er eine große Zahl von Lebenswegen europäischer Juden, und den Abschluss seiner Publikation bilden schließlich umfangreiche statistische Angaben über die jüdische Bevölkerung in den verschiedenen Teilen Europas. Mit Jost verbindet Servi nicht nur die optimistische Perspektive auf die Zukunft, der Glaube an den Fortschritt und die Überzeugung von der Notwendigkeit einer bürgerlichen Bildung für die Juden, sondern auch der Blick auf und die Vorstellung von Europa. Schon im Vorwort seines Buches bekundete er seine Ansicht, dass mit der Zivilisation, die sich im 19. Jahrhundert in Europa durchgesetzt hat, »engherzige, fanatische und intolerante Ideen nicht mehr auf der Tagesordnung« stünden.[72] Daher müsse heute jedes Buch für die Brüderlichkeit und die Gleichheit aller Bürger eintreten. Sein Ziel sah Servi darin, seinen Mitbürgern das Engagement und die Aktivität der Juden im gegenwärtigen Jahrhundert vorzustellen und deutlich zu machen, welchen Beitrag sie »für die moralische und politische Widergeburt« der Nationen in Europa geleistet hätten. Es müsse, wie Servi in seiner Einleitung schrieb, ein Ruck durch die jüdische Jugend gehen und er rief sie auf: »Seht her, ihr Bürger, folgt den Gesetzen eurer Vaterländer und seid bereit, dafür zu kämpfen«.[73]

Seine historischen Kapitel wiederum begann Servi mit dem Bekenntnis, dass die Geschichte der Juden Europas von der, wie er schrieb, »glorreichen Französischen Revolution bis zu dem Moment, in dem wir dies schreiben, die Geschichte heroischer Taten und heroischen Fleißes« sei, die in Erinnerung behalten werden müsse. »Schweigen und Vergessenheit«, so Servi, »wären eine unverzeihliche Schuld«. Die heranwachsenden Generationen müssten wissen, »wie die Juden trotz aller Vorurteile und trotz der Ignoranz der verbissenen Feinde allen Fortschritts und trotz des freiheitsfeindlichen und religiösen Fanatismus«, für ihre Freiheit und Gleichberechtigung gekämpft hätten. »Von 1789 bis heute«, so heißt es weiter, hätten die Juden immer wieder ihre Vaterlandsliebe, ihre Brüderlichkeit und ihre Wohltätigkeit unter Beweis gestellt.[74]

In einer Tour d’Horizon über den Stand der bürgerlichen Gleichstellung in den verschiedenen Ländern Europas meinte Servi sogar, wenn auch in vorsichtigen Worten, in der jüngsten Entwicklung in Russland positive Zeichen erkennen zu können.[75] Sorgen bereitete ihm indes die Schweiz, wo Juden, wie Servi verwundert schrieb, in einigen Kantonen kein Wohnrecht hätten. Wie könne man den Widerspruch erklären, so fragte er, dass eine Republik den Juden die Bürgerrechte verweigere? Er war sich indes sicher, dass auch in der Schweiz die Einschränkungen verschwinden würden, denn die freie Schweiz werde es, so Servis Überzeugung, sicher nicht gerne sehen, »sich vom Zar und vom Sultan darüber belehren zu lassen, was Freiheit ist«.[76] Bedenken äußerte Servi schließlich über die Lage der Juden in Rumänien und den Donaufürstentümern, doch, so beschloss er seinen historischen Überblick, »wir verzweifeln nicht: Von 1789 bis heute, genießt fast die Hälfte der fünf Millionen Juden, die in etwa Europa bevölkern, vollständige Gleichheit, und von der anderen Hälfte sind zwei Drittel dabei, diese zu erreichen«.[77]

 84

Überraschenderweise ist auch Simon Dubnow, Autor einer zehnbändigen Weltgeschichte des jüdischen Volkes, die vorwiegend aus der Perspektive Osteuropas konzipiert wurde, in seiner intellektuellen Sozialisation von einem ähnlichen zivilisatorischen Begriff von Europa ausgegangen.[78] In seiner Autobiographie schildert Dubnow, wie er in seiner Jugend eine existentielle und religiöse Krise durchgemacht hatte, aus der er sich rettete, indem er »westeuropäische Ideen« aufnahm.[79] Entsetzt zeigte er sich auch in seiner Petersburger Zeit, in der er als Literaturkritiker und Redakteur einer jüdischen Zeitschrift tätig war, darüber, wie ein Schriftsteller, in dem er kurz zuvor noch ein Vorbild gesehen hatte, dem, wie Dubnow sich in seinen Memoiren ausdrückte, »europäischen Fortschritt den Kampf angesagt und sich dem Orient« zugewandt hatte.[80] Seine vordringliche Aufgabe sah Dubnow in dieser Zeit darin, die russisch-jüdischen Schriftsteller an »europäische Schreibmaßstäbe« heranzuführen, und so unterstützte er in einem Überblick über die moderne europäische Literatur etwa einen russischen Autor, der, so Dubnow, seinerseits eine »Europäisierung der literarischen Methoden« anstrebte.[81] Nachdem Leon Pinsker unter dem Eindruck der russischen Pogrome 1882 in seiner Schrift Autoemancipation dafür eingetreten war, dass die Juden zu ihrer nationalen Identität zurückkehren und einen jüdischen Staat bilden sollten, empörte sich Dubnow, dass Pinsker »alle unsere Hoffnungen auf eine bürgerliche Emanzipation und kulturelle Erneuerung im europäischen Geist zunichte« gemacht hätte. In jener Zeit war Dubnow noch, wie er sich ausdrückte, von »den Idealen des Europäertums« erfüllt.[82]

Dass für Dubnow zu diesen Idealen ganz besonders auch die Ideen von 1789 gehörten, zeigte sich in seinen Tagebuchaufzeichnungen des Jahres 1889, aus denen er in seinen Memoiren zitierte und in denen es heißt: »Es nähert sich der Jahrestag des größten historischen Ereignisses«, und »halb Europa«, so empörte er sich, »aber begegnet ihm voller Verachtung«.[83]

1890 ging Dubnow nach Odessa, weil diese Stadt für ihn ein »europäisch geprägtes jüdisches Zentrum« darstellte.[84] Angesichtes der erneut drohenden Pogrome plädierte er dafür, an die europäische Öffentlichkeit zu appellieren; er habe in jener Zeit noch, wie er in seinen Memoiren anfügt, an das »Gewissen Europas« geglaubt.[85] Scharf kritisierte er jede »Lossagung von Europa«, und seinen zionistischen Zeitgenossen hielt er entgegen, »die jüdische Diaspora habe ein historisches Anrecht auf ein Leben in Europa«.[86] In dieser Zeit entwarf Dubnow, er hatte gerade begonnen seine Geschichte der Juden zu konzipieren, eine neue Periodisierung der jüdischen Vergangenheit in eine orientalische Phase und eine westliche oder europäische Phase, eine Unterteilung, an der er auch in seiner 10bändigen Weltgeschichte des jüdischen Volkes festhielt.

 85

Die europäische Kultur schwebte Dubnow als Modell und Leitbild vor, und mit Entsetzen nahm er den Beginn des Ersten Weltkrieges wahr. Schon Ende Juli 1914 sah er, wie er in seinem Tagebuch schrieb, einen »europäischen Krieg« kommen, und am 2. August notierte er, dass ihm »vor dem Grauen des bevorstehenden Völkergemetzels, vor der Selbstausrottung Europas« trübe werde.[87] Er fühle sich, so schrieb er 1916 in seinem Tagebuch, »mitten im Zusammenbruch der europäischen Kultur«, und am Anfang des folgenden Jahres warnte er: »Das Jahr 1917 muß die Entscheidung im Weltenkataklysmus bringen. Sonst wird 1918 die Sonne über dem Leichnam Europas aufgehen«.[88]

Mit Entsetzen beobachtete er die Entwicklung der Revolution in Russland, die ihn vor allem auch deshalb erschütterte, weil er in den Bolschewiki die »Asiaten des Sozialismus« sah, und eine Lösung sah er nur dann, wenn, wie er sich ausdrückte, »das zivilisierte Europa in einem Kreuzzug gegen das bolschewistische Asien« ziehen werde.[89] Im November 1918 hoffte er, dass das »demokratische Westeuropa […] Russland aus der Umklammerung der Anarchie« befreien werde,[90] und mit Begeisterung nahm er im April 1919 die Gerüchte auf, Petersburg solle zu einer freien Stadt unter dem Protektorat Skandinaviens erklärt werden. »Man kann es kaum glauben«, notierte Dubnow in seinen Tagebüchern, es »wäre zu schön, um wahr zu sein; wir wären mit einem Mal losgelöst vom bolschewistischen Asien und würden mit Europa […] vereinigt«.[91] Zwei Jahre später, er hatte sich inzwischen entschieden, aus Russland auszuwandern, nahm er ein »schreckliches Anwachsen des Antisemitismus in Europa« wahr, und fügte die Bemerkung an: »Und dennoch will ich in dieses Europa emigrieren«.[92] Seinen Erinnerungen an die ersten Jahre, die er im Exil in Berlin verbrachte, gab er die Überschrift »Auf den Ruinen Europas«, und entsetzt musste er beobachten, wie die »Hoffnung auf einen europäischen Frieden« verlöschte.[93] 1924 aber schien ihm erneut das »fremde, lange vergessene Wort ›Friede‹« wieder »über dem Graben der verfeindeten Völker, die Europa heißen«, zu erklingen.[94] Im folgenden Jahr fragte er sich, ob der Locarnopakt »einen Beginn des Pazifismus in Europa einläuten« werde und notierte dazu in seinem Tagebuch: »Jetzt greift die Seele des alten Pazifisten erneut nach dem Strohhalm, um nicht in Hoffnungslosigkeit zu versinken«.[95]

Wie aufmerksam Dubnow die zeitgenössische Diskussion über die europäische Einigung verfolgte, an die auch seine eingangs zitierte Frage über die Vereinigten Staaten von Europa anknüpfte, zeigt sich nicht zuletzt an seinen Tagebuchnotizen zur Entwicklung der Pan-Europa-Bewegung des Grafen Coudenhove-Kalergi.[96] In diesen Bemerkungen Dubnows überlagerte sich der zivilisatorische mit dem dritten, hier vorzustellenden Begriff von Europa, dem emphatischen.

 86

III.

Dieser emphatische Begriff von Europa – jener Begriff, der sowohl auf die europäische Einigung als auch auf die Einheitlichkeit der Geschichte Europas zielte – ist im Kontext der jüdischen Geschichtsschreibung auch mit der besonderen Rolle, die die Juden in Europa und für Europa gespielt haben, verbunden.[97]

Auch wenn der ›Europagedanke‹ im engeren Sinne, also die Idee von der politischen Vereinigung, in der jüdischen Geschichtsschreibung eher marginal vertreten ist, so war er, wie die Tagebuchnotiz von Simon Dubnow aus dem Jahr 1925 zeigt, keineswegs unbekannt. 1919 etwa hatte der italienisch-jüdische, sozialistisch-republikanische politische Schriftsteller Felice Momigliano, der an der Universität Rom Philosophie lehrte und sich vielfach mit der Geschichte der Juden und Fragen der jüdischen Kultur und Tradition auseinandergesetzt hatte, eine kleine Schrift über den föderalistischen Politiker des italienischen Risorgimento Carlo Cattaneo und die Idee der vereinigten Staaten von Europa geschrieben, in der er an Cattaneos Plädoyer für die rechtliche Gleichstellung der Juden, vor allem aber an dessen föderalistische Idee eines vereinigten Europa erinnerte.[98] »Frieden werden wir nur dann haben«, wie Momigliano aus einer Schrift Cattaneos von 1849 zitiert, »wenn wir die Vereinigten Staaten von Europa haben«.[99]

Nicht zufällig hatte in dem historischen Kontext, in dem Carlo Cattaneos Plädoyer für die Vereinigung Europas stand, auch der polnische politische Schriftsteller Jan Czynski, Sohn jüdischer Eltern, die zum Christentum übergetreten waren, die polnisch-jüdische Frage als eine europäische Frage bezeichnet,[100] und ein weiterer polnischer Autor, Józefa Czecha, hatte seinerseits eine kurze Darstellung der Geschichte der Juden in Europa vorgelegt.[101]

Insbesondere im Zusammenhang mit der Arbeiterbewegung und der Entstehung des Pazifismus kamen auch jüdische Autoren auf die Idee der Einheit Europas zurück. So hatte der jüdisch-freidenkerische Pazifist und Journalist Eduard Loewenthal 1869 in Dresden den Europäischen Unionsverein ins Leben gerufen, der das Ziel hatte, einen europäischen Staatenbund zu gründen,[102] und auch der Herausgeber der Sozialistischen Monatshefte Joseph Bloch setzte sich für die Vereinigung Europas ein, auch wenn dessen Konzeption von Europa eher auf eine kontinentaleuropäische Vereinigung und gegen Großbritannien und dessen Empire gerichtet war.[103]

 87

Insbesondere in dem historischen Augenblick, in dem das Leben der Juden in Europa vom nationalsozialistischen Deutschland bedroht war, hatte der Schriftsteller und Literaturkritiker der Vossischen Zeitung Arthur Eloesser eine populärwissenschaftliche und gemeinverständliche Darstellung über das Judentum im literarischen Leben des 19. Jahrhunderts unter dem programmatischen Titel Vom Ghetto nach Europa vorgelegt.[104] Welchen Wert der Autor auf diesen Titel legte, machte der erste Satz seines Vorwortes deutlich, in dem es heißt: »Der Titel eines Buches […] soll seinen Inhalt nicht erschöpfen, sondern nur andeuten«; er hoffe, so fuhr Eloesser fort, mit diesem Titel »den richtigen Anschlag gegeben zu haben«. Ausgangspunkt seiner gleichwohl auf das deutsche Judentum konzentrierten Darstellung war das 18. Jahrhundert, denn »es ist die Ära der Aufklärung, ihr Verspechen von Toleranz und Humanität, die das Judentum zuerst in Bewegung und auf den Weg nach Europa gebracht hat«.[105] Moses Mendelssohn, so führte er im ersten Kapitel aus, habe »in der europäischen Republik des Geistes« weithin »Bewunderung und Verehrung« gefunden, doch seien auch ihm »Demütigungen oder Kränkungen« nicht erspart geblieben.[106] Ludwig Börne und Heinrich Heine hätten beide versucht, zu einem kulturellen Austausch und einer gegenseitigen Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich beizutragen, weil allein deren Einigkeit, wie Eloesser schreibt, für »ein freies und großmütiges Europa« bürgen würde.[107] Selbst Samson Raphael Hirsch, der Begründer der Neoorthodoxie habe sich »ohne Furcht vor moderner Bildung und Wissen aus dem Ghetto nach Europa« begeben.[108] Eloesser beschloss seine Darstellung mit einer Bemerkung über den Schriftsteller Berthold Auerbach, der von der antisemitischen Bewegung »tief verstört« war: »Die Fahrt ging immer noch vom Ghetto nach Europa und als er [Auerbach. U. W. ] die Küste schon erreicht zu haben glaubte, war sein Schiff gescheitert.«[109]

 88

Handelte es sich bei Momigliano, Loewenthal, Bloch und Eloesser um politisch engagierte Juden, die sich immer wieder auch zu Fragen der jüdischen Vergangenheit und Gegenwart geäußert haben, so war Alfred Stern ein jüdischer Historiker, dessen Hauptwerk sich nicht auf die jüdische Geschichte selbst bezog, sondern eine 10bändige Geschichte Europas im 19. Jahrhundert darstellte. Der 1846 geborene Stern hatte in Heidelberg, Göttingen und Berlin Rechtswissenschaften, Geschichte und Nationalökonomie studiert und über den deutschen Bauernkrieg promoviert.[110] Nach seinem Studium war er zunächst im badischen Landesarchiv in Karlsruhe tätig und habilitierte sich 1872 an der Universität Göttingen mit einer Arbeit über John Milton und die Geschichte Englands im 17. Jahrhundert.[111] 1873 wurde Stern an der Universität Bern zum ordentlichen Professor für Geschichte ernannt und publizierte in dieser Zeit unter anderem Abhandlungen über die preußische Reformationszeit oder eine Darstellung der Englischen Revolution. 1887 erhielt er einen Ruf an das eidgenössische Polytechnikum Zürich, wo er zunächst eine zweibändige Biographie Graf Honoré Gabriel du Riqueti von Mirabeau vorlegte. Gleichzeitig begann er mit der Arbeit an seiner von einem demokratischen Standpunkt aus geschriebenen Geschichte Europas im 19. Jahrhundert, für die er umfängliche Quellenstudien in den Archiven zahlreicher europäischer Städte durchführte.[112] Wie Stern in seinen autobiographischen Aufzeichnungen hervorhob, ging es ihm darum, »die Verflechtung der nationalen und der universalen Geschichte nachzuweisen«.[113]

In seinem programmatisch auf den 14. Juli datierten Vorwort zum ersten, 1894 erschienenen Band schrieb Stern, er habe seine Arbeit in der Überzeugung begonnen, »daß trotz der lebensvollen Mannichfaltigkeit der einzelnen Erscheinungsformen die europäische Menschheit auch im neunzehnten Jahrhundert eine Gemeinschaft bildet«,[114] und in der Einleitung sprach Stern zugleich von der »Ideen- und Interessengemeinschaft der europäischen Völker«.[115] Im Vorwort zu dem 1916 erschienenen siebten Band aber musste er resigniert feststellen: »Heute möchten diese Worte vielen Lesern als ein Hohn erscheinen«. Der Krieg, so fuhr er fort, habe »die Ideen- und Interessengemeinschaft der europäischen Völker zerrissen«, und es sei noch nicht abzusehen, »wann in den Völkern Europas […] das Gefühl einer inneren Zusammengehörigkeit wieder aufdämmern wird«. Gleichwohl gab er seiner Hoffnung Ausdruck und fuhr fort, »es hieße an der Zukunft Europas verzweifeln, wollte man diesen Zustand als einen für immer dauernden ansehen. Die gemeinsamen Wurzeln der gesamteuropäischen Kultur sind zu stark, als daß sie durch das Wüten des Orkans, der jetzt über den Erdteil hinbraust, zerstört werden könnten«.[116] Dennoch schrieb er im Vorwort zu dem 1924 vorgelegten zehnten und letzten Band, dass auch der »angebliche Friede« die »Ideen und Interessengemeinschaft« »noch nicht wieder hergestellt« habe.[117]

 89

In die jüdische Geschichtsschreibung im engeren Sinne hat die Idee der Einheit Europas zwar weniger Eingang gefunden. Angesichts der Bedrohungen, denen die europäischen Juden durch den Antisemitismus ausgesetzt waren, verteidigten jüdische Historiker jedoch umso nachdrücklicher die zivilisatorischen Errungenschaften Europas und das Engagement der Juden für die europäische Kultur. Schon 1910 hatte der britisch-jüdische Historiker Lucien Wolf in seinem Stichwort »Antisemitismus« für die Encyclopaedia Britannica emphatisch geschrieben, die Juden seien Europäer aufgrund ihrer alten Ansiedlung in der westlichen Welt und aufgrund der Prägungen, die sie durch ihre europäische Geschichte erhalten hätten.[118] Insbesondere angesichts der Gefahren, die den Juden in Europa durch das nationalsozialistische Deutschland drohten, hatte der ebenfalls britisch-jüdische Historiker Cecil Roth nachdrücklich den Beitrag der Juden für die Entstehung und Entwicklung der europäischen Zivilisation betont. »Antisemiten«, so schrieb er im Dezember 1937 im Vorwort zu seinem Werk The Jewish Contribution to Civilsation, »würden behaupten, dass Juden eine fremdartige Wucherung im europäischen Leben darstellten.«[119] demgegenüber betonte Roth, dass es keinen Aspekt der Zivilisation gebe, den Juden nicht bereichert hätten, ein Gedanke, für den er eine Fülle von Belegen aus den unterschiedlichsten Wissenschaften, den verschiedensten kulturellen Bereichen sowie dem öffentlichen Leben bot. »Für zweitausend Jahre«, so schloss Roth seine Darstellung, »bildeten die Juden einen Teil von Europa«, und über die ganze Zeit hinweg, und besonders im letzten Jahrhundert, hätten sie einen wesentlichen Beitrag zu dem gemeinsamen Erbe geleistet. [120] Im Januar 1938 hielt Roth dann auf einer Versammlung der Jewish Historical Society of England einen Vortrag mit dem emphatischen Titel: »The Jew as a European«. Die neue Flut des Antisemitismus, so betonte Roth darin, die ihren Ursprung im nationalsozialistischen Deutschland habe, unterscheide sich stark von den bisher bekannten Formen von Fremdenfeindlichkeit und den überlieferten antijüdischen Vorurteilen. Sie vergifte das europäische Leben und greife die Juden als ein Kollektiv an. Die Antisemiten würfen den Juden vor, einem fremden asiatischen Stamm anzugehören. Daher, so Roths Plädoyer, reiche es nicht aus, heute Position als Engländer, Franzose oder Italiener zu ergreifen. »Wir müssen weitergehen, und unsere Position als Europäer, als Bürger der westlichen Welt zu behaupten«. Die Juden, so führte Roth aus, seien nicht nur einfache Europäer, »they are in many respects quintessentially Europeans«. Sie hätten in herausragender Weise einen Beitrag zur Entwicklung des intellektuellen Lebens in Europa geleistet, so dass Roth formuliert: »The Jews, then, are a European people«.[121]

 90

IV.

Einen emphatischen Begriff von Europa hat die jüdische Geschichtsschreibung vor allem in dem historischen Moment entwickelt, als die bürgerlichen Rechte der Juden in den europäischen Staaten angegriffen wurden und die Juden in Europa in ihrer Existenz bedroht waren. Eine Folge dieser Ausgrenzung war zugleich, dass am Ende der hier zu behandelnden Zeit ein vierter Begriff von Europa in der jüdischen Geschichtsschreibung aufkam, indem in der zionistischen Geschichtsschreibung Europa nur mehr als Raum des Exils, als Ort der Diaspora, erschien.[122]

Stand in dem emphatischen Begriff von Europa die besondere Bedeutung der Juden für die Entstehung und Entwicklung der europäischen Zivilisation im Zentrum, so hatte die jüdische Geschichtsschreibung im Zeitalter der Emanzipation zugleich einen zivilisatorischen Begriff von Europa entworfen, der paradoxerweise genau im entgegengesetzten Sinne darauf zielte, die jüdische Bevölkerung an die europäische Kultur heranzuführen. Daneben stand in der europäisch-jüdischen Geschichtsschreibung im 19. und frühen 20. Jahrhundert ein geschichtsräumlicher Begriff von Europa als wichtigstes Siedlungsgebiet neben Afrika, Asien und Amerika, ohne dass jedoch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede reflektiert worden wären. Diese drei hier vorgestellten Europabilder lassen sich jedoch nicht trennscharf voneinander abgrenzen, vielmehr überlappen sie sich und gehen gelegentlich auch ineinander über. Überschneidungen zwischen den drei Ebenen ergeben sich insbesondere dann, wenn von der Französischen Revolution und dem Projekt der Emanzipation die Rede ist. Im Pathos für die Ideen von 1789 mischten sich mitunter die emphatischen und zivilisatorischen Momente auch dann, wenn sie von Autoren kamen, die sonst eher einen Begriff von Europa als einem Geschichts- und Erfahrungsraum hatten wie etwa Heinrich Graetz oder Martin Philippson.

Der positive Bezug auf die Französische Revolution und das emanzipatorische Paradigma ist schließlich von Salo W. Baron, Autor einer 18 Bände umfassenden sozial- und religionsgeschichtlichen Darstellung der Geschichte der Juden, nachhaltig in Frage gestellt worden. Schon in einem 1928 veröffentlichen Aufsatz hatte er dafür plädiert, »sich von der tränenreichen Theorie der vorrevolutionären Leidensgeschichte zu verabschieden«.[123] In seiner Social and Religious History of the Jews hatte Baron zwar ein genaues Gespür für die Entwicklung der jüdischen Geschichte in allen Teilen Europas, mithin eine europäische Perspektive, auch sprach er im einleitenden Kapitel zum ersten Band davon, dass die emanzipierten Juden als Juden und Europäer am Scheitern der großen Hoffungen gelitten hätten,[124] Gleichwohl war Europa für Baron keine die historische Überlieferung strukturierende Kategorie. Er betonte weniger die europäischen als vielmehr die weltgeschichtlichen Dimensionen der jüdischen Geschichte.[125]

 91

Schließlich sind auch Konzeptionen der jüdischen Geschichte formuliert worden, die gänzlich ohne einen Begriff von Europa auskamen. So hatte schon 1919 Ismar Elbogen eine universalgeschichtliche Darstellung der Geschichte der Juden vorgelegt, in der Europa als historischer Raum und als Ort jüdischer Geschichte nicht genannt wurde. Die Geschichte der Juden im Mittelalter unterteilte Elbogen in diejenige in den islamischen und den christlichen Ländern, und für die neuzeitliche jüdische Geschichte griff er auf die Unterscheidung zwischen den von ihm so genannten »portugiesischen« und »deutschen«, also auf die sephardischen und aschkenasischen Juden als strukturierende Begriffe zurück.[126]

Elbogen stellt indes eher eine Ausnahme dar. Bezeichnend für die Entwicklung der jüdischen Geschichtsschreibung in Europa ist nicht nur, dass in ihr sich drei unterschiedliche Begriffe von Europa überlagerten, sondern darüber hinaus, dass zahlreiche jüdische Historiker in ihren wissenschaftlichen Werdegängen gleichsam transnationale europäische Lebenswege zurückgelegt hatten, in ihrer Arbeit als Historiker in europäische wissenschaftliche Netzwerke integriert waren und zahlreiche Werke in unterschiedliche Sprachen übersetzt wurden.[127]

Was die verschiedenen Konzeptionen der Geschichte der Juden schließlich verbindet, ist die Tatsache, dass die jüdische Geschichte vom 10. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts sich in erster Linie in Europa abgespielt hat, dass diese Epoche gleichsam als das »europäische Zeitalter der jüdischen Geschichte«, wie dies zuerst Cecil Roth formuliert hat, bezeichnet werden kann.[128]

Für die Fragen an die europäische Geschichte und die Überlegungen zu einer neuen Konzeptualisierung der Geschichte Europas heißt dies nicht nur, dass eine europäische Geschichte ohne die Geschichte der Juden nicht zu denken ist.[129] Die Geschichte der Juden in Europa kann vielmehr dazu beitragen, eine Geschichte Europas zu schreiben, die nicht nur eine Addition mehrere National- oder Regionalgeschichten darstellt, sondern eine konzeptionell als Synthese angelegte und aus einem dezidiert europäischen Blickwinkel geschriebene Geschichte. So hatte schon Heinrich Graetz den »Grenzpfahl-Patriotismus« zeitgenössischer Juden kritisiert, der darauf hinausliefe, »daß der deutsche Jude vor allem ganz Deutscher, der französische ganz Franzose sei, und so durch ganz Europa«.[130]

 92

Für kritische Lektüre und hilfreiche Anregungen danke ich Christhard Hoffmann sehr herzlich.

Literaturverzeichnis

Baron, Salo Wittmayer: A Social and Religious History of the Jews, 18 Bde., 2. Aufl., New York 1952–1983.

Battenberg, Friedrich: Das europäische Zeitalter der Juden. Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas, 2 Bd., Darmstadt 1990.

Brenner, Michael: Propheten der Vergangenheit. Jüdische Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert, München 2006.

Brenner, Michael u. a. (Hg.), Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen, Positionen, Kontroversen, München 2002.

Brenner, Michael u. a. (Hg.), Jüdische Geschichte lesen. Texte der jüdischen Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert, München 2003.

Castelli, David: Gli ebrei. Sunto di storia, politica e letteraria, Firenze 1899.

Cavaglion, Alberto: Felice Momigliano (1866 – 1924). Una biografia, Bologna 1988.

Czecha, Józefa: Rys krótki ludu zydowskiego w Europie, jako wstep do dziejów ludu tegoz na ziemi polskiej, [Eine kurze Darstellung des jüdischen Volkes in Europa als eine Einführung in die Geschichte dieses Volkes in Polen], Krakau 1834.

Czynski, Jan: La question des Juifs polonais envisagée comme question européenne, Paris 1833.

Diner, Dan: Geschichte der Juden – Paradigma einer europäischen Historie, in: Gerald Stourzh (Hg.), Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung, Wien 2002, S. 85–103.

Di Porto, Bruno: »Il Vessillo Israelitico«. Un vessillo ai venti di un’epoca tra Otto e Novecento, in: Materia giudaica. Rivista dell’Associazione Italiana per lo Studio del Giudaismo, anno VII (2002), N. 2, S. 349–383.

Dohrn, Verena: Einführung, in: Simon Dubnow, Buch des Lebens. Erinnerungen und Gedanken. Materialien zur Geschichte meiner Zeit, Bd. 1, Göttingen 2005, S. 11–45.

Dubnow, Simon: Weltgeschichte des jüdischen Volkes. Von seinen Uranfängen bis zur Gegenwart, 10 Bde., Berlin 1925–1929.

Dubnow, Simon: Buch des Lebens. Erinnerungen und Gedanken. Materialien zur Geschichte meiner Zeit, 3 Bde., Göttingen 2005.

Elbogen, Ismar, Die Geschichte der Juden in Deutschland. Eine Einführung, Berlin 1935.

Eloesser, Arthur: Vom Ghetto nach Europa. Das Judentum im geistigen Leben des 19. Jahrhunderts, Berlin 1936.

Encyclopaedia Judaica: Stichwort »Population«, Bd. 16, 2. Aufl., Jerusalem 2007, Sp. 396f.

Engelhardt, Arndt: Die Encyclopaedia Judaica. Verhandlung von Deutungshoheit und kollektiver Zugehörigkeit in jüdischen Enzyklopädien der Zwischenkriegszeit, in: Paul Michel and Madeleine Herren (Hg.), Allgemeinwissen und Gesellschaft. Akten des internationalen Kongresses über Wissenstransfer und enzyklopädische Ordnungssysteme vom 18. bis 21. September 2003 in Prangins, Online (http://www.enzyklopaedie.ch/kongress/publikation.htm).

 93

Gans, Eduard: Gesetzgebung über Juden in Rom, in: Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums, Berlin 1822, S. 25–67, 231–276.

Gans, Eduard: Vorlesungen über die Geschichte der Juden im Norden von Europa und in den slavischen Ländern, in: Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums. Hg. vom Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden, Berlin 1822, S. 95–113.

Glatzer, Nahum N.: Aus unveröffentlichten Briefen von I. M. Jost, in: Hans Tramer (Hg.), In zwei Welten. Siegfried Moses zum 75. Geburtstag, Tel Aviv 1962, S. 400–413.

Glatzer, Nahum N. (Hg.): Leopold Zunz. Jude – Deutscher – Europäer. Ein jüdisches Gelehrtenschicksal des 19. Jahrhunderts in Briefen an Freunde, Tübingen 1964.

Graetz, Heinrich: Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Aus den Quellen neu bearbeitet, 11 Bde., (1853–1876); Zitiert nach der Ausgabe letzter Hand, Leipzig 1908 [Reprint Berlin 1998].

Heine, Heinrich: Aphorismen und Fragmente, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 4, Schriften zu Literatur und Politik II – Vermischtes, Düsseldorf, Zürich 1972.

Herzig, Arno: Juden und Judentum in der sozialgeschichtlichen Forschung, in: Wolfgang Schieder, Volker Sellin (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland, Bd. IV, Göttingen 1987, S. 108–132.

Hoffmann, Christhard: Jüdische Geschichtswissenschaft in Deutschland. 1918–1938. Konzepte, Schwerpunkte, Ergebnisse, in: Julius Carlebach (Hg.), Wissenschaft des Judentums, Darmstadt 1992, S. 132–152.

Jost, Isaak Marcus: Geschichte der Israeliten seit der Zeit der Maccabäer bis auf unsere Tage, 9 Bde., Berlin 1820–1828.

Jost, Isaac Marcus: Allgemeine Geschichte des Israelitischen Volkes, sowohl seines zweimaligen Staatslebens als auch der zerstreuten Gemeinden und Sekten, bis in die neueste Zeit, in gedrängter Übersicht, zunächst für Staatsmänner, Rechtsgelehrte, Geistliche und wissenschaftlich gebildete Leser, in zwei Bänden, Berlin 1832.

Jost, Isaac Marcus: Neuere Geschichte der Israeliten (in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts), 3 Bde., Breslau 1846/47.

Jost, Isaak Markus: Geschichte des Judentums und seiner Sekten, 3 Bde., Leipzig 1857–1859.

Loewenthal, Eduard: Mein Lebenswerk auf sozialpolitischem, neu-religiösem, philosophischem und naturwissenschaftlichem Gebiete. Memoiren, Berlin 1910.

Momigliano, Felice: Carlo Cattaneo e gli stati uniti d’Europa, Milano 1919.

Myers, David N.: Re-Inventing the Jewish Past. European Jewish Intellectuals and the Zionist Return to History, New York 1995.

LuzzattoVoghera, Gadi, Die jüdische Geschichtsschreibung in Italien, in: Ulrich Wyrwa (Hg.), Judentum und Historismus. Zur Entstehung der jüdischen Geschichtswissenschaft in Europa, Frankfurt/M., New York, 2003, S.117–130.

Philippson, Martin: Neueste Geschichte des jüdischen Volkes, 3 Bde., Berlin 1907–1911.

 94

Reissner, Hans Günther: Eduard Gans. Ein Leben im Vormärz, Tübingen 1965.

Reichnach, Théodore: Histoire des Israélites depuis l’époque de leurs dispersion jusqu’à nos jours [1884], 5. Aufl., Paris 1914.

Römer, Nils: Heinrich Graetz (1817–1891), in: Schlesische Lebensbilder, hrsg. von Arno Herzig im Auftrag der Historischen Kommission für Schlesien, Bd. 8, Neustadt a. d. Aisch 2004, S. 190–195.

Roth, Cecil: The Jewish Contribution to Civilisation, London 1938.

Roth, Cecil: The Jew as a European. Presidential Address Delivered Before the Jewish Historical Society of England, January 2nd 1938, London 1938.

Roth, Cecil: The European Age in Jewish History (to 1648), in: Louis Finkelstein (Hg.), The Jews. Their History, 4. Aufl., New York 1970, S. 225–304.

Schmidt, Ingrid: Martin Philippson – biographische Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Unveröff. Magisterarbeit, Berlin 1988.

Schulin, Ernst: ›Das geschichtlichste Volk‹. Die Historisierung des Judentums in der deutschen Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Ders., Arbeit an der Geschichte. Etappen der Historisierung auf dem Weg zur Moderne, Frankfurt/M., New York 1997, S. 114–163.

Schulte, Christoph, Die jüdische Aufklärung, München 2002.

Servi, Flaminio: Gli israeliti d‘ Europa nella civiltà. Memorie storiche, biografiche e statistiche da 1789 ad oggi, Torino 1871.

Siemsen, Anna (Hg.): Ein Leben für Europa. In memoriam Joseph Bloch, Frankfurt/M. 1956.

SimonNahum, Perrine, Jüdische Historiographie im Frankreich des 19. Jahrhunderts, in: Ulrich Wyrwa, (Hg.), Judentum und Historismus. Zur Entstehung der jüdischen Geschichtswissenschaft in Europa, Frankfurt/M., New York, 2003, S. 91–116.

Staal, Levie David: Israel onder de Volkeren. Schets der Joodsche Geschiedenis van de Grieksche overeersching tot heden. Een boek voor school en huis, Zutphen 1906.

Stern, Alfred: Über die zwölf Artikel der Bauern aus dem Jahre 1525, Phil. Diss., Göttingen 1868.

Stern, Alfred: John Milton und seine Zeit. 2 Bde., Berlin 1875.

Stern, Alfred, Geschichte Europas, seit den Verträgen von 1815 bis zum Frankfurter Frieden von 1871, 10 Bde., Stuttgart, Berlin 1894–1924.

Stern, Alfred: Wissenschaftliche Selbstbiographie, Zürich, Leipzig 1932.

Wischnitzer, Mark: Die Juden in der Welt. Gegenwart und Geschichte des Judentums in allen Ländern, Berlin 1935.

Wolf, Lucien: Anti-Semitism, in: The Encyclopaedia Britannica. A dictionary of Arts, Sciences, Literature, and General Information, 11th edition, Vol. 2, New York 1910, S. 134–146.

Wyrwa, Ulrich: Die europäischen Seiten der jüdischen Geschichtsschreibung. Eine Einführung, in: Ders. (Hg.), Judentum und Historismus. Zur Entstehung der jüdischen Geschichtswissenschaft in Europa, Frankfurt/M., New York, 2003, S. 9–36.

Wyrwa, Ulrich: Narratives of Jewish Historiography in Europe, in: Stefan Berger, Chris Lorenz (Hg.), The Nation and its Other. Ethnicity, Religion, Class and Gender (European Science Foundation, National Histories in Europe Vol. 2).

Wyrwa, Ulrich, Jüdische Geschichtsschreibung als histoire croisée. Intellektuelle Biographien von jüdischen Historikern in Europa, [Erscheint demnächst].

Zunz, Leopold: Gesammelte Schriften, 3 Bde., Berlin 1875/1876.

 95

ANMERKUNGEN

[*] Ulrich Wyrwa, Dr. habil., Privatdozent am Historischen Institut der Universität Potsdam und Projektleiter am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin.

[1] Jost, Neuere Geschichte Bd. 3, S. VII; zu Jost s. Brenner, Propheten der Vergangenheit, S. 54–59; Wyrwa, Die europäischen Seiten der jüdischen Geschichtsschreibung, S. 17–21.

[2] Graetz, Geschichte der Juden, Bd. 9, S. 313; zu Heinrich Graetz s.: Brenner, Propheten der Vergangenheit, S. 79–111; Römer, Graetz.

[3] Dubnow, Buch des Lebens, Bd. 3, S. 108; zu Dubnow s.: Brenner, Propheten der Vergangenheit, S. 129–146; Dohrn, Einführung.

[4] Dubnow, Buch des Lebens, Bd. 1, S. 304, 343.

[5] EncyclopAedia Judaica, Population 2007, Bd. 16, Sp. 396f.

[6] Zur Entwicklung der jüdischen Geschichtsschreibung s.: Herzig, Juden und Judentum in der sozialgeschichtlichen Forschung; Brenner, Propheten der Vergangenheit; Brenner, Jüdische Geschichte lesen; zur aktuellen Diskussion s.: Brenner, Jüdische Geschichtsschreibung.

[7] Graetz, Geschichte der Juden, Bd. 1, S. 3; Bd. 4, S. 266, 344f.

[8] Ebd. Bd. 5, S. 34.

[9] Ebd. Bd. 5, S. 202.

[10] Ebd. Bd. 5, S. 248.

[11] Ebd. Bd. 6, S. 82.

[12] Ebd. Bd. 6, S. 189.

[13] Ebd. Bd. 7, S. 243.

[14] Ebd. Bd. 7, S. 330.

[15] Ebd. Bd. 9, S. 356.

[16] Ebd. Bd. 10, S. 27.

[17] Ebd. Bd. 11, S. 177.

[18] Ebd. Bd. 11, S. 428.

[19] Ebd. Bd. 11, S. 548.

[20] Zu Theodor Reinach s.: Simon-Nahum, Historiographie des Judentums in Frankreich, S. 112–114; Brenner, Propheten des Vergangenen, S. 69f.

[21] Reinach, Histoire des Israélites, S. 305.

[22] Ebd., S. 310–370.

[23] Ebd., S. 306f.

[24] Zu Castelli s.: Luzzatto-Vogher, Die jüdische Geschichtsschreibung in Italien, S. 117f.

[25] Castelli, Gli Ebrei, S. VIII.

[26] Ebd. S. 397.

[27] Ebd. S. 402.

[28] Ebd. S. 428.

[29] Ebd. S. 445–447.

[30] Zu Philippson s.: Schmidt, Martin Philippson; Wyrwa, Die europäischen Seiten der jüdischen Geschichtsschreibung, S. 28–30.

[31] Philippson, Neueste Geschichte des jüdischen Volkes, Bd. 1, S. 3.

[32] Ebd. S. 230.

[33] Schmidt, Martin Philippson, S. 54.

[34] Staal, Israel onder de Volkeren; zu Staal s.: Brenner, Propheten des Vergangenen, S. 317f.

[35] Staal, Israel onder de Volkeren, S. 134–151.

[36] Engelhardt, Die Encyclopaedia Judaica, S. 4.

[37] Wischnitzer, Die Juden in der Welt, S. 3.

[38] Ebd. S. 5.

[39] Ebd. S. 7.

[40] Schulte, Die jüdische Aufklärung, S. 114–118.

[41] Gans, Vorlesungen über die Geschichte der Juden, S. 95–113; zu Gans s. Reissner, Eduard Gans.

[42] Gans, Halbjähriger Bericht, April 1822, zit. nach: Reissner, Eduard Gans, S. 71f.

[43] Ebd. S. 87.

[44] Zu Zunz s.: Glatzer, Leopold Zunz. Jude – Deutscher – Europäer.

[45] Zunz, Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden [1832], in: Ders., Gesammelte Schriften Bd. 1, S. 32.

[46] Zunz, Beleuchtung der Théorie du judaisme [1830], in: Ebd. S. 271.

[47] Zunz, Juden [1845], in: Ebd. S. 86–99.

[48] Zunz, Stenographischer Bericht, in: Ebd. S. 302.

[49] Zunz, Selbstregierung [1864], in: Ebd. S. 347.

[50] Zunz, Revolution [1865], in: Ebd. S. 353f.

[51] Zunz, Die hebräischen Handschriften in Italien [1864], in: Ebd. Bd. 2, S. 1.

[52] Heine, Aphorismen, S. 706.

[53] Zu Jost s.: Schulin, »Das geschichtlichste Volk«, S. 138–142.

[54] Jost, Geschichte der Israeliten, Bd. 1, S. VIII.

[55] Jost, Neuere Geschichte der Israeliten, Bd. 1, S. 16.

[56] Jost, Geschichte des Judentums und seiner Sekten, Bd. 3, S. 285.

[57] Jost, Allgemeine Geschichte des Israelitischen Volkes, Bd. 1, S. 544.

[58] Jost, Neuere Geschichte der Israeliten, Bd. 1, S. 43.

[59] Ebd. Bd. 2, S. 87.

[60] Ebd. S. 242.

[61] Ebd. S. 289.

[62] Ebd. S. 324.

[63] Ebd. S. 3.

[64] Jost, Allgemeine Geschichte des Israelitischen Volkes, Bd. 2, S. 494.

[65] Jost, Neuere Geschichte, Bd. 2, S. 325.

[66] Ebd. S. 3.

[67] Ebd. S. 219.

[68] Ebd. S. 338.

[69] Ebd. S. 382.

[70] Glatzer, Aus unveröffentlichten Briefen von Jost, S. 411.

[71] Servi, Gli Israeliti d’Europa nella Civiltà; zu Servi s.: Di Porto, »Il Vessillo Israelitico«, S. 349f.

[72] Servi, Gli Israeliti d’Europa nella Civiltà, S. 5.

[73] Ebd. S. 10.

[74] Ebd. S. 15–17.

[75] Ebd. S. 110.

[76] Ebd. S. 111.

[77] Ebd. S. 112.

[78] Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes; zu Dubnow s.: Dohrn, Einführung.

[79] Dubnow, Buch des Lebens, Bd. 1, S. 127.

[80] Ebd. S. 167.

[81] Ebd. S. 182.

[82] Ebd. S. 188.

[83] Ebd. S. 251.

[84] Ebd. S. 272.

[85] Ebd. S. 283.

[86] Ebd. S. 304.

[87] Ebd., Bd. 2, S. 154.

[88] Ebd. S. 211.

[89] Ebd. S. 275.

[90] Ebd. S. 276.

[91] Ebd. S. 289.

[92] Ebd. S. 331.

[93] Ebd. Bd. 3, S. 75.

[94] Ebd. S. 97.

[95] Ebd. S. 108.

[96] Ebd. S. 145.

[97] Diner, Geschichte der Juden – Paradigma einer europäischen Historie.

[98] Momigliano, Carlo Cattaneo e gli stati uniti d’Europa; zu Momigliano s.: Cavaglion, Felice Momigliano.

[99] Momigliano, Carlo Cattaneo e gli stati uniti d’Europa, S. 54.

[100] Czynski, La question des Juifs polonais envisagée comme question européenne.

[101] Czecha, Rys krótki ludu zydowskiego w Europie; ein Hinweis auf diese Schrift findet sich in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz I HA, Rep. 77, Abt. II, Sekt. 9, Tit. 2, Gen. Nr. 53; für das Aufspüren des polnischen Originals danke ich Maciej Moszyński.

[102] Loewenthal, Mein Lebenswerk, S. 32f.

[103] Siemsen, Ein Leben für Europa. In memoriam Joseph Bloch.

[104] Eloesser, Vom Ghetto nach Europa.

[105] Ebd. S. 10.

[106] Ebd. S. 28.

[107] Ebd., S. 96.

[108] Ebd., S. 240.

[109] Ebd. S. 289.

[110] Stern, Über die zwölf Artikel der Bauern aus dem Jahre 1525.

[111] Stern, Milton und seine Zeit.

[112] Stern, Wissenschaftliche Selbstbiographie, S. 23–27.

[113] Ebd. S. 26.

[114] Stern, Geschichte Europas, Bd. 1, S. VII.

[115] Ebd. Bd. 1, S. 2.

[116] Ebd. Bd. 7, S. V–VI.

[117] Stern, Geschichte Europas, Bd. 10, S. V.

[118] Wolf, Antisemitism, S. 134–146.

[119] Roth, The Jewish Contribution to Civilisation.

[120] Ebd., S. 279.

[121] Roth, The Jew as a European, S. 3, 11.

[122] Zur Entstehung und Entwicklung der zionistischen Geschichtsschreibung s.: Myers, David N.: Re-Inventing the Jewish Past. Zur zionistischen Geschichtsschreibung als dem vierten Narrativ der jüdischen Historiographie neben dem universalgeschichtlichen, dem regional- und lokalgeschichtlichen sowie dem liberal-staatsbürgerlichen, s.: Wyrwa, Narratives of Jewish Historiography in Europe.

[123] Baron, Ghetto und Emanzipation (1928), in: Brenner, Jüdische Geschichte lesen, S. 229–241, hier S. 241.

[124] Baron, A Social and Religious History of the Jews, Bd. 1, S. 21; s. a. Ders., Sozial- und Religionsgeschichte der Juden (1952), in: Brenner, Jüdische Geschichte lesen, S. 75.

[125] Baron, Weltdimensionen der jüdischen Geschichte (1962), in: Ebd. S. 151–154.

[126] Elbogen, Die Geschichte der Juden in Deutschland; zu Elbogen, s.: Hoffmann, Jüdische Geschichtswissenschaft in Deutschland, S. 136.

[127] Wyrwa, Jüdische Geschichtsschreibung als histoire croisée.

[128] Roth, The European Age in Jewish History; danach auch: Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden.

[129] Diner, Geschichte der Juden – Paradigma einer europäischen Historie, S. 85.

[130] Graetz, Geschichte der Juden, Bd. 11, S. 428.

ZITIEREMPFEHLUNG

Ulrich Wyrwa, Das Bild von Europa in der jüdischen Geschichtsschreibung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Kerstin Armborst / Wolf-Friedrich Schäufele (Hg.), Der Wert »Europa« und die Geschichte. Auf dem Weg zu einem europäischen Geschichtsbewusstsein, Mainz 2007-11-21 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft online 2), Abschnitt 76–95.

URL: <http://www.ieg-mainz.de/vieg-online-beihefte/02-2007.html>.
URN: <urn:nbn:de:0159-2008031319>.

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieses Aufsatzes hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein.

Beim Zitieren einer bestimmten Passage aus dem Aufsatz bitte zusätzlich die Nummer des Textabschnitts angeben, z.B. 77 oder 76–79.

Matthias Middell *

Das Verhältnis von nationaler, transnationaler und europäischer Geschichtsschreibung

Gliederung:

1. Nationalgeschichtsschreibung

2. Neuere Tendenzen der Europa-Geschichtsschreibung

3. Transnationale Geschichte

4. Das Verhältnis von nationaler, transnationaler und europäischer Geschichte

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Zitierempfehlung

Text:

Die folgenden Bemerkungen beziehen sich auf das Verhältnis von drei Feldern der Historiographie, die hier anfangs lediglich aus analytischen Gründen getrennt betrachtet werden, die aber in der Praxis eine große Zahl von Überschneidungen aufweisen, die sich schon daraus ergeben, dass sich dieselben Historiker häufig sogar innerhalb kurzer Zeit zu Problemen aus allen drei oder mindestens zwei dieser Felder äußern. Ich versuche zunächst eine kurze Charakterisierung der drei im Titel angesprochenen Varianten von Geschichtsschreibung, um dann ihre Kombinierbarkeit anhand neuerer Entwicklungen in diesen Feldern zu erörtern.

1. Nationalgeschichtsschreibung

Es herrscht eine weitgehende Übereinkunft in der Historiographiegeschichte, dass die Mehrheit der Historiker Nationalgeschichte betreibe. Dabei handelt es sich selbstverständlich nicht mehr vorrangig um jene antiquierte Form der Rechtfertigung des Nationalen, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert nach kulturellen, institutionellen und/oder ethnischen Wurzeln der nationalen Gemeinschaft und des Staates in grauer Vorzeit und mittelalterlichen politischen Formationen fahndete, sondern um eine Analyse vorzugsweise moderner Gesellschaftsentwicklungen für einen Raum, der in der Regel identisch ist mit dem Raum, den der aktuelle Nationalstaat einnimmt bzw. den er im 19. und 20. Jahrhundert über einen längeren Zeitraum eingenommen hat. Dieses sogenannte Containermodell verlängert eher neuere territoriale Konfigurationen und darauf basierende Souveränitätskonzepte »rückwärts« und nicht mehr mythische Ursprünge chronologisch »vorwärts«. Dieser methodologische Nationalismus ist durchaus kompatibel mit innovativen Ansätzen der Sozial-, Wirtschafts-, Kultur-, Politik- und Geschlechtergeschichte, auch wenn diesen ein Potential zur Überschreitung dieses nationalen Rahmens durchweg innewohnt.[1]

Bei der Überprüfung dieser Feststellung ergibt sich allerdings

  1. dass die Zahl derjenigen Historiker, die tatsächlich die gesamte Geschichte einer Nation / eines Nationalstaates oder eines wichtigen Zeitabschnitts daraus schreiben / untersuchen, vergleichsweise gering ist, deutlich kleiner jedenfalls als die jener Historiker, die sich lokalen und regionalen Gegenständen zuwenden und nur einen rhetorischen Bezug auf die nationale Rahmung dieser Geschichten unternehmen.
  2. Jedoch schreibt eine tatsächlich überwältigende Mehrheit über verschiedene Gegenstände in der Perspektive des »methodologischen Nationalismus«, der die Finalität von Nation und Nationalstaat zum Ausgangspunkt der Argumentation oder aber einfach zur unhinterfragten Voraussetzung seiner Analysen nimmt.

Dies wird erklärt mit

  1. der Legitimationsfunktion der Geschichtswissenschaft gegenüber dem aufstrebenden Nationalstaat, für dessen Einheitsphantasien und Integrationsnotwendigkeiten Historiker die Begründungen lieferten,
  2. der Orientierungsfunktion der Geschichtswissenschaft: Historisierung wird hier als Bewältigungsstrategie gegenüber Zumutungen der Moderne verstanden, die ganz wesentlich im nationalen Rahmen erlebt würden,
  3. der Ausrichtung auf die Lehrerausbildung für die nationalen Schulsysteme, die eine permanente Expansion des Faches parallel zur Expansion des Bildungssektors überhaupt garantiert,
  4. der Organisation des Faches an den Universitäten in nationalgeschichtlich ausgerichteten Lehrstühlen und Instituten (mit der Ausnahme der Osteuropaforschung, die aber auch bis in die Zwischenkriegszeit wesentlich Russlandforschung war). Damit ergibt sich eine Reproduktion des methodologischen Nationalismus parallel zur Reproduktion des Faches.

Die Konjunktur der Nationalgeschichtsschreibung fällt mit der Dominanz eines Territorialitätsregimes[2] zusammen, das den Nationalstaat als überlegene Form gesellschaftlicher Organisation propagiert (ca. 1860 bis 1970). Zu diesem Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Geschichtsschreibung und -forschung als zunehmend professionalisierter akademischer Disziplin und dem Aufstieg der Nationalisierung von Staat und Gesellschaft als effizienter Form der gleichzeitigen Steuerung von weltweiter Vernetzung und territorial eingeschränkter sozialer Integration ist viel geschrieben worden, sodass wir über den Variantenreichtum dieser Verbindung gut informiert sind.[3]

Weniger Aufmerksamkeit hat die Tatsache gefunden, dass sich mit jedem Globalisierungsschub seit dem 18. Jahrhundert eine Herausforderung dieses nationalgeschichtlichen Paradigmas konstatieren lässt. So ergeben sich bemerkenswerte Konjunkturen universal- oder globalgeschichtlicher Vorgehensweisen um 1850, um 1900, nach dem Zweiten Weltkrieg und seit Beginn der 1990er Jahre.[4] Hegemoniepositionen in der internationalen Geschichtswissenschaft werden von jenen errungen, die mit diesen Herausforderungen produktiv umgehen und sie nicht einfach im Namen der alleinigen Legitimität (Übereinstimmung mit den Interessen des Faches, des Publikums und den Professionalitätsstandards) des nationalgeschichtlichen Paradigmas abweisen.[5]

 96

2. Neuere Tendenzen der Europa-Geschichtsschreibung

Zu den Herausforderungen der Nationalgeschichte gehört die wachsende Aufmerksamkeit für Europa. Die Zahl europabezogener historischer Darstellungen wächst laufend, wenn auch wenig spektakulär.

Ein Blick auf die deutsche Nationalbibliographie zeigt: Die Beschleunigung des Publikationsaufkommens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hält ungefähr mit der Zunahme der Gesamtzahl erfasster Publikationen zu historischen Gegenständen Schritt. Auffällig ist eine deutliche Abflachung in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre und die Stabilisierung auf einem hohen Plateau seit 15 Jahren.

Zugleich zeigt die Analyse der Einträge zu »Europa, Geschichte« und »europäische Geschichte« in der deutschen Nationalbibliographie, dass diese Kategorien auch Vermischtes heißen könnten, denn neben einem »Europa-Lexikon« (Hg. von Wolf D. Gruner) steht ein Sammelband zu »Forschungen zur altgriechischen Gesellschaft«, ein Überblick zum europäischen Völkerrecht und eine Studie zu »Vorarlberger Landsbräuchen« sowie ein ästhetisch anspruchsvoller Band über »Europäische Einbandkunst aus Mittelalter und Neuzeit«.

Es geht hier nicht um die Zufallsergebnisse mangelhafter bibliothekarischer Verzeichnungsarbeit, sondern um einige Befunde, die uns bei der Analyse des Feldes weiter helfen können:

  1. Europäische Geschichte ist keine Forschungslücke, kein quantitativ vernachlässigtes Feld. Ganz im Gegenteil, in jüngster Zeit erscheint allein in Deutschland aller zwei Tage ein Buch in dieser Rubrik.
  2. Eine gewisse Beschleunigung ist erkennbar, aber wir sehen eine Kurve, die überraschend nahe an der durchschnittlichen Frequenz deutschsprachiger Publikationen bleibt: »Europa« ist ein Thema mit mittlerem Interessenzuwachs, während wir unter dem Stichwort »Globalisierung« ein eher exponentielles Wachstum antreffen.
  3. Eine sinnvolle Wissensordnung hat die Forschung, obwohl sie doch schon so lange daran arbeitet, den Bibliothekaren offenkundig noch nicht geliefert. Allerhöchstens lassen sich zwei Annahmen rekonstruieren, deren Fragwürdigkeit auf den ersten Blick einleuchtet: »Europäische Geschichte« ist ein Container allen Geschehens auf dem Kontinent, und die Periodisierung folgt den wichtigsten Daten der westeuropäischen bzw. deutschen Geschichte (1648, 1789, 1871).

Außerdem ist Europa in dieser Statistik ein Phänomen der Gegenwart: gegenüber 18 Titeln im Jahr 2004, auf das sich diese Auswertung bezieht, zum 18. Jahrhundert stehen gut doppelt so viele (39) zum 19. und 30 zum gesamten 20. Jahrhundert, aber 133 für das halbe Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg und noch einmal 130 für die 15 Jahre seit 1989.

 97

Zugleich signalisiert die enorme Zunahme von Tagungen und Ringvorlesungen zur Frage, was eigentlich unter europäischer Geschichte zu verstehen sei, einen Bedarf nach Überwindung des unbefriedigenden Zustandes. Denn die Europäisierung der Geschichtsbilder wird immer wieder als Forderung postuliert und verlangt ihrerseits eine Neujustierung des gesamten Systems von Geschichtslehrerausbildung, Curriculardebatten und Lehrbucherneuerung. Wir stecken in Deutschland mitten im Umbruch, und es gibt vielfältige Tendenzen einer Erneuerung der Europa-Geschichtsschreibung hierzulande.

Ich beginne mit einem knappen Rückblick, der die großen Erzählungen der europäischen Geschichte seit dem 18. Jahrhundert Revue passieren lässt. Sie sind solide im öffentlichen Bewusstsein abgelagertes Erbe und wirken bis heute fort. In einem zweiten Abschnitt diskutiere ich die Rolle des spatial turn, der wachsenden Aufmerksamkeit für Phänomene der Verräumlichung, für eine Geschichte Europas, um anschließend sechs thematische und methodische Zugänge zu skizzieren, die m.E. besonders produktiv sein können.

2.1. Traditionen der Europageschichtsschreibung

Einschlägige Forschungsberichte[6] verzeichnen die Ursprünge der Europahistorie in der humanistischen Verteidigung eines christlichen Europas gegen die Bedrohung der Osmanen. Aufklärung und Napoleon-Ära verdichteten dieses Bild zu einer Deutung, die den Begriff der civilisation in den Mittelpunkt rückte und die Überlegenheit Europas und der Europäer gegenüber anderen Weltregionen ausdrückte.[7] Diese Hervorhebung beruhte auf 5 Grundannahmen:

  1. einer bis in die Antike zurückreichenden Kulturtradition, die durch die Renaissance wiederbelebt wurde und sich mit Frankreichs kultureller Hegemonie im 17. und 18. Jahrhundert verband,
  2. Individualismus und Unternehmergeist als Antrieb einer wirtschaftlichen Überlegenheit,
  3. Freiheit als wichtigstes Merkmal der politischen Kultur,
  4. einem Mächtegleichgewicht zwischen mehreren Staaten, die den Kontinent führten,
  5. Zivilisiertheit als öffentlich akzeptierten Regeln sozialer Beziehungen.

Die Restaurationsepoche nach 1815 fügte diesem Bild zwei weitere Elemente hinzu:

  1. die erneute Aufwertung des Mittelalters als Quelle einer konservativen Lesart Europas und
  2. eine Betonung der christlichen Wurzeln europäischer Kultur.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts trat der Nationalstaat als die quasi natürliche Form, in der sich europäische Geschichte vollzog, hinzu.[8] Dies war auch nicht verwunderlich, denn die Geschichtswissenschaft verdankte ihre erneuerte Existenz als Fach und Profession weitgehend dem Bündnis mit dem Nationalstaat, dessen Archive sie hütete und nutzte, dessen Bildungseinrichtungen sie dominierte und für ihren Deutungsanspruch in der Gesellschaft instrumentalisierte. Die Geschichte Europas erschien als Konkurrenz und Nebeneinander der einzelnen Nationalgeschichten und manifestierte sich vor allem als Buchbindersynthese.

Als der Erste Weltkrieg die Konfrontation der Nationen auf die Spitze getrieben hatte, suchten die Historiker erneut im aufklärerischen Projekt der europäischen Zivilisation Halt, um die Zerklüftung und Spaltung des Kontinents zu überwinden. Man denke an Henri Pirennes Histoire de l’Europe, die er im deutschen Gefangenenlager während des Ersten Weltkrieges schrieb, oder an Arnold Toynbees zehnbändige Study of History. Die Krise Europas durch die Zuspitzung der nationalstaatlichen Konfrontation, die Faschismus und Nationalsozialismus noch bedrohlicher machte, bewegte auch Oswald Spengler, während Hans Freyer das Ende der »Weltgeschichte Europas« erst 1944 erkennen konnte, als er mit den deutschen Truppen aus Budapest fliehen musste. Federico Chabods Mailänder Vorlesungen, Walter Kaegi, Louis Namier und Johan Huizinga werden in diesem Zusammenhang in aller Regel ebenfalls erwähnt, um die Breite des Krisenbewusstseins von »Europa« und die Prominenz seiner Träger anzudeuten.

Lucien Febvre fasste in seiner Antrittsvorlesung 1944/45 am Collège de France zusammen, was Kollegen in vielen Teilen Europas umtrieb: Der Rückfall in die Barbarei sollte durch die Beschwörung europäischer Werte und Zivilisation gebannt werden. All diesen Bemühungen lag eine Vorstellung zugrunde, die gleichsam ewige europäische Werte postulierte. Es sei die Rolle der Historiker, diese Wertekontinuität zu bewahren, gerade und besonders dort, wo die Wiederkehr der Barbarei sie bedrohte.

Aber die Ontologisierung der Nationalstaaten blieb in all diesen Werken unhinterfragt. Das gilt für die Cambridge Modern History Lord Actons, für die europageschichtliche Buchreihe Peuples et Civilisations in Frankreich und ebenso für die deutsche Propyläen-Geschichte Europas. Europa wurde nach dem Muster des unvermeidlichen Übergangs von einer schon lange präexistierenden Nation zum Nationalstaat gedacht, die Einheit Europas ist dabei ein Ziel, das in Analogie zur Herstellung der nationalen Einheit im 19. Jahrhundert konzipiert wurde.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts trat eine neue Art der Europa-Geschichtsschreibung hinzu, die den entstehenden Institutionen der EWG und EU eine Vorgeschichte liefert. Auch in diesem Denkzusammenhang existierte Europa als Weltregion schon immer, es ließ jedoch die nötige Institutionalisierung, Öffentlichkeit und mentale Verbundenheit vermissen.[9] In der Europäischen Gemeinschaft findet der Kontinent endlich zu seiner historischen Bestimmung.[10]

Vor allem vier Punkte sind in der Kritik an dieser Art von Europa-Geschichtsschreibung betont worden:

  1. der ausgeprägte teleologische Ansatz,
  2. die legitimatorische Funktion und Finalität[11],
  3. die explizit oder implizit enthaltene Abgrenzung gegenüber dem Rest der Welt[12]
  4. die Behandlung bzw. Nichtberücksichtigung Osteuropas. Denn die Geschichte Europas als Geschichte der Zivilisation ist nur allzu oft ein exklusives Narrativ des Westens, der seine Werte und Institutionen langsam, aber unaufhaltsam nach Osten expandiert[13]

Nehmen wir diese Kritik ernst, dann

  1. ist Europäische Geschichte nur im Plural als Geschichten Europas  denkbar,[14]
  2. muss die Zäsur der Durchsetzung nationalisierter Machtstaaten im 19. Jahrhundert für die europäische Geschichte gründlich bedacht werden,
  3. kann der Bezug zum Osten und Südosten Europas nicht länger in den Kategorien eines Kulturgefälles konzipiert werden, und
  4. dürfte europäische Geschichte nicht ohne Bezug auf die Geschichte der Globalisierung gedacht werden.

Angesichts dieser beträchtlichen Vielfalt von Aufgaben stellen sich leicht Überforderungssymptome ein, die sich auch in unterkomplexer Kanonbildung mancher Europastudiengänge und im Rückgriff auf überkommene Narrative bei offiziellen Gelegenheiten zeigen.

Andererseits ist in neuen Buchreihen und einer breiten Debatte um das Wie von Europa-Geschichte eine quantitative und qualitative Konjunktur zu beobachten. Sie kann grob und idealtypisch in drei Richtungen eingeteilt werden, wobei sich in vielen neueren Werken die Ansätze mischen:

  1. Kumulation des Wissens über historische Vorgänge, die in einem Container »Europa« beobachtet werden,
  2. Herausarbeitung europäischer Spezifika im Vergleich zu anderen Weltregionen,
  3. Beschreibung der intellektuellen und sozialen wie kulturellen Konstruktionsvorgänge, die Europa in den historisch verschiedenen Stufen hervorgebracht haben.

2.2. Welche Folgen hat der spatial turn für die europäische Geschichte?

Ich will hier keine lange theoretische Einführung in diese erneute Annäherung von Geographie und Geschichtswissenschaft geben.[15] Das Thema hat in jedem Fall Konjunktur. Dies hat zweifellos mit der Globalisierung zu tun.

Paradoxerweise schien zunächst der Raum eher zu verschwinden. In Ulrich Becks Entwurf einer Soziologie der Globalisierung von 1994 wurde nicht nur von Beschleunigung, sondern auch von Ortlosigkeit als Charakteristikum der globalisierten Welt ausgegangen. Inzwischen hat sich diese Behauptung stark relativiert. Bei aller Raum-Zeit-Kompression ist die Auseinandersetzung um die richtigen Raumstrukturen keineswegs zu Ende, sie läuft vielmehr intensiviert vor unseren Augen ab. Der Grund dafür ist, dass Globalisierung eben nicht nur simple Entgrenzung ist. Diese rein lineare Auffassung von Globalisierung, die zunächst (Anfang der 1990er Jahre) bei Ökonomen und auch bei Politologen wie Francis Fukuyama vorherrschte, hat sich nicht bestätigt. Globalisierung kann definiert werden als Vernetzung und Verflechtung, die durch technologische, kommunikative Neuerungen und Ausweitung der Marktbeziehungen unvermeidlich geworden ist. Diese Abhängigkeit erfolgreicher Entwicklung von externen Ressourcen wird aber begleitet von der Suche nach Raumordnungen, die zwar die Verflechtung nicht aufheben, aber eine autonome Definition der Bedingungen gestatten, zu denen diese Verflechtungen eingegangen werden.

Um es provokant abzukürzen: die Nationalisierung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist nicht das Gegenteil von Globalisierung, sondern eine geschichtlich beobachtbare Variante neben anderen, Globalisierung zu gestalten. Gleiches trifft für die Durchsetzung konkurrierender Muster der Verräumlichung zu: für die Regionalisierung, für die Transnationalisierung, und natürlich auch für die Europäisierung.

Diese Prozesse der Territorialisierung, der Ent- und der erneuten Begrenzung, sind aber nicht Effekte irgendwelcher »unsichtbaren Hände«, sondern Menschenwerk, es sind Versuche, auf absehbare oder nur zu erahnende neue Konfigurationen von Markt und Macht zu reagieren. Daraus folgt: sie können auch schiefgehen, sie können misslingen wegen der falschen Antizipation oder wegen eines ungünstigen Kräfteverhältnisses zu den Interessen anderer Gruppen, oder sie scheitern an der Übermächtigkeit kulturell überlieferter Formen der Verräumlichung. Das Votum zur EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden liefert genug Anschauung für diesen theoretisch klingenden Zusammenhang.

Geht man von einer solchen globalgeschichtlichen Einbindung der Geschichte Europas aus, dann ist Europa nicht eine schon immer existierende Einheit, die es nur wiederzubeleben gilt, sondern ein möglicher Ordnungsentwurf. Genauer müsste man sogar sagen, es handelt sich um eine Abfolge und Übereinanderschichtung von semantisch aufeinander aufbauenden Ordnungsentwürfen. Europa ist nicht einfach eine »Erfindung« oder eine »erfundene Tradition«, wie radikale Konstruktivisten nach unzulänglicher Lektüre von Hobsbawm und Ranger meinten, aber es ist auch nicht eine gegebene Entität. Sie zu essentialisieren, als angeblich naturgegeben vorzustellen, gehört vielmehr zu den Praktiken, mit denen Europa als Ordnungsentwurf historisch in wechselnden Konstellationen und von wechselnden Protagonisten durchgesetzt werden sollte.[16]

Dies scheint mir der Grund, warum sich derzeit das Interesse von der Rekonstruktion dessen, was in einem vorgestellten Container namens Europa stattfand, verlagert auf Akteure und kulturelle Praktiken, die bei den verschiedenen Stufen der Konstruktion Europas beobachtet werden können. Statt Geschichte Europas jetzt also Geschichte der Europäisierung.[17]

Dies ist eine kulturgeschichtliche Wendung innerhalb der europäischen Geschichte, aber sie bleibt analytisch stumpf, wenn sie sich auf die Darstellung von kulturellen Manifestationen beschränkt und nicht zugleich nach deren sozialer Reichweite und politischer Durchsetzungskraft fragt.[18]

Kommen wir zu einigen Feldern, die sich in den letzten 10–15 Jahren für eine Geschichte der Europäisierung als besonders ertragreich erwiesen haben.

 98

2.3. Forschungsfelder einer Geschichte der Europäisierung

2.3.1. Wurzeln der Territorialisierung / Verräumlichung in Europa

Für eine europäische Geschichte erweist sich zunächst der Rückblick auf die Frühe Neuzeit als hilfreich, in der sich die Vorstellungen vom Raum als homogener Fläche mit scharfen Grenzen (in Linienform) erst herausbildeten. Sie hatten ihre Grundlagen in der eigentums- und landesrechtlichen Homogenisierung zum frühneuzeitlichen Territorialstaat / Absolutismus im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert – einer europäischen Besonderheit mit Wurzeln in der mittelalterlichen Rechts- und Wirtschaftsordnung.[19]

Einsprachigkeit in Teilen Europas hat diesen Prozess seit dem französischen Dekret von Villers Cotterets 1539 beflügelt, ebenso die Schaffung zentraler kultureller Institutionen wie etwa der französischen Akademien, denen sich bald Provinzakademien zugesellten, die den kulturell homogen gedachten Raum weiter erschlossen. Dieses Modell wurde aufgrund der Hegemonie Frankreichs im 18. Jahrhundert zur Leitvorstellung für den Kontinent. Aber auch die Grenzen Frankreichs wandelten sich nur über mehrere Jahrhunderte zu »natürlichen Grenzen«, und die Eindeutigkeit der Grenze als Linie und des Territoriums als zusammenhängende Fläche hat sich anderswo in Europa noch langsamer oder gar nicht vollständig durchgesetzt.[20] Der Versuch, dieses Modell der Territorialisierung auf ethnisch gemischte Gesellschaften in Ostmittel- und Südosteuropa auszudehnen, hat nach dem Ersten Weltkrieg einen Zyklus von Zwangsmigrationen ausgelöst, dessen katastrophische Folgen die europäische Geschichte tief geprägt haben und bis heute beschäftigen.[21] icht zufällig kommen aus den Historiographien des europäischen Südostens vermehrt Wortmeldungen, die Empire-Strukturen wegen ihrer geringeren Eindeutigkeit von Grenzen und territorialen Zugehörigkeiten nicht allein als europäische Vergangenheit behandeln wollen. Auch unter dem Eindruck der nordamerikanischen Empire-Debatte stärkt sich gegenwärtig das Interesse an der imperialen Vergangenheit Europas.[22]

 99

2.3.2. Portale zur außereuropäischen Welt

Zu den Territorialisierungsmustern der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts gehört auch die Portalfunktion einiger Metropolen: Städte wie London und Paris trugen die Last und Lust der Lernprozesse, die sich aus dem Kontakt mit Außereuropa ergaben: Einwanderung, exotische Gesandtschaften, Ausbildung von Kolonialbeamten und eine vielfältige intellektuelle Szene, Bahnhöfe und später Mega-Flughäfen gehören ebenso dazu wie Börsen und Warenhäuser mit global zusammengezogenem Angebot. Diese Geschichte ist an sich schon spannend, aber sie erhält ihren zusätzlichen Reiz aus der Tatsache, dass diese Städte heute nach wie vor Metropolen sind, aber ihre Portalfunktion langsam entfällt: der Kontakt zur außereuropäischen Welt ist heute aufgrund Migration, Fernsehen und standardisiertem Angebot der shopping malls auch in den kleineren Orten omnipräsent, ohne dass die kulturellen Apparate bereits an diese neue Lage angepasst wären, wie nicht zuletzt die Bemühungen um die Reform des Schulunterrichts zeigen.

2.3.3. Kulturelle Transfers

Die Mitte der 1980er Jahre in Frankreich entstandene Kulturtransferforschung hat das traditionsreiche Feld der Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte erneuert.[23] Die zentrale These lautet: Das Gelingen kultureller Transfers hängt nicht vom Einfluss des Ursprungskontextes, sondern von der Motivation und Aufnahmebereitschaft in der Rezeptionskultur ab. Von hier aus hat sich eine reiche empirische Forschung entwickelt, die sich auf den Transfer von Personen, Ideen und Gütern sowie ihre (Um-)Deutung beziehen. Einige allgemeinere Momente für das Verständnis europäischer Geschichte seien genannt:

  1. Kulturen werden nicht per se als nationale (oder protonationale) angenommen, sondern ihre Entstehung im Austausch wird konkret beobachtet und beschrieben.
  2. Während in der Frühen Neuzeit transkulturelle Netzwerke der Fernhändler, Söldner, Kunstmakler und Bildungseliten neben stärker territorialisierten Formen von Kultur (Höfe und Kirchen) standen, wurde am Ende des 18. Jahrhunderts ein Bruch spürbar: Die Aneignungsprozesse bezogen sich nun mehr und mehr auf nationalisierte Kulturen.
  3. Es zeigt sich ein gravierender Unterschied zwischen der Ära des Elitennationalismus (etwa: vor 1850) und der Zeit des Massennationalismus (nach 1850/70). Er besteht darin, dass kulturelle Transfers in der Zeit des scharf nach außen abgrenzenden Massennationalismus zwar weiterhin stattfinden, aber ihre Ergebnisse häufig nicht mehr als Fremdes zu erkennen sind, sondern faktisch »zum Verschwinden gebracht werden«.
  4. Bestimmte Regionen, die man als europäische Regionen bezeichnen könnte, erhalten ihre Spezifik dadurch, dass sie auch in Zeiten einer zugespitzten Nationalisierung ältere Kulturtransfers reaktualisieren und neue forcieren. Die Kulturtransferforschung zeigt die Alternativen zur Nationalisierung in der europäischen Geschichte.[24]

Die Transferforschung macht systematische Vergleiche natürlich nicht obsolet, aber sie hat kritisch darauf hingewiesen, dass die Komparatistik Gefahr läuft, die von ihr konstruierten Vergleichsentitäten zu ontologisieren. Man kann als Faustregel formulieren, je moderner Gesellschaften werden, desto größer wird die Bedeutung von Transfers und Verflechtungen, und desto problematischer wird der rein kontrastive Vergleich, worauf noch zurückzukommen sein wird.

 100

2.3.4. Die Rolle transnationaler Gruppen in der europäischen Geschichte

Dan Diner verweist mit Nachdruck auf eine Besonderheit aus der Geschichte der europäischen Juden, ihre Transnationalität, die in ausgebliebener Territorialisierung beim Übergang zur Moderne und gleichzeitiger enger religiös-textueller Verbundenheit über territoriale Grenzen hinweg begründet liegt. Man kann diese Transnationalität über die Krisen des 19. und 20. Jahrhunderts, von den verschiedenen zionistischen Bemühungen, einen Raum für die Judenheit zu definieren, bis zur brutalen Vertreibung und Vernichtung der Juden verfolgen, aber auch, wie Diner es versucht, sie als konstitutives Teilparadigma europäischer Geschichte auffassen: »Dem übernational markierten sozialen und mentalen Gewebe jüdischer Lebenswelten kommt im Laufe tektonischer Verschiebungen europäischer Geschichte in der Moderne seismographische Bedeutung zu«.[25]

Fließen vormoderne Verräumlichungsmuster stärker in den Europäisierungsprozess ein als dies aus westeuropäischer Perspektive zunächst vermutet wurde? Dies ist die Frage, die Diner an die Untersuchung der osteuropäischen Juden anschließt und die trotz der Essays zum Imperienvergleich ihrer Beantwortung noch harrt. Hier schließt europäische Geschichte als Migrationsgeschichte an, die die Dimensionen des Transnationalen und der kulturellen Transfers verbindet, aber auch zu einer Geschichte führt, die supranationale Interventionen in den nationalen Umgang mit Minderheiten als Charakteristikum Europas herauspräpariert.[26]

2.3.5. Geschichtsregionen

Die erfolgreiche Nationalisierung in Westeuropa und später die Blockbildung des Kalten Krieges führte in vielen Zonen Europas zu einer Auseinandersetzung mit den Fremdzuschreibungen und dem Versuch einer supraregionalen Homogenisierung. Ostmitteleuropa, der Balkan, die Levante usw.[27] – es handelt sich hier um Großregionalisierungen, die beispielsweise ihre Wurzel im Panslawismus schon 1848/49 bei Jan Palacký haben und auf dem Internationalen Historikerkongress 1923 in Brüssel erstmals in die Frage »Monde Slave ou Europe Orientale?« mündeten. »Mitteleuropa« oder auch der »Skandinavismus« sind weitere prominente Beispiele solcher Geschichtsregionen. Seit Maria Todorovas brillanter Untersuchung von Konstruktion und Dekonstruktion des »Balkans« ist klar, dass eine Essentialisierung dieser Geschichtsregionen durch die Betonung struktureller Kontinuitäten das Thema verfehlt. Geschichtsregionen sind postulierte Gemeinsamkeiten im Verhältnis zu Europa unter Rückverweis auf geteilte geschichtliche Erfahrungen und sie sind zuweilen nützliche Interessenaggregationen, die durch die Beschwörung einer gemeinsamen Geschichte zusammengehalten werden. Zu einer Geschichte der Europäisierung gehört also auch eine Vermessung der Gedächtnislandkarte, der mental map des erinnerten Europas.

 101

2.3.6. Nach 1989: Renationalisierung, Reregionalisierung oder Europäisierung?

Die Befreiung vom Druck der Blöcke und der supranationalen multiethnischen Reiche Sowjetunion und Jugoslawien haben, wie schon 1918 nach dem Zusammenbruch des Habsburger Reiches und 1944/45 nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches, ein nation-building angetrieben, das teilweise von außen angestachelt wurde. Friedliche Entflechtungen wie in der Tschechoslowakei sind der Ausnahmefall, offen kriegerische Auseinandersetzungen wie beim Zerfall Jugoslawiens allerdings ebenfalls. Der Regelfall sind spannungsreiche Separierungen, für die die Mobilisierung von Ressourcen nationalistischer Leidenschaft charakteristisch ist. Die neuen Territorialisierungen von Herrschaft, Wirtschaft und Kultur bzw. Lebenswelten erweisen sich als außerordentlich schwierig und instabil, wofür m.E. vor allem folgende Gründe maßgeblich sind:

Träger des nation-building sind fast überall überkommene bürokratische Eliten, die primär ein Interesse an den Umverteilungsmechanismen des Staates (rent-seeking) haben, Konkurrenten ausschalten und durch das Erreichen von Eigenstaatlichkeit direkt an externe Subventionen gelangen wollten. Demzufolge spielen der Ausbau der Infrastruktur und die Interessen von neuen Wirtschaftseliten eine nachgeordnete Rolle.

Der Osten Europas erlebt im Zeitraffer jenes Wiederaufleben des Regionalismus, das in Westeuropa seit den 1960er Jahren zu beobachten ist, aber der Nationalstaat erweist sich oft als zu schwach, um das Umschlagen der Regionalisierung in Separatismus zu verhindern, auch, weil er (wie im Falle der Nachfolgestaaten Jugoslawiens oder der Sowjetunion) selbst auf eine Ideologie des Sezessionismus gegründet ist.

Schließlich hat die Aussicht auf einen Beitritt zur EU ihrerseits Nationalisierungstendenzen befördert: im Wettbewerb der Beitrittskandidaten und in einer Abgrenzung von der früheren östlichen Vormacht, die nationalistische Traditionen wieder belebt hat. Zugleich zeigt die Dynamik des Erweiterungsprozesses,[28] dass diese Versuche, eine Balance zwischen den Raumordnungen der Europäisierung und der Nationalisierung zu finden, extrem fragil sind und durch die nächste Beitrittswelle bereits wieder erschüttert werden können.

 102

Bleibt zum Schluss die Frage nach dem Stand der Europäisierung: Hartmut Kaelble hat eine Bilanz vorgelegt, die an den Kriterien Institutionalisierung, Legitimität und Öffentlichkeit ausgerichtet ist und das Glas für halb voll erklärt: Die EU-Europäisierung auf dem Wege, Anlass zu verhaltenem Optimismus, der dann bei den nächsten Wahlen wieder enttäuscht wird. Unzweifelhaft aber sind die europäischen Institutionen in den 1990er Jahren immer wichtiger geworden.

Dagegen hat Karl Schlögel auf eine Europäisierung »von unten« aufmerksam gemacht, die auf den Ameisenpfaden der LKW-Fahrer, Schmuggler und Billig-Airlines zustande komme und deren Geographie wir zu lernen hätten. Von hier ist es nicht weit bis zur Europäisierung, die gewissermaßen im Handgepäck der Globalisierung von Marken und Produkten, von Stilen und Lebensformen mitreist, aber durch die zusätzliche Sinnaufladung zur Europäisierung umgedeutet werden kann.

Schließlich hat die Europäisierung von oben im Rahmen der Beitrittsverhandlungen eine weitere Pointe im »Spiel mit den räumlichen Maßstäben – dem jeu d’échelles«[29] bereitgehalten: Um die Subventionen der Strukturfonds angemessen verteilen zu können, wurden die neuen EU-Mitglieder zur Schaffung neuer regionaler Substrukturen gezwungen, die nach Größe und Bedürftigkeit in die Bandbreite der westlichen Vorbilder passten – mit dem absehbaren Effekt heftiger mentaler Kollisionen in der Bevölkerung, die gerade jene Raumkonstrukte erodieren lassen, auf die sich die europäische Ressourcenumverteilung stützen will.

EU-Europa erweist sich als unentschieden, es benötigt als gleichzeitig supra- und inter-nationale Struktur Nationalstaaten und Regionen als Basiselemente und schafft sie, wo sie nicht stabil existieren. Die Europäisierung macht sie gleichzeitig porös durch supranationale Strukturen von der Bildung über die Wirtschaft und Regionalförderung bis zur Gesetzgebung.

Europäische Geschichten lassen sich entlang vieler Leitlinien erzählen. Aber der spatial turn hat uns die Rolle des Raumes für die Erklärung vieler Konflikte in Europa vor Augen geführt.

 103

3. Transnationale Geschichte

Wie bereits deutlich geworden sein dürfte, produziert die Suche nach einer Geschichte der Europäisierung den Bedarf nach neuen methodologischen Grundlagen der Geschichtsschreibung. Diese kollidieren mit der Erbschaft der Nationalgeschichtsschreibung.

Zugleich kommt eine teilweise parallele, teilweise konterkarierende Inspiration aus der Diskussion um die Geschichte der Globalisierung.

3.1. Wurzeln der Debatte um die transnationale Geschichte

Ein erster Abschnitt des Versuches der Überwindung rein nationalstaatlicher Geschichtsbilder wurde mit der historischen Komparatistik unternommen. Diese ist in den lebensweltlichen Erfahrungen gut verankert und erscheint deshalb besonders einleuchtend. Der historische Vergleich war für lange Zeit das vorherrschende Muster zum Umgang (Messen und Begrenzen) mit kultureller Differenz zu Ausländern, dem sozial Anderen und den Menschen, die in der Vergangenheit lebten. Aus dem Vergleich leitete sich ein Prognoseversprechen ab.

Die Kulturtransfer-Debatte Anfang der 1990er Jahre hat die Gewissheiten der historischen Komparatistik erschüttert[30]: Sie berief sich darauf, dass die Klassiker des Vergleichs wie etwa Marc Bloch in seinem Vortrag auf dem Welthistorikerkongress in Oslo 1928 keineswegs den in der Historischen Sozialwissenschaft betriebenen kontrastiven Vergleich vorgeschlagen und praktiziert haben, sondern kulturelle Transfers in ihrer Theoriebildung berücksichtigten. Es gibt also nicht eine, sondern mehrere Formen des historischen Vergleichs.[31] Der kontrastive Vergleich konstruiert seine Objekte mehr, als dass er sie analysiert – die Versprechen dieser Form des Vergleichs, nationalgeschichtliche Paradigmen zu überwinden, bleiben deshalb uneingelöst[32]. Der kontrastive Vergleich erweist sich mehr als Teil eines abgrenzenden Identifizierungsprozesses und wurde bedeutsamer in dem Maße, wie das nationalgeschichtliche Paradigma sich modernisieren musste. Mit Denkfiguren von »nationalen Sonderwegen« und »nationalen Pfadabhängigkeiten« hat die Historische Sozialwissenschaft mehr zur »Erfindung« von Nationen beigetragen, als in ihren programmatischen Leitsätzen zu erkennen ist.[33]

 104

Der kontrastive Vergleich isoliert Fälle und Dimensionen historischer Prozesse, um sie kriteriengeleitet vergleichen zu können. Die dabei vorgenommene Dekontextualisierung hat einen hohen Preis – die Vernachlässigung der kulturellen Verbindungen und Verflechtungen, die in der Moderne zunehmend an Bedeutung gewinnen.

Der Vergleich ist oft exportorientiert und vernachlässigt dabei Perzeption, Umdeutung und Einbau in neue kulturelle Kontexte. Seine Anpassung an die Erfordernisse einer neuen Kulturgeschichte ist ein langwieriger und konfliktreicher Prozess, der gegenwärtig noch anhält.[34] Gleichzeitig bietet der Vergleich von Transferkonstellationen die Möglichkeit zu weiterführenden Einsichten. Die Kritik am Vergleich bedeutet nicht seine Verwerfung, sondern die Überwindung jener Schwächen, die in einer bestimmten Phase seiner Entwicklung durch die enge Bindung an die Bedürfnisse der Nationalgeschichtsschreibung eingetreten sind.

Die Reaktionen der Komparatisten auf diese Kritik waren gleichermaßen gekennzeichnet durch scharfe Exklusion der neu vorgeschlagenen Methoden und durch deren Inklusion in neue Formen des kulturgeschichtlichen Vergleichs. Dies führte zu einer mäandrierenden Modernisierung des historischen Vergleichs und zur Eröffnung zahlreicher Diskussionsfelder.

Parallel entwickelte sich von den USA ausgehend das neue Feld der Globalgeschichte und World History, in dem einige parallele Vorschläge (Untersuchung von cultural encounters) gemacht wurden, aber auch weiterführende Veränderungen der Narrative ausprobiert wurden.

Es geht nicht mehr darum, die Einheit der Welt, die nach dem Verlust des Paradieses unrettbar verloren scheint, im Kopf der Historiker ersatzweise zu produzieren, sondern vielmehr all jenen sozialen, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Verbindungen nachzugehen, mit deren Hilfe die Menschen einander näherkommen und diese Einheit mehr und mehr produzieren. Diese Einheit ist folglich auch keine ideale Versammlung aller Individuen im Geiste des Rationalismus, über denen eine Weltregierung interessenfrei die Einhaltung der Regeln des Zusammenlebens überwacht, sondern eine von Herrschaftsstrukturen, Ausbeutung und Ungleichheit durchzogene Einheit, die durch eine permanente Tendenz zur Refragmentierung konterkariert wird. Auf dem erreichten Stand der technologischen Entwicklung, der kommunikativen Vernetzung, der Verbindung der internationalen Waren- und Kapitalströme und der geteilten kulturellen Erfahrungen zwischen immer mehr Menschen scheint diese Einheit jedoch nicht mehr zurücknehmbar. Die Historiker sind auf der Suche nach einer historischen Erklärung dieses Zustandes, nach seiner genaueren Datierung und nach seiner detaillierteren Charakterisierung. Sie lernen dafür, den historischen Akteuren genauer zuzuhören, anstatt deren Handeln in möglichst abstrakte Kategoriensysteme zu sperren. Dies lässt sich auch an den neueren Entwicklungen des zuvor teilweise allein auf systemtheoretischen Höhen schwebenden Ansatzes der Weltgesellschaftstheorie ablesen.[35]

Die Globalgeschichte wird damit immer mehr selbst Teil des Globalisierungsprozesses, dem sie durch dessen Beschreibungen ein Bewusstsein von seiner Historizität gibt.[36] Aber weder ist die Globalgeschichte bereits ein in alle Richtungen gefestigtes Konzept, noch hat sie das Feld der Weltgeschichtsschreibung allein besetzt. Sie gehört vielmehr zu den zahlreichen Varianten, die man auf diesem Feld beobachten kann.[37]

 105

Schaut man sich die inzwischen weitverzweigte Literatur an[38], dann lassen sich ganz grob heute vier Konzepte unterscheiden.

Das erste Konzept verfolgt den alten Ansatz einer umfassenden Weltgeschichte und versucht sich immer wieder an intellektuell brillanten Ordnungsentwürfen für die gesamte Weltgeschichte mit der Konstruktion von fünftausendjährigen Weltsystemen oder der These vom Übergang imperialer Reiche zum Nationalstaat u.ä. All diese Versuche, die gesamte Weltgeschichte gewissermaßen auf einen Nenner zu bringen, lesen sich eindrucksvoll. Hinter ihnen stecken große intellektuelle Anstrengungen und bewundernswerte Meisterungen des Materials, in aller Regel erweisen sie sich aber als anfällig gegenüber empirischen Rückfragen, warum dann in großen Teilen der Welt dieser zentrale Zusammenhang nicht anzutreffen ist. Diese ältere Weltgeschichte, die man auch Universalgeschichte nennen kann[39], die also nach einem universellen Schlüssel für die Erklärung der gesamten Weltgeschichte sucht, ist in einem Zeitalter der Spezialisierung im Zustand jenes armen Hasen, der von vielen Hunden gehetzt wird und sich immer wieder eingestehen muss, dass die Flucht letztlich über seine Kräfte geht. Als Korrektiv gegenüber einer sich in Kleinteiligkeit verlierenden Forschung hat diese Welt- oder Universalgeschichte noch immer eine bedeutende Funktion, indem sie Hypothesen hervorbringt, die zu prüfen sich lohnt.

Eine zweite Richtung, die in den 1970er und 1980er Jahren weithin dominierte, verband sich mit dem Begriff des Weltsystems und der Weltsystemtheorie. Immanuel Wallerstein, ein Schüler Fernand Braudels in den USA, hat diesen Begriff populär gemacht und eine eindrucksvolle Geschichte der Entwicklung eines nordwesteuropäisch geprägten kapitalistischen Weltsystems vorgelegt, das sich im Zuge seiner Expansion immer größere Teile der Welt unterwirft und zur Peripherie bzw. Halbperipherie des eigenen Weltsystems macht. Damit ist ein qualitativer Wandel etwa um die Mitte des 15. Jahrhunderts eingezogen. Seitdem steht die Welt unter einer europäischen, schließlich auf Nordamerika erweiterten Vorherrschaft.[40] Sie wird integriert durch kapitalistische Marktwirtschaft und die sie begleitenden kulturellen Mechanismen des Liberalismus, des Demokratismus und auch des Konservatismus. Während im Zuge der Beschreibung dieses Prozesses der Unterwerfung von Teilen der Welt unter ein Weltsystem für die Zeit zwischen 1450 und 1820 zahlreiche Evidenzen angeführt worden sind, erweist sich die Interpretation der Zeit nach 1820 in diesem Paradigma offenkundig als schwieriger. Es zeigt sich, dass die Herrschaft eines Systems über den Rest der Welt entweder zeitlich begrenzt war oder eben dadurch als Perspektive überhaupt ermöglicht wurde, dass die Welt noch gar nicht in einem globalen Zusammenhang war und deshalb von einer Herrschaft über große Teile der Welt eigentlich noch keine Rede gewesen sein kann.

 106

Betrachten wir die Geschichte des Kolonialismus, so entdecken wir vor allem Stützpunkte und kleinere Siedlerkolonien, aber keineswegs bereits eine komplette Durchherrschung der Territorien, die auf den Landkarten europäischer Fürsten bereits komplett in den eigenen Farben ausgemalt waren. So ist auch gegen eine Geschichte des atlantischen Sklavendreiecks, in der Afrika allein die sogenannten Humanressourcen, Amerika den Boden und Europa die intellektuell anspruchsvollste Aufgabe, die Koordination, geliefert habe, zu Recht eingewandt worden, eine solche Perspektive überhöhe unzulässig die Handlungsmacht der Kolonisatoren und reduziere gleichzeitig jene der Nicht-Europäer. Gegenüber einem tradierten eurozentrischen Bild steuerten etwa jene Afrikaner, die sich angesichts der wachsenden Nachfrage aus Europa als Sklavenjäger und –verkäufer professionalisierten, mit ihrem »Angebot« die Preise auf diesem ersten tatsächlich globalisierten Markt in weit stärkerem Maße, als dies in der älteren Darstellungen anerkannt wurde. Auch das Verschwinden der Sklaverei, das in der Literatur häufig allein mit dem religiös motivierten Wandel der Moralvorstellungen in Europa oder der britischen Entdeckung der Vorteile freier Lohnarbeit erklärt wird[41], hat weit mehr mit der Handlungsmacht der Menschen an Wallersteins Peripherie zu tun: die erfolgreiche Sklavenrevolution auf Saint Domingue brach den produktivsten Eckstein aus dem System der Plantagenwirtschaft[42], und Simon Bolívar musste nach den Niederlagen gegen die Spanier bis 1815 in seinem berühmten Brief aus Jamaika konzedieren, dass ohne Beachtung der ethnischen Dimension in der Independencia (also ohne wenigstens partielle Befreiung der Sklaven) kein Sieg möglich war.[43] Dies sind nur die auffälligsten Beispiele aus einer breiten Palette von Literatur, die sich aus dem relativ starren Korsett der Dependencia-Theorie befreit hat und die zentrale Rolle der Gesellschaften außerhalb der core-region in Nordwesteuropa betont, wenn es um den Übergang zur Moderne geht.

So hat sich eine dritte Auffassung etabliert, die eine relativ starke Zäsur im ersten oder zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts annimmt.[44] Diese hängt mit der Industrialisierung und mit den großen Migrationsschüben[45] zusammen, die im 19. Jahrhundert zu beobachten sind. Die Zäsur hat mit dem technologischen Wandel, mit der Kommunikationsrevolution zu tun, die Telegraphen und später auch kabelgestützte Kommunikation mit sich brachten.[46] So zeigt sich, dass die Differenzen, die den gewaltigen Vorsprung des Westens bei der Nutzung der Industrialisierung verursachen, nicht in historisch weit zurückliegenden Phasen zu suchen sind, sondern eher in einem Bündel von Faktoren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sichtbar wurden.[47] Sind diese Unterschiede allerdings so vergleichsweise jungen Datums (was etwa die auf Max Weber zurückgehende Herleitung der europäisch-asiatischen Differenz aus mittelalterlichen Verhältnissen zurückweist), dann besteht auch kein Anlass, sie für ein auf ewig geschlossenes Strukturgefängnis zu halten. Ein unleugbarer Vorsprung bei Einführung und Gebrauch neuer, weit produktiverer Technologien, der sich in so kurzer Zeit aufbaute und seinen Ausdruck nicht zuletzt auch in überlegenen Waffensystemen fand, kann in ebenso kurzer Zeit auch wieder aufgeholt werden. Ein Blick auf gegenwärtige Sorgen in Europa vor diesem Aufholprozess belehrt uns, dass diese Einsicht sich inzwischen öffentlich Bahn bricht – eine klare Differenz zu den weltgeschichtlichen Betrachtungen um 1900, als nur wenige Europäer eine solche Perspektive antizipieren konnten.

 107

Michael Geyer und Charles Bright haben darüber hinaus argumentiert, dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts auch eine ganz erstaunliche Verdichtung von sozialen Konflikten weltweit zu beobachten sei, wobei diese sozialen Konflikte, die zur Bildung von Nationalstaaten, zu Revolutionen, zu Bürgerkriegen, zu gewaltigen militärischen Eruptionen wie dem Krimkrieg führten, durch zwei Gesichtspunkte gekennzeichnet seien: Erstens belegen sie, dass in dieser Zeit erstmals die Entwicklungschancen der einzelnen Territorien davon abhingen, inwieweit sie sich in einen globalen Zusammenhang hineinbegaben. Der globale Zusammenhang wird gerade dadurch kreiert, dass in vielen Teilen der Welt historische Akteure den Eindruck gewannen, sie müssten sich in diesen Zusammenhang einfügen, um die Entwicklungschancen ihres eigenen Territoriums zu erhöhen. Dies war zweitens begleitet von einer Suche nach Autonomie, nach Eigenständigkeit bei der Bestimmung der Regeln dieses globalen Zusammenhangs. Es geht also nicht schlechthin um die Verflechtung zu einer Weltgeschichte, die immer dichter wird und die schließlich in einer Weltregierung kulminiert, sondern es geht darum, dass verschiedene Akteure den globalen Zusammenhang zu ihren Bedingungen nutzen wollen und deshalb eine Dialektik von Verflechtung und Autonomisierung bzw. Souveränitätsstreben einsetzen.

Eine vierte Schule schließlich, die von Bruce Mazlish angeführt wird[48] und inzwischen unter dem Titel der new global history firmiert[49], besteht auf dem Zäsurcharakter des Jahres 1945, wobei vor allen Dingen auf den ersten Atombombenabwurf im August 1945 verwiesen wird. Damit ist das nukleare Zeitalter angebrochen, später fügen sich dem neue Kommunikationstechnologien und vor allen Dingen auch ökologische Probleme und Zusammenhänge an, die alle dazu führen, dass kein Staat, keine Gesellschaft mehr in Selbständigkeit die aufgetretenen Probleme bewältigen kann. Mazlish führt für seine These von einem neuen globalen Zusammenhang die Abhängigkeit aller Staaten von internationalen Rohstoffreserven, vom internationalen Warenverkehr und von der Lösung eben jener existentiellen humanitären Probleme an, die mit Atomkraft, Internet und ökologischer Verwüstung bezeichnet sind. Diese Richtung in der neueren Weltgeschichtsschreibung konzentriert sich auch auf die Herausbildung transnational agierender Akteure und betont diese als ein neues Phänomen in den letzten sechzig Jahren.[50]

Ganz unabhängig davon, wo die Zäsur gezogen wird, zeigt sich zwischen den ersten beiden und den letzten beiden Ansätzen ein gravierender Unterschied. Während die eine Gruppe davon ausgeht, dass sich gewissermaßen ein Sinn der Weltgeschichte immer stärker durchsetzt und von daher die Welt entschlüsselt werden kann, betont die zweite Richtung in präsentistischer Weise die Kontingenz der globalen Entwicklungen und die Vielfalt der Akteure, die überhaupt erst diesen globalen Zusammenhang herstellen.

 108

3.2. Die Debatten zur transnationalen Geschichte in der deutschen Historiographie

In einem relativ kurzen Zeitraum (1998–2005) hat es in der deutschen Historiographie eine sehr breite Rezeption der unterschiedlichen Anregungen gegeben, die sich in zahlreichen Debatten niederschlugen, welche jeweils in einzelnen Fachorganen geführt wurden[51]:

  1. Wie kann man die Begrenzungen der Nationalgeschichte von innen heraus aufheben, durch verstärkte Einbeziehung der Kolonialgeschichte und der Geschichte europäischer Nachbarländer in West wie Ost? (Geschichte und Gesellschaft 1998–2000)
  2. Welche Folgen hätte eine Aufhebung der scharfen Begrenzung zwischen allgemeiner und osteuropäischer Geschichte? (Osteuropa 1994–5)
  3. Wie kann man die neuen Ansätze der Kulturtransferforschung mit denen der Welt- und Globalgeschichtsforschung und den Anregungen der Area Studies verknüpfen? (geschichte.transnational 2004–5)
  4. Wie kann man den Cultural Studies und den Kulturwissenschaften eine stärker transnationale Ausrichtung geben? (H-German 2006)

Dabei haben sich einige Charakteristika der transnationalen Geschichte herausgeschält:

  1. die Grundannahme, es gebe eine Geschichte jenseits des Nationalstaates,
  2. eine Konzentration auf die Untersuchung von Akteuren, Bewegungen und Kräften, die Grenzen überschreiten und quer zur Herstellung der Nationen stehen. Dies führt zu globalen oder jedenfalls den nationalen Horizont übersteigenden Denk- und Handlungsmustern.
  3. die geteilte Annahme, dass Modernität nicht allein der Nationalisierung entspringt, sondern ihre Wurzeln gleichermaßen in transnationalen Verflechtungen hat,
  4. ein gemeinsamer Sinn für Offenheit, Pluralität der Ansätze und Experimentierfreude,
  5. die Erfahrung einer transnationalen Praxis von Forschernetzwerken, Webdiskussionsgruppen usw.,
  6. eine gewisse Solidarität gegen die zuweilen heftigen Attacken einer älteren Generation von Historikern, sodass zumindest die Frage aufgeworfen werden kann, ob es sich nicht auch um ein Generationenprojekt handelt.
  7. Es gibt zwar ein intensives Bemühen um die Rekonstruktion früherer Spuren transnationaler Ansätze[52], aber eine engere Definition wird offen abgelehnt oder jedenfalls für den Moment nicht für vordringlich gehalten.
  8. Transnationale Geschichte reiht sich ein in die Gruppe der poststrukturalistischen Ansätze: Sie betont ihren Sinn für Agency als (relative) Kapazität von Individuen und Gruppen zu handeln; die Inspiration aus der microstoria der 1980er Jahre ist ebenso unverkennbar wie die Verknüpfung mit der Idee des »jeux d’échelle«, den Ergebnissen aus der Diskussion um den spatial turn und um die Brauchbarkeit postkolonialer Ansätze.
  9. Es handelt sich auch um einen neuen Weg, historischen Wandel zu denken: der Nationalstaat wird nicht länger als Container behandelt, in dem sich aller Wandel vollzieht. Vielmehr gilt die Aufmerksamkeit vermehrt den »clashing worlds« oder »Bruchzonen der Globalisierung«. Dies zieht die theoretische Schlussfolgerung aus der doppelten Tatsache, dass sowohl die Konvergenz aller historischen Entwicklungen in einem Schema der Modernität als auch der Rückzug aus den globalen Verflechtungen gescheitert sind.

Als Felder empirischer Forschung haben sich in den letzten Jahren vor allem die folgenden erwiesen: Migration, Diaspora und transnationale Räume; Imperialgeschichte mit der Verflechtung von Kolonisierern und Kolonisierten; transnationale Strukturen und Institutionen (Katholische Kirche, transnationale Unternehmen, NGOs usw.); transnationale Interaktionen in politischen Ereignissen; Wahrnehmungen des Anderen und die Rolle des Vergleichs durch historische Akteure als ein Mittel der Fokussierung von Aufmerksamkeit auf bestimmte aneignungswürdige Aspekte in fremden Kulturen.

 109

4. Das Verhältnis von nationaler, transnationaler und europäischer Geschichte

Unleugbar gibt es Zusammenhänge zwischen diesen drei Feldern, wie sich aus dem Vergleich der voranstehenden Abschnitte bereits ergibt. Allerdings zeigt sich auch, dass die Mehrheit der auf die Nation fixiert bleibenden Historiker leichter mit einer europäischen Geschichte, die die EU als Nachbildung des klassischen Nationalstaatsmodells konzipiert, umgehen kann als mit den poststrukturalistischen Ansätzen einer transnationalen Geschichte, die wiederum den Übergängen zu einer Geschichte von Europäisierungsprozessen näher steht.

Diese verschiedenen Koalitionen werden sich in den nächsten Jahren vermutlich weiter ausprägen. Die Prognose scheint nicht allzu gewagt, dass einerseits der Bereich der europäischen Geschichte einen institutionellen Ausbau erfahren wird und dass andererseits der Riss zwischen nationaler und transnationaler Betrachtung der neueren Geschichte mitten durch dieses Feld der europäischen Geschichte hindurch gehen wird.

 110

Literaturverzeichnis

Bach, Maurizio (Hg.): Die Europäisierung der nationalen Gesellschaften, Wiesbaden 2000.

Bayly, Christopher: The Birth of the Modern World, 1780–1914: Global Connections and Comparisons, Cambridge 2004.

Berger, Stefan / Lorenz, Chris: National narratives and their ›others‹: ethnicity, class, religion and the gendering of national histories, in: Storia della Storiografia 50 (2006), S. 59–98.

Blaut, James M.: The Colonizer’s Model of the World: Geographical Diffusionism and Eurocentric History, New York 1993.

Chabod, Federico: Storia dell’idea d’Europa, Bari 1961.

Chandler jr., Alfred D. / Mazlish, Bruce (Hg.): Leviathans. Multinational Corporations and the New Global History, Cambridge 2005.

Charle, Christophe: La crise des sociétés impériales. Allemagne, France, Grande-Bretagne 1900–1940. Essai d’histoire sociale comparée, Paris 2001.

Costello, Paul: World Historians and their Goals: Twentieth-Century Answers to Modernism, DeKalb (Illinois) 1993.

Croce, Benedetto: Storia dell’Europa nel secolo XIX, Bari 1932.

Diner, Dan: Geschichte der Juden, Paradigma einer europäischen Geschichtsschreibung, in: ders., Gedächtniszeiten, München 2003, S. 246–262.

Engel, Ulf / Middell, Matthias: Bruchzonen der Globalisierung, globale Krisen und Territorialitätsregimes – Kategorien einer Globalgeschichtsschreibung, in: Comparativ 15 (2005), H. 5–6, S. 5–38.

Espagne, Michel: Les transferts culturels franco-allemands, Paris 1999.

Espagne, Michel: Sur les limites du comparatisme en histoire culturelle, in: Genèses 17 (1994), S. 112–121.

Febvre, Lucien: L’Europe. Genèse d’une civilisation. Cours professé au Collège de France en 1944/45, Paris 1999.

Fontana, Josep: Europa im Spiegel. Eine kritische Revision der europäischen Geschichte, München 1995.

Frevert, Ute: Europeanizing German History, in: Bulletin of the German Historical Institute, Washington 36 (2005), 9–24.

Freyer, Hans: Weltgeschichte Europas, Stuttgart 1948.

Fuchs, Eckhardt / Middell, Matthias (Hg.): Teaching World History, Leipzig 2006.

 111

Gaspar, David Barry / Geggus, David Patrick (Hg.): A Turbulent Time. The French Revolution and the Greater Caribbean, Bloomington 1997.

Geggus, David Patrick (Hg.): The Impact of the Haitian Revolution in the Atlantic World, Columbia 2001.

Geggus, David Patrick: Haitian Revolutionary Studies, Bloomington 2002.

Gehler, Michael: Zeitgeschichte im dynamischen Mehrebenensystem. Zwischen Regionalisierung, Nationalstaat, Europäisierung, internationaler Arena und Globalisierung, Bochum 2001.

Geyer, Michael / Bright, Charles: World History in a Global Age, in: American Historical Review 100 (1995), H. 4, S. 1034–1060.

Geyer, Michael / Middell, Matthias: Weltgeschichte vor den Herausforderungen der Globalisierung, in: Beiträge zur Historischen Sozialkunde, Wien 1998, S. 21–34.

Giesen, Bernhard / Junge, Kay: Der Mythos des Universalismus, in: Helmut Berding (Hg.), Mythos und Nation (= Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit 3), Frankfurt/M. 1996, S. 34–64.

Grandner, Margarete u.a.: Globalisierung und Globalgeschichte, Wien 2005.

Guarnizo, Luis E. / Smith, Michael P. (Hg.): Transnationalism from Below. New Brunswick 1998.

Harmsen, Robert / Wilson, Thomas M. (Hg.): Europeanization: Institution, Identities and Citizenship, Atlanta 2000.

Hatton, Timothy J. / Williamson, Jeffrey G. (Hg.), Migration and the International Labor Market 1850–1939, London 1994.

Hazard, Paul : La crise de la conscience européenne 1680–1715, 2 Bde, Paris 1935.

Headrick, Daniel R.: The Invisible Weapon. Telecommunication and International Politics, 1851–1945, Oxford 1991.

Headrick, Daniel R.: The Tentacles of Progress. Technology Transfer in the Age of Imperialism, 1850–1940, Oxford 1988.

Headrick, Daniel R.: When Information came of Age. Echnologies of Knowledge in the Age of Reason and Revolution, 1700–1850, Oxford/New York 2000.

Heintz, Bettina / Münch, Richard / Tyrell, Hartmann (Hg.): Weltgesellschaft. Theoretische Zugänge und empirische Problemlagen (=Zeitschrift für Soziologie, SH), Stuttgart 2005.

Hohls, Rüdiger / Schröder, Iris / Siegrist, Hannes (Hg.): Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart 2005.

Hudemann, Rainer / Kaelble, Hartmut / Schwabe, Klaus (Hg.): Europa im Blick der Historiker. Europäische Integration im 20. Jahrhundert. Bewusstsein und Institutionen, München 1995.

Hugill, Peter J.: Global Communication since 1844. Geopolitics and Technology, Baltimore 1999.

Huizinga, Johan: Geschonden Wereld, Amsterdam 1943.

 112

Iriye, Akira: Cultural Internationalism and World Order, Baltimore 1997.

Jachtenfuchs, Markus / KohlerKoch, Beate (Hg.): Europäische Integration, Wiesbaden 2006.

Jarausch, Konrad H. / Lindenberger, Thomas (Hg.): Thinking Europe. Europeanizing Contemporary Histories, London/New York 2007.

Kaeble, Hartmut: Europäisierung, in: Matthias Middell (Hg.), Dimensionen der Kultur- und Gesellschaftsgeschichte, Leipzig 2007, S. 73–89.

Kaegi, Walter: Historische Meditationen, Zürich 1942.

Kaelble, Hartmut (Hg.): The european way. European societies during the 19th and 20th centuries, New York 2004.

Kaelble, Hartmut / Kirsch, Martin / SchmidtGernig, Andreas (Hg.): Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2002.

Kaelble, Hartmut / Schriewer, Jürgen (Hg.): Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 2003.

Kaelble, Hartmut: Eine europäische Gesellschaft? In: Gunnar F.Schuppert / Ingolf Pernice / Ulrich Haltern (Hg.), Europawissenschaft, Baden Baden 2005, S. 299–330.

Kaelble, Hartmut: Sozialgeschichte Europas 1945 bis zur Gegenwart, München 2007.

Kaelble, Hartmut: Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1999.

Kossok, Manfred: In Tyrannos. Revolutionen der Weltgeschichte von den Hussiten bis zur Commune, Leipzig 1989.

Maier, Charles: Consigning the 20th Century to History. Alternative Narratives for the Modern Era, in: American Historical Review, 105, (2000), S. 807–831.

Malmborg, Mikael / Strath, Bo (Hg.): The Meaning of Europe. Variety and Contention within and among Nations, Oxford/New York 2002.

Manning, Patrick: Navigating World History. Historians Create a Global Past, New York 2003.

Marchal, Guy P.: Grenzen und Raumvorstellungen vom 11. bis 20. Jahrhundert, Zürich 1996.

Mazlish, Bruce / Buultjens, Ralph (Hg.): Conceptualizing Global History, Boulder 1993.

Mazlish, Bruce: Comparing Global History to World History, in: Journal of Interdisciplinary History 28 (1998), S. 385–395.

Mazower, Mark: Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000.

McKeown, Adam: Global Migration 1846–1940, in: Journal of World History 15 (2004), H. 2, S. 155–190.

Meyer, John W.: Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, Frankfurt/M. 2005.

 113

Middell, Matthias (Hg.): Transnationale Geschichte als transnationale Praxis, Berlin (=Historisches Forum, Bd. 7), 2007.

Middell, Matthias (Hg.): Vergleich und Kulturtransfer, Leipzig 2000.

Middell, Matthias: Die konstruktivistische Wende, der spatial turn und das Interesse für die Globalisierung in der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft, in: Geographische Zeitschrift 93 (1), S. 33–44.

Middell, Matthias: Europäische Geschichte oder global history – master narratives oder Fragmentierung? Fragen an die Leittexte der Zukunft, in: Konrad H. Jarausch / Martin Sabrow (Hg.), Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen 2002, S. 214–252.

Middell, Matthias: Universalgeschichte, Weltgeschichte, Globalgeschichte, Geschichte der Globalisierung – ein Streit um Worte?, in: Margarete Grandner u.a. (Hg.), Globalisierung und Globalgeschichte, Wien 2005, S. 60–82.

Namier, Louis: Conflicts. Studies in Contemporary History, London 1942.

Nolte, Hans-Heinrich: Die eine Welt, Hannover 1985.

O’Brien, Patrick K.: Langfristiges ökonomisches Wachstum in der Weltgeschichte: ein Literaturüberblick, in: Comparativ 12 (2002), H. 3, S. 71–92.

Osterhammel, Jürgen / Petersson, Niels P.: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen – Prozesse – Epochen, München 2003.

Osterhammel, Jürgen: Die Wiederkehr des Raumes: Geopolitik, Geohistorie und historische Geographie, in: Neue Politische Literatur 43 (1998), S. 374–397.

Osterhammel, Jürgen: Sklaverei und die Zivilisation des Westens, München 2000.

Osterhammel, Jürgen: Transferanalyse und Vergleich im Fernverhältnis, in: Hartmut Kaelble / Jürgen Schriewer (Hg.), Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 2003, S. 439–467.

Patel, Kiran Klaus: Transnationale Geschichte, Berlin 2004.

Pécout, Gilles (Hg.): Penser les frontières de l’Europe du XIXe au XXIe siècle, Paris 2004.

Petri, Rolf / Siegrist, Hannes (Hg.): Probleme und Perspektiven der Europa-Historiographie, Leipzig 2004.

Pirenne, Henri: Histoire de l’Europe, Paris 1936.

Raphael, Lutz: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme, München 2003.

Revel, Jacques: Jeux d’échelles. La micro-analyse à l’expérience, Paris 1996.

Rietbergen, Peter: A Cultural History of Europe, London 1998.

Rojas, Carlos Aguirre: Fernand Braudel und die modernen Sozialwissenschaften, Leipzig 1999.

 114

Sahlins, Peter: Natural Frontiers Revisited: France’s Boundaries since the Seventeenth Century, in: American Historical Review 95 (1990), S. 1423–1451.

Schäfer, Wolf: The New Global History. Toward a Narrative of Pangaea Two, in: Erwägen–Wissen–Ethik 2003, S. 75–81.

Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit, München 2003.

Schuppert, Gunnar Folke: The Europeanisation of Governance, Baden-Baden 2006.

Siegrist, Hannes: Perspektiven der vergleichenden Geschichtswissenschaft. Gesellschaft, Kultur und Raum, in: Hartmut Kaelble / Jürgen Schriewer (Hg.), Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 2003, S. 305–339.

Siegrist, Hannes: Transnationale Geschichte als Herausforderung der wissenschaftlichen Historiographie, in: Matthias Middell (Hg.), Dimensionen der Kultur- und Gesellschaftsgeschichte, Leipzig 2007, S. 40–48.

Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes, 2 Bde, München 1918/22.

Stearns, Peter: Meaning over Memory: Recasting the Teaching of History and Culture, Chapel Hill 1993.

Stourzh, Gerhard (Hg.): Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung, Wien 2002.

Stuchtey, Benedikt / Fuchs, Eckhardt (Hg.), Writing World History: 1800–2000, Oxford 2003.

Todorova, Maria: Der Balkan als Analysekategorie. Grenzen, Raum, Zeit, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 470–492.

Toynbee, Arnold: A Study of History, 10 Bde, Oxford 1934–1954.

Troebst, Stefan (Hg.): Geschichtsregionen: concepts and Critique (=European Review of History 10 (2003), H. 2).

Vobruba, Georg: Die Dynamik Europas, Wiesbaden 2005.

Vries, Peer H.: Are Coal and Colonies Really Crucial? Kenneth Pomeranz and the Great Divergence, in: Journal of World History 12 (2001), H. 2, S. 407–446.

Vries, Peer H.: Governing Growth. A Comparative Analysis of the role of the State in the Rise of the West, in: Journal of World History 13 (2002), S. 67–138.

Wallerstein, Immanuel: Das moderne Weltsystem I–III, Frankfurt/M. 1986/Wien 1998, 2004

Wang, Gungwu (Hg.), Global History and Migrations, Boulder 1997.

Welskopp, Thomas: Identität ex negativo. Der »deutsche Sonderweg« als Metaerzählung in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft der siebziger und achtziger Jahre, in: Konrad H. Jarausch / Martin Sabrow (Hg.), Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen 2002, S. 109–139.

Willoweit, Dietmar: Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt. Landesobrigkeit, Herrschaftsrechte und Territorium in der Rechtswissenschaft, Köln/Wien 1975.

Wolff, Larry: Inventing Eastern Europe. The map of civilization on the mind of Enlightenment, Stanford 1995.

Woolf, Stuart: The construction of a European world-view in the Revolutionary Napoleonic years, in: Past and Present 137 (November 1992), S. 72–101.

 115

Buchreihen, an denen sich der langsame Übergang von einem containerhaften Europabild zu einem akteurszentrierten Verständnis von Prozessen der Europäisierung ablesen lässt:

Europa bauen, dt. Ausg.: C.H.Beck, München.

Europäische Geschichte, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M.

Handbuch der Geschichte Europas, UTB, Stuttgart u.a.

Geschichte Europas, Siedler Verlag, Berlin.

Geschichte Europas, Verlag Kohlhammer, Stuttgart.

European history in perspective, Palgrave Macmillan Publisher, Basingstoke/London.

European History, Routledge, London.

A History of Europe, Longman Publisher, London.

History of Europe, St. Martin’s Press New York.

Europe & Histoire, Editions Bélin, Paris.

 116

[*] Matthias Middell, Prof. Dr., Institut für Kulturwissenschaften (Vergleichende Kultur- und Gesellschaftsgeschichte), Universität Leipzig, Wissenschaftlicher Geschäftsführer des Zentrums für Höhere Studien.

[1] Berger / Lorenz, National narratives and their ›others‹ 2006.

[2] Maier, Consigning the 20th Century to History 2000; zur Anwendbarkeit dieses Konzeptes vgl. auch Engel / Middell, Bruchzonen der Globalisierung, globalen Krisen und Territorialitätsregimes 2005.

[3] Zusammenfassend Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme 2003.

[4] Geyer / Middell, Weltgeschichte vor den Herausforderungen der Globalisierung 1998; Manning, Navigating World History 2003; Grandner u.a., Globalisierung und Globalgeschichte 2005.

[5] So argumentiert beispielsweise Rojas, Fernand Braudel und die modernen Sozialwissenschaften 1999, bezüglich der dominanten Stellung der Annales-Schule im 20. Jahrhundert.

[6] Petri / Siegrist, Probleme und Perspektiven der Europa-Historiographie 2004.

[7] Woolf, The construction of a European world-view in the Revolutionary Napoleonic Years 1992.

[8] Hohls u.a., Europa und die Europäer 2005.

[9] Kaelble u.a, Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert 2002; Kaelble, The European Way 2004.

[10] Hudemann u.a., Europa im Blick der Historiker 1995.

[11] Fontana, Europa im Spiegel 1995.

[12] Middell, Eurpäische Geschichte oder global history 2002; Pécout, Penser les frontières de l’Europe du XIXe au XXIe siècle 2004.

[13] Wolff, Inventing Eastern Europe 1995.

[14] Stourzh, Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung 2002.

[15] Vgl. dazu Osterhammel, Die Wiederkehr des Raumes 1998; Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit 2003; Middell, Die konstruktivistische Wende, der spatial turn und das Interesse für die Globalisierung in der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft 2006.

[16] Gehler, Zeitgeschichte im dynamischen Mehrebenensystem 2001; Frevert, Europeanizing German History 2005.

[17] Kaelble, Sozialgeschichte Europas 1945 bis zur Gegenwart 2007; Jarausch / Lindenberger, Thinking Europe 2007.

[18] Rietbergen, A Cultural History of Europe 1998.

[19] Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt 1975.

[20] Sahlins, Natural Frontiers Revisited 1990; Marchal, Grenzen und Raumvorstellungen vom 11. bis 20. Jahrhundert 1996.

[21] Mazower, Der dunkle Kontinent 2000.

[22] Charle, La crise des sociétés impériales 2002.

[23] Espagne, Les transferts culturels franco-allemands 1999.

[24] Middell, Vergleich und Kulturtransfer 2000; Kaelble / Schriewer, Vergleich und Transfer 2003.

[25] Diner, Geschichte der Juden 2003, S. 247.

[26] Harmsen / Wilson, Europeanization 2000.

[27] Troebst, Geschichtsregionen 2003.

[28] Vobruba, Die Dynamik Europas 2005.

[29] Revel, Jeux d’échelles 1996.

[30] Middell, Vergleich und Kulturtransfer 2000; Osterhammel, Transferanalyse und Vergleich im Fernverhältnis 2003; Siegrist, Transnationale Geschichte als Herausforderung der wissenschaftlichen Historiographie 2007.

[31] Kaelble, Der historische Vergleich 1999.

[32] Espagne, Sur les limites du comparatisme en histoire culturelle 1994.

[33] Welskopp, Identität ex negativo 2002.

[34] Siegrist, Perspektiven der vergleichenden Geschichtswissenschaft 2003.

[35] Heintz u.a., Weltgesellschaft 2005; Meyer, Weltkultur 2005.

[36] Osterhammel / Petersson, Geschichte der Globalisierung 2003.

[37] Manning, Navigating World History 2003; Middell, Universalgeschichte, Weltgeschichte, Globalgeschichte, Geschichte der Globalisierung 2005.

[38] Costello, World Historians and their Goals 1993; Blaut, The Colonizer’s Model of the World 1993; Stearns, Meaning over Memory 1993; Stuchtey / Fuchs, Writing World History 2003; Fuchs / Middell, Teaching World History 2006.

[39] Giesen / Junge, Der Mythos des Universalismus 1996.

[40] Wallerstein, Das moderne Weltsystem I–III 1986–2004; Nolte, Die eine Welt 1985.

[41] Osterhammel, Sklaverei und die Zivilisation des Westens 2000.

[42] Gaspar / Geggus, A Turbulent Time 1997; Geggus, The Impact of the Haitian Revolution in the Atlantic World 2001, Haitian Revolutionary Studies 2002.

[43] Kossok, In Tyrannos 1989, S. 268.

[44] Bayly, The Birth of the Modern World 2004.

[45] Hatton / Williamson, Migration and the International Labor Market 1850–1939, 1994; Wang, Global History and Migrations 1997; McKeown, Global Migration 1846–1940, 2004.

[46] Hugill, Global Communication since 1844, 1999; Headrick, The Tentacles of Progress 1988, The Invisible Weapon 1991, When Information came of Age 2000.

[47] O’Brien, Langfristiges ökonomisches Wachstum in der Weltgeschichte 2002; Vries, Are Coal and Colonies Really Crucial? 2001, Governing Growth 2002.

[48] Mazlish / Buultjens, Conceptualizing Global History 1993; Mazlish, Comparing Global History to World History 1998.

[49] Schäfer, The New Global History 2003.

[50] Iriye, Cultural Internationalism and World Order 1997; Guarnizo / Smith, Transnationalism from Below 1998; Chandler / Mazlish, Leviathans 2005.

[51] Vgl. für eine ausführlichere Darstellung und Dokumentation dieser Debatten: Middell, Transnationale Geschichte als transnationale Praxis 2007.

[52] Patel, Transnationale Geschichte 2004.

ZITIEREMPFEHLUNG

Matthias Middell, Das Verhältnis von nationaler, transnationaler und europäischer Geschichtsschreibung, in: Kerstin Armborst / Wolf-Friedrich Schäufele (Hg.), Der Wert »Europa« und die Geschichte. Auf dem Weg zu einem europäischen Geschichtsbewusstsein, Mainz 2007-11-21 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft online 2), Abschnitt 96–116.

URL: <http://www.ieg-mainz.de/vieg-online-beihefte/02-2007.html>.

URN: <urn:nbn:de:0159-2008031319>.

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieses Aufsatzes hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein.

Beim Zitieren einer bestimmten Passage aus dem Aufsatz bitte zusätzlich die Nummer des Textabschnitts angeben, z.B. 97 oder 96–99.

Susan Rößner *

Nationale Historiographietraditionen als Voraussetzung der Europageschichtsschreibung. Die Whig-Geschichtsschreibung in englischen Europa- und Weltgeschichten der 1920er Jahre

Gliederung:

Das Commonwealth oder Europa?

Ein europäisches Geschichtsbewusstsein?

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Zitierempfehlung

Text:

Begibt man sich in der Geschichte der Geschichtsschreibung auf die Suche nach Hinweisen auf ein europäisches Geschichtsbewusstsein, so scheint ein Blick in »Europa«geschichten, die in Form großer universalhistorischer Synthesen und oft mehrbändiger Monumentalwerke immer ein großes Publikum gefunden haben, vielversprechend. Wer sich mit der Geschichte Europas befasst und darüber schreibt, so könnte die logische Schlussfolgerung heißen, der hat auch einen aktiven, »bewussten« Zugang zur Vergangenheit Europas. Er beschäftigt sich, so meint man, nicht nur mit der Geschichte seines Landes, sondern lässt nationale Schranken hinter sich und denkt in europäischem Maßstab.

Dass dies für den Großteil der Historiker jedoch nicht zutrifft, zeigt bereits der Titel der Mainzer Tagung, der die Geschichtsschreibung noch auf dem Weg zu einem europäischen Geschichtsbewusstsein wähnt, nicht aber bereits am Ziel angekommen. Für die Geschichte der Geschichtsschreibung darf also davon ausgegangen werden, dass die Zeugnisse europäischen Geschichtsbewusstseins eher marginal ausfallen. Einen Grund dafür sieht der folgende Beitrag in den nationalen historiographischen Produktionsbedingungen der Europageschichtsschreibung. Gegenstand der Untersuchung sind dabei nicht die strukturellen Voraussetzungen geschichtswissenschaftlichen Arbeitens wie die Soziogenese der Historiker, ihre institutionelle Anbindung, Fragen der Forschungsförderung oder ihre teilweise enge Verknüpfung mit dem Staat. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die theoretischen und methodologischen Ansätze, auf deren Grundlage Geschichtsschreibung – und damit auch Europageschichtsschreibung – betrieben wurde, und die Verbindungen, die sich zwischen historiographischen Vorannahmen, dem Europabild der Historiker und ihrem europäischen Geschichtsbewusstsein ausmachen lassen. Die Wirkkraft theoretischer Rahmenbedingungen ist nicht zu unterschätzen: anders als ad hoc greifende Anlässe und historische Zäsuren wie die Weltkriege, die die Produktion von Europageschichten beeinflussen oder erst veranlassen, stellt die historiographische Tradition einen Faktor dar, der häufig über mehrere Historikergenerationen hinweg wirkt. Diese Traditionen sind national bestimmt und prägen auch heute noch jeden Historiker grundlegend, der das universitäre System seines Landes durchläuft. Für das Verfassen von Europageschichten hingegen wurde man nicht ausgebildet. Manch einer fühlte sich hierzu berufen, wie etwa der englische Autor Herbert George Wells, der sich für »if not specially equipped, at least specially disposed« hielt.[1] Bei anderen mag die Motivation zum Verfassen einer Europageschichte hauptsächlich in den lukrativen Verdienstmöglichkeiten bestanden haben.[2] Die Bewohner einer in Auflösung befindlichen Welt – wie es nach dem Ersten Weltkrieg der Fall war – suchten in den Synthesen Orientierung, Informationen und nicht zuletzt ästhetischen Lesegenuss und bescherten den Historikern auf diese Weise enorme Verkaufszahlen. Bei den Autoren der Europageschichten ist daher kaum mit einer ›idealistischen‹ Einstellung zur Europageschichtsschreibung, und weniger noch mit ihrer Prädisposition qua Ausbildung zu rechnen. Will man also in der Geschichte der Geschichtsschreibung Spuren eines europäischen historischen Bewusstseins finden, kommt man nicht umhin, die Bedingungen und Motivationen, die sich aus den nationalen Traditionen der Geschichtsschreibung ergeben, zu berücksichtigen. Im Folgenden soll anhand der liberalen englischen Whig-Historiographie gezeigt werden, welchen Einfluss die Art und Weise, Geschichte zu schreiben, auf das Europabild der Historiker hatte. Analysiert werden Europageschichten englischer Historiker der 1920er Jahre.

 117

Aufgrund einer – etwa im Verhältnis zu Deutschland, wo der Historismus lange Zeit die unbestrittene Leitidee war – relativ großen Vielfalt der englischen Geschichtsschreibung ist zunächst fraglich, ob hier von nur einer historiographischen Tradition gesprochen werden kann. Ähnlich dem Historismus nimmt jedoch die Whig-Historiographie, zumal in der ersten Jahrhunderthälfte, eine starke Stellung in der englischen Geschichtswissenschaft ein. Zwar sind auch hier die zentralen Themen, die der Verfassungsgeschichte, der imperialen Expansion und der Industrialisierung, stark von der politischen Entwicklung des Landes geprägt.[3] Wie der Historismus kann darüber hinaus auch die Whig-Geschichtsschreibung nicht allein als wissenschaftlicher Ansatz betrachtet werden: Sie war in gewissem Maße immer auch eine politisch-gesellschaftliche Grundeinstellung. Jedoch ist die Beeinflussung der Lebenswelt der Historiker weitaus weniger stark gewesen. Weniger als der Historismus in Deutschland hatte die Whig-Geschichtsschreibung den Charakter einer Doktrin, die die Deutung der Geschichte für sich beanspruchte.[4] Im Gegensatz zu den deutschen waren die englischen Historiker institutionell häufig nicht eingebunden, sondern schreibende Privatmänner, und schon aus diesem Grund politischer Vereinnahmung ein Stück weit entrückt.[5] Die größere Offenheit der englischen Geschichtswissenschaft zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sich parallel neue starke Ansätze formieren konnten, so zum Beispiel die konservative und marxistische Geschichtsschreibung.[6] In der Tat hatte gerade der Erste Weltkrieg dazu geführt, die Richtigkeit whigscher Grundannahmen in Frage zu stellen. Dennoch wurden die auftretenden Neuerungen nicht unwesentlich von den Leitlinien der Whig-Geschichte beeinflusst. Die dort so prominente Erzählung von der Fortdauer der britischen Institutionen beispielsweise wurde auch in der konservativen Geschichtsschreibung zu einem wichtigen Aspekt[7], und die marxistische Historiographie teilte mit der Whig-Geschichtsschreibung den Glauben an den teleologischen Charakter der Geschichte und eine beständige Fortentwicklung in Kombination mit der Umsetzung einer von vornherein angelegten Idee. Während bei den Marxisten die Vorstellung leitend war, Geschichte habe ihren Kernpunkt in den ökonomischen Verhältnissen und der Kapitalismus werde eines Tages durch die Herrschaft der Arbeiterklasse überwunden, führte bei den Liberalen die Geschichte zwangsläufig zu Freiheit und Demokratie. Doch trotz der Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Schulen englischer Geschichtsschreibung soll hier die Whig-Geschichtsschreibung, der bis in die zweite Nachkriegszeit dominierende Ansatz, im Mittelpunkt stehen.

 118

Das Commonwealth oder Europa?

Eine der liberalen Vorstellungen war die, die koloniale Ausdehnung des Inselreichs und die Existenz des Empires sei ein wesentlicher und nahezu zwangsläufiger Bestandteil in der britischen Geschichte gewesen. Das Empire respektive das Commonwealth formte als prägendes Element britischen Selbstverständnisses die Herangehensweise an die Kategorien von Nation und Nationalstaat, internationalen Beziehungen und internationaler Zusammenarbeit. Viel weniger als z.B. bei ihren deutschen Kollegen stand bei den englischen liberalen Historikern der Nationalstaat im Mittelpunkt. Nicht nur fand hier das liberale Staatsverständnis seinen Ausdruck, welches den Staat nicht als Selbstzweck sah, sondern als Institution, für die sich Menschen täglich neu entschieden. Es zeigt sich außerdem, dass ein Vielvölkerreich, wie es das Empire darstellte, mit der Idee eines homogenen Staates nicht sonderlich kompatibel war. Die Betonung lag daher weniger auf dem Nationalstaat als auf der Nation, die in dreierlei Hinsicht einen positiven Referenzrahmen bot: Sie war aufgrund des »täglichen Plebiszits« Sinnbild für eine demokratische Gesellschaft, als die sich Großbritannien verstand. Zweitens galt die Existenz eines Nationalgefühls als dienlich für die Ausdehnung von »law and liberty«.[8] Und drittens war die Nation ein ganz selbstverständliches Merkmal nicht nur des europäischen Kontinents, sondern auch des britischen Commonwealth, das meist als ein Zusammenschluss von freien Nationen aufgefasst wurde. Einmütig wurde ein Bild gezeichnet, wonach das Commonwealth glückliche freie Staaten beherberge, die unbehelligt ihre nationale Selbstbestimmung ausleben könnten. Anstelle des durch feste Grenzen fixierten Nationalstaats favorisierten die Historiker die »natural map« oder »natural frontier«, eine Position, die man sich als Inselbewohner einerseits leisten konnte, die aber andererseits der gewünschten Flexibilität der Außengrenzen Großbritanniens und seines Empires Genüge tat. Der Nationalstaatsgedanke hätte hier eine für Großbritannien kontraproduktive Wirkung gehabt.

 119

Doch auch wenn man sich eher auf das Volk und auf die Nation und weniger auf ihre Verwirklichung in einem Staat konzentrierte, gab es durchaus Affinitäten zum Nationalstaat. Englische Historiker kritisierten zwar den »Nationalismus«, der, wie das Beispiel Deutschlands zeige, aggressiv sei und nach Gebietsvergrößerungen strebe. Das Erreichen eines Nationalgefühls wurde aber gleichzeitig als Gradmesser zivilisatorischer Entwicklung gebraucht und damit positiv konnotiert. Grundsätzlich gestand man jeder Nation, die den entsprechenden ›Entwicklungsstand‹ erreicht hatte, die Nationalstaatlichkeit zu.[9] Freilich ist zu fragen, inwieweit man bereit war, diesen Schritt bei seinen eigenen Dominions zuzulassen: denn bei weitem nicht, argumentierte Arnold Toynbee, erreichten alle Völker den Status einer Nation, tatsächlich seien die meisten existierenden Völker »undoubtedly unripe« dafür.[10] Die realpolitische Umsetzung der liberalen Grundannahme von der Individualität der Völker hielt man aber deshalb für unproblematisch, weil man davon ausging, dass die Welt eine friedlichere sei, hätten alle Völker – auch die des Commonwealth – einmal ihren Traum vom Nationalstaat erreicht. Dieser Gedanke harmonischen Zusammenlebens spiegelt sich beispielsweise in der Ansicht von George Peabody Gooch, Staaten seien ebenso wie Menschen an moralische Standards gebunden. Erst später, als sich zeigte, dass auch die nationalstaatliche Versorgung nicht zum friedlichen Zusammenleben gereichen würde, erfolgte ein Schwenk von der Betonung des Nationalstaats hin zum Staat per se. 1918/19 aber erreichte der liberale Glaube an den Nationalstaat vorerst seinen Höhepunkt, als die britische Delegation bei den Verhandlungen der Pariser Verträge die Selbstbestimmung zahlreicher kleiner Nationen verfocht und durchzusetzen half. Und davon zeugt auch das Europabild der englischen Historiker. Gerade die Aufteilung in starke selbständige Elemente – Nationen und Staaten – war demzufolge ein typisches Charakteristikum Europas. Die größte politische Errungenschaft bestehe in dem Recht »of freely constituted human groups to work out their own salvation.«[11] Zwar sei eine wirtschaftliche Zusammenarbeit erstrebenswert, politisch aber solle Europa unterteilt werden in »unabhängige, selbstgenügsame, sich selbst entwickelnde Gruppen, in der Lage dazu, in Harmonie Seite an Seite zu leben.«[12] Betont wird also in erster Linie die Unabhängigkeit der Völker und Staaten; an einem breiteren, etwa supranationalen Engagement hatte Großbritannien dagegen wenig Interesse.

 120

Die mehr internationalistisch ausgerichtete Strömung des Liberalismus ging davon aus, dass ein Kollektiv übereinstimmende Interessen habe und man sich auf einen Idealzustand sozialer Beziehungen zubewege. In engem Zusammenhang dazu war man zudem der Annahme, ein Zusammenschluss von Nationen werde immer durch geteilte Werte, gemeinsame Interessen und institutionelle Verbindungen zusammengehalten werden.[13] Diese Einstellung reflektierte sich sicherlich in dem Verständnis, mit welchem man dem eigenen Zusammenschluss von Nationen gegenübertrat: ein Klebstoff, mit dem das Commonwealth zusammengehalten wurde, war die Loyalität aller Dominions und Kolonien zur Krone und den britischen Institutionen. Zwar gab es in Großbritannien auch Projektionen supranationaler Verbindungen, die mit dem Commonwealth nicht allzu viel zu tun hatten: grundlegend war das Ideal der Verständigung zwischen den Nationen und das der internationalen Kooperation, ganz unerheblich zunächst in welcher Form. Verständigung und Kooperation schienen den Liberalen vor allem vor und während des Ersten Weltkrieges eine Notwendigkeit zu sein, war doch ein europäischer Krieg erst zur Wahrscheinlichkeit und kurze Zeit später real geworden. Der neu entstandene Völkerbund fand in diesem Rahmen einerseits Zustimmung, erfuhr jedoch auch Ablehnung, da das Commonwealth in seiner Gänze nur schwer in einer weltumspannenden Organisation unterzubringen war. Egal ob pro oder contra Völkerbund: Europa wurde in logischer Konsequenz übergangen. Viele der liberalen Intellektuellen zielten, unter Beibehaltung des Commonwealth, auf einen Zusammenschluss größeren Umfangs. Für die Mitgliedschaft in einem europäischen Staatenverbund war das weltumspannende Vielvölkerreich gänzlich ungeeignet. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, zu einem Zeitpunkt, an dem das britische Weltreich einen kritischen Punkt in seiner Existenz erreicht hatte, wurden englische Bestrebungen nach einem supranationalen Verband auf begrenztere – das heißt zum Beispiel: europäische – Maßstäbe geeicht. In den 1920er Jahren hatte das internationalistische Ideal der Liberalen jedoch noch zur Folge gehabt, dass Europa als Modell und Möglichkeit von vornherein ausgeschlossen wurde. Das Empire genügte durchaus auch sich selbst. Es habe, so die weitverbreitete Meinung, den Internationalismus bereits verwirklicht, versammle in sich alle großen politischen Ideen und gebe Entwicklungsfreiheit bis hin zur Möglichkeit der Selbstregierung.[14] Mithin sei es das Modell für die Rettung der »westlichen Zivilisation«: die Kolonialreiche sollten nicht zugunsten eines »master-states« geführt werden, sondern zum Wohle ihrer »subjects«. »And may we not claim that this has come to be the ruling principle of the British Empire […] ?« Nur ein Handeln, wie es das Inselreich vormache, sichere die weitere Vorherrschaft Europas.[15]

 121

Prinzipiell also scheint der Bedarf an Utopien, wie sie die Ideen eines europäischen oder globalen Zusammenschlusses lange waren, bei den britischen Liberalen eher gering gewesen zu sein. Die Whig-Historiographie schrieb die erfolgsverwöhnte Geschichte des Inselreichs, in der quasi-natürlich alles auf eine parlamentarische Demokratie zulief. Die institutionell-politische und gesellschaftliche Struktur Großbritanniens waren demzufolge der Idealfall menschlicher Entwicklung und die Briten für eine solche Ordnung geboren. Zudem war man geopolitisch saturiert und gleichzeitig kaum angreifbar. Die natürliche Festlegung der Grenzen und das aus der zufriedenstellenden Entwicklung des Landes erwachsene Selbstbewusstsein sorgten für eine gefestigte historische Identität.[16] Diese oder das Wohl des Landes musste daher nicht erst noch gesucht und gefunden werden, erst recht nicht in Europa. Großbritannien konnte sich aus diesem Grund eine gute Portion Eigensinn sehr wohl leisten. Die Fixierung auf den eigenen ›Sonderweg‹ hatte daher einen gewissen Ego- und Ethnozentrismus und Nationalismus zur Folge, der in der englischen Lebenswelt, aber auch in der Geschichtsschreibung die Außerachtlassung anderer Kulturen, und seien sie auch so nah wie die Nachbarn auf dem europäischen Kontinent, mit sich brachte. Erst nach 1945 wurde man sich im Vereinigten Königreich darüber klar, dass man über die Kontinentaleuropäer recht wenig wusste. Die Tendenz, die eigenen Errungenschaften für die besten zu halten, führte zudem zu einem Missionstrieb, der seine deutlichste Ausprägung im Umgang mit den Kolonien erfuhr, aber auch das Bild von ›zivilisierten‹ Staaten und von den internationalen Beziehungen prägte, für die angenommen wurde, mit der Zeit müssten sich Demokratie, Freiheit und Wohlstand in allen Teilen der Welt durchsetzen.

Grundsätzlich war das Empire für die englischen Historiker ein geeignetes Mittel, die nationale Frage und internationalistische Tendenzen miteinander zu vereinbaren. Denn gerade die nationale Selbstbestimmung der Dominions war für Großbritannien ein Alibi, das Commonwealth aufrechtzuerhalten: nach britischer Lesart war die Begleitung der kolonialen Selbstbestimmungsprozesse notwendig und nur im Verbund des Commonwealth möglich. Das Europabild gestaltete sich entsprechend dieser Ambivalenz zwischen Nationalismus und Internationalismus in zwei Punkten: erstens in dem oben beschriebenen skeptischeren Verhältnis gegenüber dem Nationalstaat, teilweise nationalen Tendenzen generell, und zweitens in der Neigung, zwar eine Annäherung der europäischen Staaten vorzuschlagen, letztlich aber den Weltstaat oder eine Weltorganisation vorzuziehen. Denn die Idee eines Universalstaats war eher mit dem Commonwealth zu vereinbaren als europäische Einigungsbemühungen. Für Großbritannien, das sich neben den USA und der Sowjetunion als dritte Weltmacht begriff, wäre ein Heranrücken an Europa in seinen Beziehungen zum Commonwealth eher hinderlich gewesen. Auf diese Weise konnte es sich sogar als Vorreiter supranationaler Organisationsformen und somit als Vorbild für Europa stilisieren. Man kann daher sagen, dass die englischen Historiker aufgrund der britischen kolonialen Erfahrungen einem multinationalen Zusammenschluss offener als mancher ihrer Kollegen vom Kontinent gegenüberstanden – wenn auch fraglich bleibt, ob an einen Zusammenschluss gleichberechtigter Nationen gedacht wurde.

 122

Man zeigte also durchaus Interesse am Kontinent, wandte sich aber in letzter Konsequenz wieder von ihm ab. H. G. Wells beispielsweise machte sich durchaus Gedanken über die Zukunft des Kontinents: das Ende der europäischen Zivilisation, so der Autor, stünde bevor, sollten nicht bald der Transport und das Reisen erleichtert und die Grenzen aufgehoben werden. Wenn Europa nicht in Anarchie verfallen wolle, müsse es aufhören, in Kategorien wie »das Volk von England« oder »das Volk von Frankreich« zu denken. Es gehe mindestens um das Volk von Europa, wenn nicht gar um das Volk der Welt[17], warnte Wells. In der Tat war Letzteres sein eigentliches Anliegen; nicht ein vereintes Europa strebte er an, sondern den »world state of all mankind«.[18] »I think I was born cosmopolitan«, sagte Wells, er hielt sich sogar für einen »Anti-Nationalisten«, aber wenn er so über das Britische Empire nachdenke, könne er sich nicht dagegen entscheiden. Das Commonwealth sei nicht zu zerstören, sondern im Gegenteil zu erhalten.[19] Das selbe Muster findet sich auch bei Gooch: ein Interesse an Europa, gepaart mit einer projizierten Einbindung in einen globalen Rahmen. Das Überleben der europäischen Zivilisation hielt Gooch nur für möglich, sollte Europa in den Völkerbund eingegliedert werden.[20] Die Einstellung der englischen Historiker zu Europa war also die einer distanzierten Anteilnahme. Europa sollte in einem »Weltstaat« oder in einer internationalen Organisation wie dem Völkerbund aufgehen und ein Mitglied unter vielen werden. Eine Hinwendung zum Kontinent, ganz zu schweigen von einem Zusammenschluss Europas, war deshalb nicht denkbar, weil es Großbritannien um einen größeren Korpus ging, in welchem Freiheit und nationale Selbstbestimmung herrschten. Englische Historiker, so kann man daher sagen, betrieben Geschichtsschreibung mit einem stark verengten nationalen Blickwinkel und stellten die nationalen Interessen in den Vordergrund. Da diese jedoch hauptsächlich in der Erhaltung des Empires bestanden, zeichnete die britischen Einstellungen ein konsequenter Blick nach außen aus – anders als zum Beispiel die auf den Kontinent ausgerichtete Haltung Deutschlands. Nicht der Nationalismus stand bei den englischen Historikern Europa im Weg, sondern – wenngleich eigennützige – globale Vorstellungen und internationalistische Tendenzen. Für die Frage nach den Voraussetzungen der Europageschichtsschreibung im spezifisch britischen Kontext bedeutet dies, dass es einigen englischen Historikern bereits zu wenig gewesen sein mag, an die Stelle von Nationalgeschichten ›lediglich‹ Europageschichten zu setzen, hatten sie doch bereits die Welt, oder zumindest das Commonwealth, im Blick. Ohnehin hatte sich nach dem Ersten Weltkrieg mehr und mehr die Auffassung Verbreitung gefunden, Europa sei marginalisiert und die Bedeutung seiner Geschichte relativiert. Europäische Geschichte sei eben nur ein Teil der Weltgeschichte, bemerkte beispielsweise A. J. Grant.[21] Durchgesetzt hatte sich jedenfalls der Eindruck, eine rein auf Nationalgeschichten aufbauende Geschichtswissenschaft sei nicht länger zeitgemäß. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg kritisierte man an deutschen und französischen Europageschichten, dass sie im Prinzip nur Nationalgeschichten seien, die die Ereignisse anderer Länder additiv hinzunähmen.[22] Ein Vorzug der allgemeinen Geschichte sei es doch gerade, die Enge des Nationalismus zu verlassen; stattdessen würde dieser mit der deutschen Variante der Weltgeschichten nur noch intensiviert.[23]

 123

Ein europäisches Geschichtsbewusstsein?

<pstyle=“text-indent:>Sind nun die englischen Europageschichten der 1920er Jahre Zeugnisse eines europäischen Geschichtsbewusstseins? Immerhin zeigt die Tatsache, dass Europageschichten geschrieben wurden, dass Europa ein Thema war. In der Tat enthalten die meisten der untersuchten Quellen beispielsweise Kapitel, in denen das zeitgenössische Europa aus gemeinsamen Wurzeln hergeleitet ist, ein zuverlässiger Indikator dafür, dass Europa für die Autoren mehr war als eine geographische Bezeichnung. Weniger als die deutschen waren die englischen Publikationen zudem Sammlungen von Nationalgeschichten, sondern betrachteten für mehrere europäische Länder geltende Prozesse wie z.B. den Imperialismus. »We shall at any rate feel that European history is one and continuous«, urteilte A. J. Grant.[24] Wenn es einen Grund gebe, die europäische Geschichte zu studieren, dann den, dass der Untersuchungsgegenstand – Europa – selbst eine Einheit bilde.[25] Auch wenn man sich scheinbar auf einer anderen Ebene bewegte, etwas ›Besonderes‹ unter den Europäern war und letztendlich eine Einheit für sich bildete, zählten die Briten ihre Insel kulturell und historisch zu Europa. Und ebenso wie die meisten anderen europäischen Historiker benutzten sie die klassischen Narrative, erzählten Europa entlang des traditionellen Kanons von antiken Wurzeln, einem ›goldenen‹ Mittelalter, der französischen Revolution und dem Zeitalter der Industrialisierung.

 124

</pstyle=“text-indent:>

Legt man als Maßstab jedoch die in der gegenwärtig stattfindenden Diskussion genannten Bedingungen für die Europageschichtsschreibung an, sucht man also nach einer Geschichtsschreibung, die über Westeuropa hinausgeht, den Blick auf Außereuropa wagt, Vergleiche und transnationale Analysen vornimmt, nationale Paradigmen zu überwinden sucht und pluralistisch erzählt, so gilt für die meisten, im Übrigen nicht nur englischen Historiker der ersten Nachkriegszeit lediglich der Tatbestand der Nichterfüllung. Unter diesen Umständen ist jedoch zu fragen, inwiefern die Maßstäbe, die heute gesetzt, aber immer noch von den wenigsten Historikern umgesetzt werden, auf die Geschichtsschreibung vorangegangener Jahrzehnte oder Jahrhunderte angewandt werden können. Schließlich profitiert die Geschichtsschreibung der Gegenwart mit der Präsenz eines institutionalisierten Europas von der Verankerung eines europäischen Bezugsrahmens im Alltag. Kann für vorangegangene Historikergenerationen bereits von einem europäischen Geschichtsbewusstsein gesprochen werden, welches diesen Namen verdient? Was könnte ›europäisches Geschichtsbewusstsein‹ heißen? Was bedeutet ›europäische Geschichte‹? Handelt es sich um Ereignisse, die für ganz Europa bedeutend sind? Wie viele Länder müssen davon betroffen sein, um von einem europäischen Ereignis sprechen zu können? Als problematisch erweist sich dabei, dass in wahrscheinlich keines der historischen Ereignisse und Entwicklungen alle Länder Europas einbezogen waren. Es ist zu fragen, inwieweit die historischen Prozesse, die in Europa stattfanden, nicht doch zu disparat und letztendlich nur regional wirksam waren, um sie als europäisch zu kennzeichnen. Dies hätte zur Folge, die Liste der »wirklich« europäischen Ereignisse recht kurz zu halten. Kann der Dreißigjährige Krieg also als europäisches Ereignis bezeichnet werden, oder war er nicht vielmehr ein transnationales Ereignis auf europäischem Boden? Sieht man den Krieg – oder besser gesagt, seinen Abschluss, den Westfälischen Frieden – als Beginn eines Zeitalters der Säkularisation und der Religionsfreiheit mit europaweiter Ausstrahlung und Implikationen für das europäische Selbstverständnis, so könnte es als europäisches Ereignis und damit als Teil europäischer Geschichte beschrieben werden.

Letztendlich bedeuten diese Überlegungen für die Zukunft, die europäische Geschichte pluralistisch zu denken und zu schreiben. Dies erschwert das Finden einer gemeinsamen europäischen Geschichtslegende, vermag aber die europäischen Peripherien und die unerzählten Geschichten der Europäer mit einzubeziehen und damit die Dominanz der westeuropäischen, nationalstaatlichen, männlichen Geschichte zu überwinden.

 125

Nichtsdestotrotz gilt für größere Kollektive, wie Europa eines sein möchte, eine gemeinsame Geschichtserzählung für die gemeinschaftliche Identitätsstiftung als unerlässlich. Vor diesem Hintergrund wird die fehlende europäische Identität, parallel zum Verweis auf die schwach ausgeprägte europäische Öffentlichkeit und – ein Problem speziell des Europas der Europäischen Union – auf mangelnde institutionelle Transparenz und politische Partizipationsmöglichkeiten des europäisches Bürgers, auch auf ein fehlendes europäisches historisches Narrativ zurückgeführt. Bei allen Versuchen, eine Meistererzählung Europas zu schreiben, sollte jedoch die Frage im Raum stehen, inwieweit sich eine Geschichtsschreibung, die historische Ereignisse europäisiert, um sie für ein europäisches Geschichtsbewusstsein gangbar machen zu können, in den Dienst der Erstellung einer solchen Legende stellt. Es könnte gefragt werden, zu welchem Grade dann Versuche der Etablierung eines Narrativs durch Bücher und Museen nicht krampfhafte Installationen einer europäischen Identität sind, eine Entwicklung, die man nach den Lehren aus der Geschichte der Nationalstaaten mit Skepsis betrachten müsste. Vielleicht liegt die Identität und das Selbstverständnis Europas eben nicht in den bisher formulierten Motti, die Europa beispielsweise als Einheit in Vielfalt, als aufgeklärtes und demokratisches Europa oder eben auch als die Verwirklichung eines bestimmten historischen Musters beschreiben. Allzu oft greifen diese zu kurz, weil sie nur einen kleinen Teil der Europäer ansprechen, von zu wenigen sozialen Gruppen oder Ländern geteilt werden oder aber die europäische Geschichte zu optimistisch betrachten und als Orientierungsbaustein daher zu unglaubwürdig sind. Vielleicht liegt der Kern Europas in der Suche nach der rationalen Auslegung eines diffusen Zusammengehörigkeitsgefühls.

 126

Literaturverzeichnis

Gooch, George Peabody: History of Modern Europe. 1878–1919, London 1923.

Grant, Arthur James: A History of Europe, London u.a. 1925.

Grant, Arthur James: Outlines of European History, London 1921.

Holbraad, Carsten: Internationalism and Nationalism in European Political Thought, New York 2003.

Irmschler, Konrad: Großbritannien, in: Gerhard Lozek (Hg.), Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert. Neuzeithistoriographie und Geschichtsdenken im westlichen Europa und in den USA, Berlin 1998, S. 47–112.

Joll, James: National Histories and National Historians. Some German and English Views of the Past, London 1984.

Marquand, David: Nations, Regions and Europe, in: Bernard Crick (Hg.), National Identities. The Constitution of the United Kingdom, Oxford 1991, 25–37.

Martel, Gordon: The Origins of World History. Arnold Toynbee before the First World War, in: Australian Journal of Politics and History 50 (2004) 3, S. 343–356.

Muir, Ramsay: The Expansion of Europe. The Culmination of Modern History, London 1917.

Osterhammel, Jürgen: Epochen der britischen Geschichtsschreibung, in: Wolfgang Küttler / Jörn Rüsen / Ernst Schulin (Hg.), Geschichtsdiskurs. Bd. 1: Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, Frankfurt/M. 1993, S. 157–188.

Soffer, Reba N.: British Conservative Historiography and the Second World War, in: Benedikt Stuchtey / Peter Wende (Hg.), British and German Historiography. 1750–1950. Traditions, Perceptions, Transfers, Oxford 2000, S. 373–399.

Toynbee, Arnold: The new Europe. Some essays in reconstruction, London 1915.

Wells, Herbert George: The Outline of History. Being a Plain History of Life and Mankind, London 5th rev. ed. 1930.

Wells, Herbert George: What Kind is the British Empire Worth to Mankind? Meditations of an Empire Citizen, in: Ders.: The Way the World is Going. Guesses and Forecasts of the Years Ahead, London 1928.

 127

ANMERKUNGEN

[*] Susan Rößner, M.A., Mitarbeiterin im SFB 640 »Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel« an der HU Berlin, Teilprojekt A5 »Europarepräsentationen«.

[1] Wells, Outline 1930, Bd. II, S. 2.

[2] Martel, World History 2004, S. 343.

[3] Osterhammel dagegen ist der Ansicht, dass die Historiker in der Zeit der Professionalisierung der englischen Geschichtswissenschaft (ca. 1860/70–1930) diese drei Themen mieden und Nationalgeschichte aufgrund »nationaler Saturiertheit« keine Rolle spielte. Wichtig für diesen Beitrag ist, dass die Prämissen der Whig-Geschichtsschreibung nicht zentrale Themen der englischen Europa- und Weltgeschichtsschreibung, aber als hintergründige Vorannahmen präsent waren und auf diese Weise, so das Postulat, die Art der Europa- und Weltgeschichtsschreibung geprägt haben. Osterhammel, Epochen 1993, S. 174.

[4] Ebd., S. 162.

[5] Jedoch begaben sich viele englische Historiker während des Ersten Weltkriegs in den Staatsdienst, wo sie kriegsrelevante Arbeiten verrichteten, oder forschten gezielt zur außenpolitisch verwertbaren Themen. Siehe u.a. Irmschler, Großbritannien 1998, S. 60.

[6] Verwiesen sei auch auf die Meinung, die Whig-Geschichtsschreibung sei im Wesentlichen ein in Folge des 1950 erschienenen Buchs The Whig Interpretation of History von Herbert Butterfield entstandenes Konstrukt, das die englische Geschichtsschreibung unzulässig reduziere. Tatsächlich aber sind viele der untersuchten englischen Europa- und Weltgeschichten von der Erzählung der britischen innen- und außenpolitischen Besonderheiten bestimmt.

[7] Soffer, Historiography 2000, S. 379.

[8] <pstyle=“text-indent:>Muir, Expansion 1917, S. 5.</pstyle=“text-indent:>

[9] Marquand, Nations 1991, S. 28.

[10] Toynbee, Europe 1915, S. 62.

[11] Ebd., S. 18. Hervorhebung durch die Autorin.

[12] Ebd., S. 62.

[13] Holbraad, Internationalism 2003, S. 39.

[14] Muir, Expansion 1917, S. 234.

[15] Ebd., S. 226.

[16] Joll, National Histories 1984, S. 4.

[17] Wells, Outline 1930, Bd. I., S. 63.

[18] Ebd., S. 73.

[19] Wells, Empire 1928, S. 122.

[20] Gooch, Modern Europe 1923, S. 696.

[21] Grant, Outlines 1921, S. VI.

[22] Grant, History 1925, S. V.

[23] Grant, Outlines 1921, S. VIf.

[24] Ebd., S. 2.

[25] Grant, History 1925, S. VI.

ZITIEREMPFEHLUNG

Susan Rößner, Nationale Historiographietraditionen als Voraussetzung der Europageschichtsschreibung. Die Whig-Geschichtsschreibung in englischen Europa- und Weltgeschichten der 1920er Jahre, in: Kerstin Armborst / Wolf-Friedrich Schäufele (Hg.), Der Wert »Europa« und die Geschichte. Auf dem Weg zu einem europäischen Geschichtsbewusstsein, Mainz 2007-11-21 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft online 2), Abschnitt 117–127.

URL: <http://www.ieg-mainz.de/vieg-online-beihefte/02-2007.html>.

URN: <urn:nbn:de:0159-2008031319>.

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieses Aufsatzes hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein.

Beim Zitieren einer bestimmten Passage aus dem Aufsatz bitte zusätzlich die Nummer des Textabschnitts angeben, z.B. 118 oder 117–120.

Bernd Schönemann *

Didaktische Varianten der Präsentation europäischer Geschichte im Unterricht

Gliederung:

1. Vorbemerkungen

2. Didaktische Finalität: Identität oder Orientierung?

3. Thematischer Zuschnitt: Einheit oder Vielfalt?

4. Strukturierende Muster – Addition oder Integration?

5. Mediale Produkte: Lehrbuch oder Handbuch?

6. Methodische Optionen: Stoffpräsentation oder Problemorientierung?

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Zitierempfehlung

Text:

1. Vorbemerkungen

Ursprünglich sollte sich dieser Beitrag mit der »Umsetzung und Vermittlung des Europagedankens in Schulbüchern« befassen. Nach reiflicher Überlegung hat sich der Verfasser dazu entschlossen, das Thema zu modifizieren. Grund dafür ist Heinz Gollwitzers einschlägige Unterscheidung zwischen einem eher retrospektiv gefassten »Europabild« und einem eher zukunftsorientierten »Europagedanken«. »Im folgenden«, so beschrieb Gollwitzer das Ziel seiner Münchner Habilitationsschrift, »wird es sich darum handeln, zusammengefaßt unter der Bezeichnung ›Europabild‹ die universalgeschichtliche und weltpolitische Auffassung Europas als einer Völkerfamilie, Kultureinheit und politischer Schicksalsgemeinschaft aus den Zeugnissen der Vergangenheit erläuternd nachzuzeichnen, während unter dem Leitwort ›Europagedanke‹ Kundgebungen europäischen Gemeinschaftsbewußtseins und Vorschläge zur Organisation des Erdteils betrachtet werden. Von selbst ergibt sich aus dieser Aufgabenstellung der weitere Versuch, Europabild und Europagedanken in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und Durchdringung zu erhellen.«[1] Hier soll analog verfahren werden. Außerdem richtet sich der Blick nicht nur auf Schulbücher, sondern auch auf Erlasse, Richtlinien und Lehrpläne sowie auf den geschichtsdidaktischen Diskurs, damit ein möglichst breites Spektrum erfasst wird. Deshalb lautet das Thema: »Didaktische Varianten der Präsentation europäischer Geschichte im Unterricht«.

Eine zweite Vorbemerkung zielt auf das Verhältnis von Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur. Beide zählen zu den geschichtsdidaktischen Schlüsselkategorien, die sich am besten begreifen lassen, wenn man sie sich als zwei Seiten einer Medaille vorstellt: Auf der einen Seite Geschichtsbewusstsein als individuelles Konstrukt, das sich von außen nach innen, in Internalisierungs- und Sozialisationsprozessen aufbaut; auf der anderen Seite Geschichtskultur als kollektives Konstrukt, das auf dem entgegengesetzten Wege der Externalisierung entsteht und objektive Gestalt annimmt. Geschichtskultur bezieht sich auf die Außenseite des Geschichtsbewusstseins in der Gesellschaft und lässt sich als soziales System aus Institutionen, Professionen, Medien und Publika beschreiben, in dem Kommunikation stattfindet – eine kulturell durchformte Kommunikation, die auf eine spezifische Weise Geschichte als Bedeutung erzeugt.[2] Folgt man dieser Differenzierung, dann erkennt man unschwer, dass die folgenden Überlegungen in Reichweite und Geltungsanspruch beschränkt bleiben müssen: Sie verstehen sich nicht als empirische Bestandsaufnahme individuellen Geschichtsbewusstseins, und sie geben deshalb auch keine Antwort darauf, ob so etwas wie ein »europäisches Geschichtsbewusstsein« im Singular überhaupt existiert.[3] Dafür versuchen sie, geschichtskulturelle Rahmenbedingungen individueller Bewusstseinsbildung auszuloten, und zwar am Beispiel der Institution des schulischen Geschichtsunterrichts, insofern und insoweit er sich mit dem Gegenstand der europäischen Geschichte befasst.

 128

2. Didaktische Finalität: Identität oder Orientierung?

An den Anfang meiner Analyse möchte ich das Problem der didaktischen Finalität der unterrichtlichen Behandlung europäischer Geschichte in der Schule stellen: Soll sie »in den jungen Menschen das Bewußtsein einer europäischen Identität […] wecken«, wie es in dem 1990 novellierten Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) über »Europa im Unterricht« heißt,[4] oder soll sie eher der kulturellen »Orientierung […] in den wachsenden europäischen Dimensionen« der alltäglichen Lebenspraxis dienen, wie dies von Jörn Rüsen gefordert wird?[5]

Mit der Alternative »Identität oder Orientierung«, das sei vorausgeschickt, bewegen wir uns auf der sog. Lernzielebene, auf der – seit gut drei Jahrzehnten – Lernleistungserwartungen an die Schülerinnen und Schüler formuliert werden. Vorher wurde das, was historisch gelernt werden sollte, einfach mit den Inhalten gleichgesetzt. Erst die moderne Geschichtsdidaktik hat der Scheinidentität von Inhalten und Zielen ein Ende bereitet und auf diese Weise die Möglichkeit geschaffen, unterschiedliche Lernleistungserwartungen zu identifizieren und auf ihre Begründungsmuster hin zu untersuchen. Was nun den identifikatorischen Ansatz betrifft, so geht er von der Notwendigkeit der europäischen Einigung aus und stellt die Schule in den Dienst der politischen Sache: »Die Schule«, so fordert der bereits erwähnte KMK-Beschluss, »hat die Aufgabe, die Annäherung der europäischen Völker und Staaten und die Neuordnung ihrer Beziehungen bewußt zu machen. Sie soll dazu beitragen, daß in der heranwachsenden Generation ein Bewußtsein europäischer Zusammengehörigkeit entsteht […].«[6] Wie bedenkenlos die Anhänger einer Identitätsstiftung »von oben« bisweilen bereit sind, auf traditionelle gesinnungsbildende Muster zurückzugreifen, konnte man kürzlich einem Essay Ernst-Wolfgang Böckenfördes über die »Grundlagen europäischer Solidarität« entnehmen: »Um das Nation-Bewußtsein der Europäer zu fördern und zu stärken«, solle man nur daran denken, »welche Bedeutung für die Ausbildung des Nationalbewußtseins in Frankreich und Deutschland die Schule gehabt hat (neben dem ›Militär als Schule der Nation‹). Warum«, so Böckenförde wörtlich, »sollte es für die Nation der Europäer nicht ebenso sein?«[7]

Kenner der Materie dagegen haben schon immer Zweifel an solch schlichten Wirkungskalkülen artikuliert: »Die Überweisung Europas als Thema an die Schule«, so warnte Karl-Ernst Jeismann bereits 1984, »darf […] nicht als politisches Alibi für eine Politik der europäischen Regierungen herhalten, die [die, B.S.] europäische Einigkeit oder gar Identität nicht überzeugend darzustellen vermag. Kein Unterricht kann Identitäten erzeugen – er kann sie nur bestätigen, reflektieren, affektiv und kognitiv einüben, wenn sie real vorhanden sind.«[8] Nicht zuletzt deshalb wählt Rüsens Plädoyer für kulturelle Orientierung auch einen ganz anderen Ausgangspunkt als die KMK oder Böckenförde – nicht die politischen Interessen der Europäischen Union und der sie tragenden Regierungen, sondern die lebensweltlichen Bedürfnisse der Lernsubjekte. Damit sie sich in einer derzeit vorwiegend durch Ökonomie und Politik geprägten europäischen Lebenswelt besser zurechtfinden können, bedürfen die Schülerinnen und Schüler als künftige Bürger Europas der kulturellen und damit auch der historischen Orientierung.[9] Eine europäische Identität im Singular hält Rüsen weder für vorstellbar noch für wünschenswert: »[…] die gewachsene historische Identität nationaler oder regionaler Provenienz wird nie in eine übergeordnete europäische Identität hinein verschwinden. Insofern wird ein europäisches Geschichtsbewußtsein, das die Orientierung seiner Träger in den wachsenden europäischen Dimensionen ihres Lebens wirklich leistet, eine höchst komplexe Mischung aus Elementen sein, die eine Vielfalt von Zugehörigkeiten austrägt und die europäische in diese Vielfalt integriert.«[10]

 129

3. Thematischer Zuschnitt: Einheit oder Vielfalt?

Zusätzlich zum Problem der Lernzielsetzung – aber durchaus nicht unabhängig davon – stellt sich die Frage, in welchem Zuschnitt europäische Geschichte unterrichtlich präsentiert werden soll: als Einheit oder Vielfalt. Eugen Kotte hat in seiner soeben erschienenen Augsburger Habilitationsschrift im Rahmen einer breit angelegten Untersuchung der einschlägigen politik- und geschichtsdidaktischen Literatur, aber auch aktueller Curricula und Lehrmaterialien für die Sekundarstufe II den empirischen Nachweis geführt, dass das unitarische Europabild eindeutig dominiert. Dieses Bild beschreibt Europa als »historisch-zivilisatorische Einheit«[11] und konstruiert unter Verweis auf die Verwurzelung der europäischen Kultur in der griechisch-römischen Antike eine »geschichtliche Kontinuitätslinie vom frühen Mittelalter bis zur heutigen Europäischen Union.«[12] Die Affinität dieses Europabildes zum identifikatorischen Ansatz liegt auf der Hand. Darüber hinaus ist es hochgradig selektiv: zum einen, weil es Phänomene bereits dann als europäisch einstuft, wenn sie in mehreren Staaten beobachtbar sind, zum anderen aber auch, weil es »desintegrative Vorgänge« verdeckt und eine Vielzahl von Ausgrenzungen und Ausschlüssen vornimmt.[13] Karl-Ernst Jeismann hat darauf hingewiesen, dass das unitarische Europabild sozusagen systematisch vier »Fehlformen des Umgangs mit der Geschichte Europas« produziert. Die erste Fehlform bezeichnet er als »hegemoniale Verkürzung der europäischen Geschichte«. Diese liegt dann vor, wenn sich die Darstellungen in den Geschichtsbüchern auf die in der europäischen Geschichte jeweils führenden Mächte konzentrieren.[14] Das ist etwa der Fall, wenn die Wiederherstellung des europäischen Gleichgewichts auf dem Wiener Kongress als europäisches Friedenskonzept gepriesen wird und unerwähnt bleibt, dass die Aufteilung des Kontinents in verschiedene Einflusszonen auch Opfer forderte, beispielsweise Polen, das nach drei Teilungen in den Jahren 1772, 1793 und 1795 als Staat von der europäischen Landkarte verschwunden war und 1815 eben nicht wiederhergestellt, sondern ein viertes Mal geteilt wurde.[15] Als zweite Fehlform bezeichnet Jeismann die »geographisch-kulturelle Verengung« Europas auf das westliche Europa.[16] Die damit einhergehende Ausblendung der jüngeren historischen Entwicklung in den Ländern Mittel- und Osteuropas ist zwar nach Überwindung der politischen Teilung Europas mittlerweile revidiert worden,[17] aber an der »Vorstellung vom christlichen Abendland als der Definitionsgrundlage Europas« und an der Gewohnheit, »das Frankenreich als eigentlichen Beginn und ursprüngliche Substanz europäischer Geschichte« auszuweisen, halten im Prinzip alle von Kotte untersuchten Lehrbücher fest und nehmen damit beispielsweise den »Ausschluss des orthodoxen Byzanz wie auch des […] arabisch beherrschten Spanien« in Kauf.[18] Kommen wir zur dritten Fehlform, der »teleologische[n] Verkürzung«, die die europäische Geschichte gleichsam »wie eine Pappelallee« auf die europäische Einigung zulaufen lässt. Jeismann hält diese Art der Geschichtsbetrachtung, die uns an die borussische Schule deutscher Nationalgeschichtsschreibung erinnert, für besonders problematisch: »Eine so manipulierte Geschichte […] macht untüchtig für die Aufgabe der Zukunft, weckt falsche Erwartungen. In unserem Falle ließe sie vor allem verkennen, daß eine Einigung Europas die Überwindung starker Traditionen der europäischen Geschichte bedeuten würde.«[19] Für die vierte und letzte Fehlform, die idealistische Verkürzung, welche die bisherige europäische Geschichte als »Inkarnation« bestimmter Werte, vor allem der »Ideale der Freiheit, des Rechts, der Menschenwürde, der Wohlfahrt und des Friedens in einem auf Vernunft gegründeten Gemeinwesen« darstellt,[20] gebe ich ein Beispiel aus dem Europäischen Geschichtsbuch, das für sich spricht: »Mit der Wiedergeburt der Antike im 15. Jahrhundert (Renaissance)«, so heißt es dort, »vollzogen die Humanisten die Synthese zwischen dem griechisch-römischen Erbe und christlichem Denken. In diese Verbindung gingen später die Ideale der Demokratie, der […] Gleichheit der Menschen und des persönlichen Glücks auf der Grundlage individueller Freiheit ein. Solche Leitwerte europäischen Denkens erhielten während der Aufklärung durch englische und französische Philosophen ihre moderne Form. […] In Europa hatte sich nach und nach die Überzeugung herausgeschält, daß die Gesellschaft die Grundfreiheiten jedes einzelnen garantieren müsse. Dazu gehörte auch die Verurteilung von Folter und Sklavenhandel. Diese Bewegung von langer Dauer mündete in die Deklaration der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen 1948. Viele Völker außerhalb Europas übernahmen die beschriebenen Grundwerte.«[21]

 130

Gegen das unitarische Europabild, das sich als ebenso dominant wie defizitär entpuppt hat, entwickelt Kotte nun ein alternatives Konzept »divergierende[r] Europabilder«, welches dezidiert auf Vielfalt setzt.[22] »Bis in die Gegenwart hinein«, so Kotte, »prägen nationale Unterschiede weit mehr das Bewusstsein der in Europa lebenden Menschen [,] als dies durch Einheitsvorstellungen auf der Basis der Beschwörung von Gemeinsamkeiten der Fall ist. Daher wird gefordert, die Unterschiedlichkeit insbesondere der nationalen Entwicklungen als Ausgangspunkt für einen Geschichtsunterricht mit europäischer Dimension zu nutzen, um nicht verschiedene Voraussetzungen, divergierende Interessenlagen und auch offen zutage getretene Konflikte in harmonisierenden europäischen Geschichtsbildern zu neutralisieren und (in vielen Fällen immer noch virulente) Gegensätze zu kaschieren.«[23] Diese energische Forderung nach einem pluralistischen Zugang zur europäischen Geschichte ist als solche nicht neu, sondern kann sich durchaus auf Anregungen aus der neueren geschichtsdidaktischen Diskussion stützen – beispielsweise auf eine in Deutschland bislang kaum bekannte Konferenzreihe des Europarates in den 1990er Jahren[24] sowie auf zwei größere Europa-Projekte des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig.[25] Aber Kotte geht einen entscheidenden Schritt weiter, indem er im Anschluss an eine Analyse »dominierende[r] nationaler Europavorstellungen« in Deutschland, Polen, Tschechien und Ungarn[26] gleichsam prototypisch einen Unterrichtsvorschlag entwickelt, der das polnische Europabild des »antemurale Christianitatis« behandelt.[27] Das Lernpotential dieser kleinen Sequenz ist beachtlich, denn sie verortet die Selbstdeutung der Polen, Bollwerk und Schutzwall der europäischen Christenheit zu sein, nicht nur in unterschiedlichen historischen Schlüsselsituationen, darunter das Konstanzer Konzil (1414–1418) und die Schlacht bei Wien (1683), sondern sie vermag darüber hinaus zu verdeutlichen, weshalb im heutigen Polen die »Rückkehr nach Europa« durch den Beitritt zur EU nicht als gnädig gewährte Chance des Westens, sondern als Einlösung einer seit langem bestehenden Bringschuld interpretiert wird.[28] Alles in allem wird man feststellen dürfen, dass die nationale Mythenvielfalt in Europa, die bereits in zwei großen Sonderausstellungen des Deutschen Historischen Museums in Berlin thematisiert und präsentiert wurde,[29] eine wahre Fundgrube für geschichtsdidaktische Europa-Konzepte darstellt, welche die Pluralität der Uniformität vorziehen.

 131

4. Strukturierende Muster – Addition oder Integration?

Jenseits der Dialektik von Einheit und Vielfalt in der Gesamtkonzeption des Gegenstandes ist danach zu fragen, nach welchen Modi Lehrbücher und Unterrichtsmaterialien die einzelnen Inhalte der europäischen Geschichte anordnen und darbieten. Eine hinreichende Antwort auf diese Frage erfordert zwingend die Einbeziehung der Richtlinien und Lehrpläne, denn diese fungieren in juristischer Hinsicht als Verwaltungsvorschriften, deren Einhaltung maßgeblich darüber entscheidet, ob Schulbücher die Hürde staatlicher Zulassungsverfahren erfolgreich nehmen oder an ihr scheitern. Da Richtlinien und Lehrpläne in didaktischer Hinsicht zugleich Planungsinstrumente sind, die Unterricht über lange Zeiträume hinweg in seinen Zielen und Inhalten strukturieren, besitzen sie eine Steuerungskraft, die sich auch auf die inhaltliche Gestaltung der Geschichtslehrbücher und Kursmaterialien erstreckt.[30] Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, ob die curricular vorgegebene Anordnung der Inhalte dem traditionellen Muster des chronologischen Durchgangs folgt oder auch alternative Thementypen, insbesondere thematische Längsschnitte, zulässt. Lassen Sie mich diesen Zusammenhang am Beispiel der nordrhein-westfälischen Lehrpläne für das Fach Geschichte an Gymnasien erläutern. Zunächst zum Lehrplan für die Sekundarstufe I, der den Unterricht in den Jahrgangsstufen 6 und 7 sowie in den Jahrgangsstufen 9 und 10 zu zwei sog. »zweijährige[n] Lerneinheiten« zusammenfasst, die durch die Jahrgangsstufe 8, in der kein Geschichtsunterricht stattfindet, getrennt werden. Beide Lerneinheiten sind als chronologischer Durchgang angelegt, beginnen und enden aber jeweils mit einem thematischen Längsschnitt, darunter auch der Längsschnitt »Europa als Traditionsraum« zu Beginn der Jahrgangsstufe 9 und der Längsschnitt »Lernen aus der Geschichte – Kriegserfahrung und Friedenssicherung« am Ende der Jahrgangsstufe 10.[31]

 132

Was nun den chronologischen Durchgang betrifft, so begünstigt er eindeutig eine additive Präsentation der europäischen Dimension, die einen geringen Grad an Verbindlichkeit aufweist und einer Marginalisierung der europäischen Geschichte im Wortsinne Vorschub leistet. Nehmen wir als Beispiel das kurze 20. Jahrhundert, das laut Lehrplan in der Jahrgangsstufe 10 entlang den Fachinhalten »Demokratie und kommunistische Diktatur«, »Nationalsozialistische Herrschaft«, »Ost-West-Konflikt« und »Friedenssicherung« behandelt werden soll. Hinsichtlich des Ost-West-Konflikts sind folgende inhaltliche Vorgaben verbindlich: »Einführung in die Grundstrukturen der amerikanischen Politik im 20. Jahrhundert, Erarbeitung der Blockbildung als Folge der sowjetisch-amerikanischen Systemkonkurrenz, Erarbeitung der deutschen Teilung im Rahmen der Blockbildung, Erarbeitung der Einbindung der beiden deutschen Staaten in zwei konträre Blocksysteme, Erarbeitung der deutschen Vereinigung vor dem Hintergrund der Auflösung des Ostblocks.«[32] In dieser erkennbar chronologisch angelegten und zwischen Welt- und Nationalgeschichte oszillierenden Inhaltsstruktur hat die europäische Geschichte keinen eigenständigen Platz. Das zeigt sich auch im verbreiteten Klett-Lehrwerk »Geschichte und Geschehen«, dessen Titelhierarchien Bände sprechen. Durchaus lehrplankonform verfahrend, enthält »Geschichte und Geschehen« ein Kapitel mit dem Titel »Von der Teilung zur Wiedervereinigung: Deutschland nach 1949«. Dessen zweites Teilkapitel trägt den Untertitel »Die Außenpolitik der beiden deutschen Staaten«, und darin finden sich insgesamt zehn Randtitel, eben Marginalien, von denen drei einen expliziten Europabezug aufweisen: »Von der Montanunion zur Europäischen Union«, »Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft« und »Die Sicht auf Europa ändert sich«. Außerdem werden behandelt: die Souveränität der Bundesrepublik und der DDR, der Bonner Alleinvertretungsanspruch, die neue Ostpolitik, das Streben der DDR nach mehr Eigenständigkeit, die Entspannung als oberstes Ziel der deutschen Außenpolitik und die transatlantische Wertegemeinschaft.[33] Wer mit dieser bunten thematischen Mixtur einen Gemischtwarenladen assoziiert, in dem man sich je nach Gusto bedienen kann, liegt nicht ganz falsch.

 133

Allerdings, und das ist für unser Problem ganz entscheidend, finden sich in demselben Lehrbuch auch ausführliche und zusammenhängende Darstellungen zur europäischen Geschichte mit korrespondierenden Materialteilen, die eine integrale Struktur aufweisen, so das über dreißig Seiten umfassende Kapitel »Europa: Welche Traditionen führen in die Zukunft?«[34] sowie das immerhin noch sechsseitige Teilkapitel »Frieden durch Einheit der Völker?«[35] Diese integralen Darstellungen verdanken ihre Existenz wohl weniger einer plötzlich entflammten Leidenschaft ihrer Autoren für die europäische Geschichte als vielmehr der schlichten Tatsache, dass sie mit den curricular obligatorischen Längsschnitten zu Beginn der 9. und am Ende der 10. Jahrgangsstufe korrespondieren.[36]

Was die Sekundarstufe II anbelangt, so lässt sich in allen Richtlinien und Lehrplänen eine deutliche Abnahme chronologischer und eine ebenso deutliche Zunahme systematischer Strukturierungsmuster beobachten. In Nordrhein-Westfalen wirkt sich dies günstig für die europäische Geschichte aus, denn sie wird hier – neben der Orts- und Regionalgeschichte, der deutschen Geschichte und der Geschichte außereuropäischer Kulturen – zu einem von insgesamt vier obligatorischen »Handlungs- und Kulturräumen« erklärt, die in der Abfolge der sechs Halbjahreskurse angemessen zu berücksichtigen sind.[37]

Dass europäische Geschichte nicht nur als Sachgeschichte, sondern auch dezidiert als Diskursgeschichte vermittelt werden kann,[38] zeigt der sächsische Lehrplan für den zweiten Leistungskurs der Jahrgangsstufe 12, wenn er die »Tradition des Europagedankens und Europapläne« auf die unterrichtliche Tagesordnung setzt.[39] Dass dieser Aspekt einen eigenen thematischen Längsschnitt zu tragen vermag, hat Helmut Beilner eindrucksvoll unter Beweis gestellt.[40]

 134

5. Mediale Produkte: Lehrbuch oder Handbuch?

»Jede Nation«, so hat Karl-Ernst Jeismann bemerkt, »blickt gleichsam von einem eigenen Aussichtsturm aus auf die Geschichte der anderen Nationen, Europas und der Welt. […] Angesichts eines solchen Polyzentrismus der Geschichtssicht […] sollte man darum nicht in einen unitarischen Voluntarismus verfallen, dergestalt, daß man die Geschichte Europas als eine einheitliche Geschichte für alle Schulen der Europäer verordnete.«[41] Unitarischer Voluntarismus – das war Ende der 1970er Jahre die entscheidende Begründung für die Ablehnung des »eine[n] europäische[n] Geschichtsbuch[s]«.[42] Gleichwohl ist bekanntlich zu Beginn der 1990er Jahre erstmals solch ein »Europäisches Geschichtsbuch«[43] erschienen – zweifellos ein sehr verdienstvoller Syntheseversuch, dem jedoch von Anfang an, u.a. von Winfried Schulze,[44] schwerwiegende Mängel attestiert worden sind, die auch in einer revidierten Auflage, welche die Veränderungen seit 1989 einbezog, nicht beseitigt werden konnten.[45] Ob die unitarisch ausgerichtete Schulbuchproduktion zu weiteren europäischen Syntheseversuchen führen wird oder ob sie sich eher auf die bilaterale Ebene verlagert, wie das kürzlich erschienene Deutsch-französische Geschichtsbuch für die gymnasiale Oberstufe[46] vermuten lassen könnte, bleibt abzuwarten. Unabhängig davon stellt sich einmal mehr die Frage nach der Zeitgemäßheit und Wünschbarkeit einer Vereinheitlichung europäischer Perspektivenvielfalt. Wer diese Frage verneint, der sollte sich wieder in die Richtung bewegen, die das Georg-Eckert-Institut Ende der 1970er Jahre mit seinem Projekt der Erarbeitung eines Lehrerhandbuchs der europäischen Geschichte eingeschlagen hat.[47] Daran nicht nur partiell[48], sondern umfassend wiederanzuknüpfen und ein spezielles Medium für Lehrerinnen und Lehrer zu entwickeln, das diese mit fachhistorischen Basisinformationen versieht und ihnen ein reichhaltiges Materialangebot an die Hand gibt, wäre auch deshalb eine lohnende Aufgabe, weil ein solches Instrument im Unterrichtsalltag dabei helfen könnte, die schroffe Alternative einer entweder nur additiven oder nur integralen Behandlung der europäischen Geschichte zu umgehen – durch konkrete Hinweise auf die Verflechtung der europäischen Geschichte mit der Geschichte größerer und kleinerer Räume, d.h. durch Herstellung von Bezügen zur außereuropäischen und zur Weltgeschichte einerseits und zu den National- und Regionalgeschichten andererseits.

 135

6. Methodische Optionen: Stoffpräsentation oder Problemorientierung?

Bleibt abschließend die Frage nach dem methodischen Umgang mit der europäischen Geschichte. Dazu ein Arbeitsauftrag aus dem Lehrbuch »Geschichte und Geschehen«: Er beginnt mit der Kurzfrage »Griechenland – die Wiege unserer Kultur?« und endet mit der Aufforderung »Nennt Beispiele, die diese Auffassung belegen.«[49] Selbstverständlich ist dieser Auftrag ein Beispiel dafür, wie man es nicht machen soll. Eine Lehrmethodik, die darauf abzielt, dass Geschichte nicht als Stoff gelernt, sondern als Vorstellung erarbeitet wird,[50] kommt gerade bei der Behandlung der europäischen Geschichte nicht umhin, Fremdverstehen zu initiieren, das stetige Wechseln der Perspektive und den Vergleich als Untersuchungsmethode systematisch einzuüben und dadurch Multiperspektivität zu kultivieren.[51] Vielleicht noch wichtiger als der lehrmethodische ist der lernmethodische Aspekt, der sich auf die anzustrebenden Schülerleistungen bezieht. Theodor Schieder hat im Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen Handbuch der Europäischen Geschichte mit Recht darauf hingewiesen, dass Europa immer »eine Frage [bleibe], auf die zu verschiedenen Zeiten die Antworten verschieden lauten«.[52] Diese Erkenntnis sollte nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für die Schule Gültigkeit besitzen. Fragen sind in der Beschäftigung mit der europäischen Geschichte sicher nicht alles, aber ohne die Bereitschaft und Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler, historische Fragen an Europa zu stellen und also heuristisch eigenaktiv zu werden, ist mit noch so ausgeklügelten Vermittlungskonzepten wenig gewonnen.

 136

Literaturverzeichnis

Beilner, Helmut: Europakonzepte vom 14. Jahrhundert bis zum Beginn des europäischen Einigungsprozesses nach 1945, in: Elisabeth Erdmann (Hg.), Thematische Längsschnitte für den Geschichtsunterricht in der gymnasialen Oberstufe, Neuried 2002 (Bayerische Studien zur Geschichtsdidaktik 4), S. 213–263.

Beilner, Helmut: »Lernziel Europa« – oder Funktionalisierung von Geschichte?, in: Ders. (Hg.), Europäische Perspektiven im Geschichtsunterricht, Neuried 2003 (Regensburger Beiträge zur Geschichtslehrerfortbildung 2), S. 8–28.

Bergmann, Klaus: Multiperspektivität. Geschichte selber denken, Schwalbach/Ts. 2000.

Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Grundlagen europäischer Solidarität, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. Juni 2003, S. 8.

Borries, Bodo von: Europa im Geschichtsunterricht. Vorhandenes Schülerbewusstsein, wünschenswerte Inhalte und problematische Lernprogression, in: Georg Weißeno (Hg.), Europa verstehen lernen. Eine Aufgabe des Politikunterrichts, Schwalbach/Ts. 2004 (Politik und Bildung 29), S. 214–233.

Brütting, Rolf: Die Lehrer und ihre Pläne. Reaktion des Einzelnen und Aktion des Verbandes, in: Saskia Handro u.a. (Hg.), Geschichtsdidaktische Lehrplanforschung, Münster 2004 (Zeitgeschichte – Zeitverständnis 12), S. 251–263.

Europa im Unterricht (Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 8.6.1978 i.d.F. vom 7.12.1990), hg. vom Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder der Bundesrepublik Deutschland, Bonn o.J.

Europäisches Geschichtsbuch. Geschichtliches Unterrichtswerk für die Sekundarstufe I und II. Deutsche Ausgabe, 1. Aufl. Stuttgart 1992.

Flacke, Monika (Hg.): Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama. Begleitband zur Ausstellung, Berlin 1998.

Flacke, Monika (Hg.): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Begleitbände zur Ausstellung, 2 Bde., Berlin 2004.

Geschichte und Geschehen. Sekundarstufe I, 4 Bde., Leipzig 2003–2005.

Gollwitzer, Heinz: Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, 2., neubearb. Aufl. München 1964.

Histoire / Geschichte. Europa und die Welt seit 1945. Deutsch-französisches Geschichtsbuch. Gymnasiale Oberstufe, Stuttgart u.a. 2006.

Jeismann, Karl-Ernst: Gegenstand, Probleme und Ziele der Konferenz, in: Ders. u.a. (Hg.), Geschichte Europas für den Unterricht der Europäer. Prolegomena eines Handbuchs der europäischen Geschichte für die Lehrer der Sekundarstufe II, Braunschweig 1980 (Studien zur internationalen Schulbuchforschung 27), S. 9–11.

Jeismann, Karl-Ernst u.a. (Hg.): Geschichte Europas für den Unterricht der Europäer. Prolegomena eines Handbuchs der europäischen Geschichte für die Lehrer der Sekundarstufe II, Braunschweig 1980 (Studien zur internationalen Schulbuchforschung 27).

Jeismann, Karl-Ernst: »Geschichtsbewußtsein«. Überlegungen zur zentralen Kategorie eines neuen Ansatzes der Geschichtsdidaktik, in: Hans Süssmuth (Hg.), Geschichtsdidaktische Positionen. Bestandsaufnahme und Neuorientierung, Paderborn u.a. 1980, S. 179–222.

Jeismann, Karl-Ernst: Ein Geschichtsbuch für Europas Schulen?, in: Journal für Geschichte 1 (1979), H. 2, S. 12.

Jeismann, Karl-Ernst: Europäische Identität – der Beitrag des Geschichtsunterrichts (1984), Ndr. in: Ders.: Geschichte als Horizont der Gegenwart. Über den Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive, hg. u. eingeleitet v. Wolfgang Jacobmeyer u.a., Paderborn 1985, S. 259–279.

 137

Kotte, Eugen: »In Räume geschriebene Zeiten«. Nationale Europabilder im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe II, Idstein 2007 (Schriften zur Geschichtsdidaktik 20).

Lehrplan Gymnasium. Gewichtete Fassung. Geschichte. Klassen- und Jahrgangsstufen 5–12, hg. vom Sächsischen Staatsministerium für Kultus, Dresden 2001.

Pingel, Falk (Hg.): Macht Europa Schule? Die Darstellung Europas in Schulbüchern der Europäischen Gemeinschaft, Frankfurt/M. 1995 (Studien zur internationalen Schulbuchforschung 84).

Richtlinien und Lehrpläne für das Gymnasium – Sekundarstufe I – in Nordrhein-Westfalen. Geschichte, hg. vom Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen (1993), unveränd. Ndr., Frechen 1999.

Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe II – Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen, hg. vom Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Frechen 1999.

Rohlfes, Joachim: Europa im Geschichtsunterricht, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 (2003), S. 245–259.

Rohlfes, Joachim: Doppelte Perspektiven. Ein deutsch-französisches Geschichtsbuch, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 58 (2007), S. 53–57.

Rüsen, Jörn: Europäisches Geschichtsbewußtsein als Herausforderung an die Geschichtsdidaktik, in: Marko Demantowsky u.a. (Hg.), Neue Geschichtsdidaktische Positionen, 2. Aufl. Bochum u.a. 2006 (Dortmunder Arbeiten zur Schulgeschichte und zur historischen Didaktik 32), S. 57–64.

Rüsen, Jörn: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983.

Schieder, Theodor: Vorwort zum Gesamtwerk, in: Ders. (Hg.), Handbuch der Europäischen Geschichte. Bd. 1. Europa im Wandel von der Antike zum Mittelalter, Stuttgart 1976, S. 1–21.

Schönemann, Bernd: Geschichtsdidaktische Dimensionen der Identität. Bedingungs- und Entscheidungsfelder historischen Lehrens und Lernens in der Schule, in: Herbert Raisch u.a. (Hg.), Historia didactica. Geschichtsdidaktik heute, Idstein 1997, S. 221–231.

Schönemann, Bernd: Europäische Geschichte als Gegenstand und Problem der Geschichtsdidaktik, in: Manfred Seidenfuß u.a. (Hg.), Vorstellungen und Vorgestelltes. Geschichtsdidaktik im Gespräch, Neuried 2002, S. 211–229.

Schönemann, Bernd: Geschichtsdidaktik und Geschichtskultur, in: Bernd Mütter u.a. (Hg.), Geschichtskultur. Theorie – Empirie – Pragmatik, Weinheim 2000 (Schriften zur Geschichtsdidaktik 11). S. 26–58.

Schönemann, Bernd: Geschichtsdidaktik, Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft, in: Hilke Günther-Arndt (Hg.), Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, 2. Aufl. Berlin 2005, S. 11–22.

Schönemann, Bernd: Lehrpläne und Richtlinien, in: Hilke Günther-Arndt (Hg.), Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, 2. Aufl. Berlin 2005, S. 48–62.

Schörken, Rolf: Geschichtsunterricht in einer kleiner werdenden Welt. Prolegomena zu einer Didaktik des Fremdverstehens, in: Hans Süssmuth (Hg.), Geschichtsdidaktische Positionen. Bestandsaufnahme und Neuorientierung, Paderborn u.a. 1980, S. 315–335.

Schulze, Winfried: Von der »europäischen Geschichte« zum »Europäischen Geschichtsbuch«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 44 (1993), S. 402–409.

Stradling, Robert: Die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts im Unterricht. Projekt »Lehren und Lernen der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert«, Strasbourg 2003.

Tiemann, Dieter: Europäischer Geschichtsunterricht, in: Klaus Bergmann u.a. (Hg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik, 5., überarb. Aufl. Seelze-Velber 1997, S. 559–562.

 138

ANMERKUNGEN

[*] Bernd Schönemann, Prof. Dr., Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Geschichtskultur, Universität Münster.

[1] Gollwitzer, Europabild 1964, S. 12. Kursive Hervorhebungen im Original.

[2] Vgl. Schönemann, Geschichtsdidaktik 2000, S. 44 u. 46 f.; Schönemann, Geschichtsdidaktik 2005, S. 16–19.

[3] Der Begriff suggeriert eine Homogenität, die keineswegs von allen Vertretern der Geschichtsdidaktik angestrebt wird.

[4] Europa im unterricht 1990, S. 7. Vgl. dazu auch Rohlfes, Europa 2003, S. 249; Kotte, Räume 2007, S. 111–116.

[5] Vgl. Rüsen, Geschichtsbewußtsein 2006, S. 58.

[6] Europa im Unterricht 1990, S. 5.

[7] Böckenförde, Grundlagen 2003, S. 8.

[8] Jeismann, Identität 1985, S. 261, kursive Hervorhebung: B. S. Zum Vorschlag, inhaltlich vorgeprägte Identitäten nicht zum Ziel, sondern nur zum Gegenstand von Geschichtsunterricht zu machen, vgl. auch Schönemann, Dimensionen 1997, S. 221–231.

[9] Hier bewegt sich Rüsen in seiner bekannten Matrix des historischen Denkens, in deren lebenspraktischer Sphäre Geschichte sog. »Funktionen der Daseinsorientierung« zu erfüllen hat, die auf menschliche Bedürfnisse nach Orientierung in der Zeit antworten. Vgl. Rüsen, Vernunft 1983, S. 28 f.

[10] Rüsen, Geschichtsbewußtsein 2006, S. 58.

[11] Kotte, Räume 2007, S. 117.

[12] Ebd., S. 445.

[13] Vgl. ebd., S. 131, 314 u. 446.

[14] Vgl. Jeismann, Identität 1985, S. 262 f.

[15] Vgl. Kotte, Räume 2007, S. 228.

[16] Vgl. Jeismann, Identität 1985, S. 262 f.

[17] Vgl. Kotte, Räume 2007, S. 269 f.

[18] Vgl. ebd., S. 215 f.

[19] Jeismann, Identität 1985, S. 263.

[20] Ebd., S. 263.

[21] Europäisches Geschichtsbuch 1992, S. 15. Zur Kritik dieser Passage vgl. auch Kotte, Räume 2007, S. 317.

[22] Vgl. Kotte, Räume 2007, S. 146.

[23] Ebd., S. 148.

[24] Vgl. ebd., S. 61–76.

[25] Vgl. Jeismann, Geschichte Europas 1980; Pingel, Schule 1995. Die Empfehlung, in einem europäischen Geschichtsunterricht »die Frage in den Mittelpunkt zu stellen, was Europa in den verschiedenen Epochen bedeutet hat und wie es in den verschiedenen Ländern gesehen wird«, wird sogar von einem Mitverfasser des Europäischen Geschichtsbuchs ausgesprochen: Tiemann, Europäischer Geschichtsunterricht 1997, S. 562.

[26] Vgl. Kotte, Räume 2007, S. 321–396.

[27] Vgl. ebd., S. 428–444.

[28] Vgl. ebd., S. 442 f. u. 363.

[29] Vgl. Flacke, Panorama 1998 u. Flacke, Arena 2004.

[30] Vgl. Schönemann, Lehrpläne 2005, S. 55.

[31] Vgl. Richtlinien Gymnasium, Sek. I, NRW 1999. Die Übersicht über die Fachinhalte findet sich auf S. 50 f., die Einstufung der Fachinhalte 6.1, 7.4, 9.1 und 10.4 als Längsschnitte auf S. 51, 84, 88 u. 121.

[32] Ebd., S. 116.

[33] Vgl. Geschichte und Geschehen, Sek. I, Bd. 4, 2005, S. 204 f. u. 214–217.

[34] Vgl. Geschichte und Geschehen, Sek. I, Bd. 3, 2004, S. 10–41.

[35] Vgl. Geschichte und Geschehen, Sek. I, Bd. 4, 2005, S. 294–299.

[36] Über die didaktische Qualität und Handhabbarkeit dieser Längsschnitte ist damit noch nichts gesagt. Hier geht es vornehmlich um die Strukturierungsleistung curricularer Vorgaben. Zu den unterrichtspraktischen Vorbehalten, auf die insbesondere der Längsschnitt »Europa als Traditionsraum« stößt, vgl. Brütting, Lehrer 2004, S. 257.

[37] Vgl. Richtlinien Gymnasium/Gesamtschule, Sek. II, NRW 1999, S. 26 u. 45.

[38] Vgl. dazu auch Schönemann, Europäische Geschichte 2002, S. 224. Inhalts- und Themenkataloge zur europäischen Geschichte finden sich bei Rohlfes, Europa 2003, S. 252–257, und v. Borries, Europa im Geschichtsunterricht 2004, S. 224.

[39] Vgl. Lehrplan Gymnasium 5–12, Sachsen 2001, S. 71.

[40] Vgl. Beilner, Europakonzepte 2002 u. Beilner, Lernziel Europa 2003, S. 11 u. 25 f.

[41] Jeismann, Gegenstand 1980, S. 9.

[42] Jeismann, Geschichtsbuch 1979, S. 12.

[43] Europäisches Geschichtsbuch 1992.

[44] Vgl. Schulze, Europäische Geschichte 1993.

[45] Zur Kritik der revidierten Ausgabe, die seit 1997 unter dem Titel »Das Europäische Geschichtsbuch« erscheint, vgl. Kotte, Räume 2007, S. 303–312.

[46] Histoire/Geschichte 2006. Vgl. dazu auch Rohlfes, Perspektiven 2007.

[47] Vgl. Jeismann, Geschichte Europas 1980.

[48] Vgl. Stradling, Europäische Geschichte 2003.

[49] Geschichte und Geschehen, Sek. I, Bd. 1, 2003, S. 120.

[50] Vgl. Jeismann, Geschichtsbewußtsein 1980, S. 216.

[51] Vgl. Schörken, Geschichtsunterricht 1980; Bergmann, Multiperspektivität 2000.

[52] Schieder, Vorwort 1976, S. 11.

ZITIEREMPFEHLUNG

Bernd Schönemann, Didaktische Varianten der Präsentation europäischer Geschichte im Unterricht, in: Kerstin Armborst / Wolf-Friedrich Schäufele (Hg.), Der Wert »Europa« und die Geschichte. Auf dem Weg zu einem europäischen Geschichtsbewusstsein, Mainz 2007-11-21 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft online 2), Abschnitt 128–138.

URL: <http://www.ieg-mainz.de/vieg-online-beihefte/02-2007.html>.

URN: <urn:nbn:de:0159-2008031319>.

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieses Aufsatzes hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein.

Beim Zitieren einer bestimmten Passage aus dem Aufsatz bitte zusätzlich die Nummer des Textabschnitts angeben, z.B. 129 oder 128–131.

Marie-Louise von Plessen *

Die Idee Europa im Museum

Gliederung:

Das Konzept zur Ausstellung ›Idee Europa‹

Die Gliederung der Ausstellung ›Idee Europa‹

›Europa im Museum‹

Der lange Weg zur Gründung des ›Musée de l’Europe‹

Die geplante Dauerausstellung

Bausteine für ein ›Musée de l’Europe‹

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Zitierempfehlung

Text:

»Von Stettin an der Ostsee bis Triest an der Adria ist ein Eiserner Vorhang über den Kontinent gefallen«. Winston Churchills Feststellung von der Spaltung Europas[1] am 5. März 1946 galt bis 1989/90 mit wenigen Ausnahmen auch für die Präsentation der Geschichtsmuseen beiderseits des Eisernen Vorhangs. Doch seit der Implosion der Fronten des Kalten Krieges integrieren nationalstaatlich gewachsene Sammlungen zur Territorial- und Landesgeschichte zumindest postnationale Aspekte mit gesamteuropäischem Bezug. Jüngstes Beispiel ist die im Juni 2006 eröffnete Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin, das dem Werdegang der Deutschen im europäischen Kontext von der Varusschlacht im Jahre 9 n. Chr. bis in die Gegenwart des wiedervereinten Deutschland folgt[2]. Als die von I. M. Pei entworfene Ausstellungshalle im Mai 2003 mit meiner Ausstellung zur Geschichte der Idee Europa mit der Chronologie der Entwürfe und Utopien zur Ordnung und Gestaltung Europas von der pax romana zur Europäischen Union eröffnet wurde, betonte die Themenwahl zugleich den europäisch ausgerichteten Diskurs des künftigen Ausstellungsprogramms. Aus der nur in Berlin gezeigten Originalausstellung, die neben herausragenden Kunstwerken aus ganz Europa Primärquellen seit dem 12. Jahrhundert zur Utopie der Europäischen Befriedung und Einigung präsentierte, wurde 2004 eine dreisprachige Reiseversion mit kommentierten Bildtafeln anlässlich der Ratspräsidentschaft der Grand Duché de Luxembourg in der EU für die Europastadt Luxemburg[3].

 139

Das Konzept zur Ausstellung ›Idee Europa‹

Jahrhunderte alte Ideen einer zukünftigen Einheit von (Teilen von) Europa blieben jedoch bis ins 20. Jahrhundert Prospekte der Imagination[4]. Von eben diesen Entwürfen und Visionen für eine neue europäische Ordnung erzählte die Berliner Ausstellung in hochrangigen Kunstwerken und Bildern, deren Zusammenkunft allein schon das Europäische beschwor: Sie konfrontierte nach meinem Konzept einer ›historischen Topographie‹ die wichtigsten Schriftquellen, deren Kernzitate zum Europagedanken wie ein Röntgenbild die Konfliktherde ihrer Zeit spiegeln und deren Friedens- und Einigungsentwürfe ihrer Gegenwart vorauseilten, im Original oder im Erstdruck mit der erlebten Wahrnehmung von Konflikten, wie sie Künstler und Zeitzeugen in Bildwerken der Klage und Beschwörung, der Hoffnung und der Verzweiflung überliefert haben. Das Ideal einer kontinentalen Gemeinschaft ohne Krieg verband Versöhnungs- und Einigungsideen durch die Jahrhunderte. Die Realisierung der europäischen Einigung aber folgte erst auf die Katastrophe zweier Weltkriege. So erzählte die Ausstellung zugleich die Geschichte des Scheiterns von Friedensentwürfen: Das Konstrukt des »Ewigen Friedens« mußte immer wieder neu erfunden werden.

Aus der Verknüpfung mit der Friedensidee gewann die Ausstellung ihre Anschauung. Als Dreigestirn geleiteten die Friedensgöttin der Griechen Eirene mit ihrer römischen Partnerin Italia und der Siegesgöttin Victoria den Besucher zum Auftakt, der den Zeitraum von 2500 Jahren bis in die erweiterte Europa-Union der Gegenwart als ›Work in progress‹ eröffnete. Zitate der Primärquellen unterstrichen die Vielfalt der Wurzeln im ›Raumbild Europa‹, dessen Topographie in den Karten der Geographen seit Claudius Ptolemäus[5] allmählich reale Gestalt gewinnt. Der konzeptuelle, chronologisch geordnete Zugriff entlang des ›Ariadnefadens‹ der Schrift- (seit dem 20. Jahrhundert: Ton-) zeugnisse zur Geschichte der ›Idee Europa‹ leitete den Besucher durch die Ausstellung.

 140

Mit Erasmus‘ Begriff von Europa als ›Klage des Friedens‹ folgte die Schau der Genese des Europagedankens; für den Besucher erschloss der Kompass der Schriftzeugnisse von Pierre Dubois‘ Plan für einen europäischen Staatenbund von 1306 bis zu den in Originaltondokumenten eingespielten Reden der Europapolitiker seit dem Zweiten Weltkrieg die Geschichte eines geistigen Kontinents: Im Anschluß an Augustin, den Vater der christlichen Friedensidee im 5. Jahrhundert n. Chr., forderte der königliche Amtsanwalt Dubois die Einigkeit der Christen in einem gesamteuropäischen Parlament. Sein frühester Einigungsplan ist die im Vatikan verwahrte Handschrift über die Wiedergewinnung des Heiligen Landes, in der der Amtsanwalt von Burgund für die Einigkeit der Christenheit als Staatenbund mit einem gesamteuropäischen Parlament eintritt. Ihm folgt der Humanist und spätere Papst Pius II., Enea Piccolomini, der als kaiserlicher Kommissar auf dem Reichstag zu Frankfurt im Oktober 1454 für eine europäische Armee gegen die Türken wirbt: »Jetzt aber wurden wir in Europa, also in unserem Vaterland, in unserem eigenen Haus, an unserem eigenen Wohnsitz aufs schwerste getroffen«. Doch weder der Entwurf eines europäischen Bündnis- und Föderationsvertrags von 1464 aus der Feder des Böhmenkönigs Georg von Podiebrad noch das Projekt eines ›Weltbundes der Christenheit‹ seines Landsmanns Johan Amos Comenius noch der Plan einer Weltfriedensorganisation mit handelspolitischen Bündnissen, 1623 verfasst von dem Pariser Mönch Emeric Crucé, hatten direkte politische Folgen. Aber sie wurden rezipiert: Winston Churchill berief sich 1948 beim ersten Europakongress in Haag auf das »grand dessin« des Maximien de Béthune, Duc de Sully, zur Einrichtung fünfzehn christlicher Staaten von 1641, der ebenso wie Leibniz‘ »ägyptischer Plan« von 1672 die Vormacht Habsburgs in Europa brechen sollte, während der englische Quäker William Penn 1693 eine Generalversammlung mit Bevollmächtigten der souveränen Fürsten Europas vorsah: »Wir können uns leicht die Bequemlichkeit und den Vorteil vorstellen, mit dem Reisepaß eines beliebigen Landes durch die Staaten Europas zu reisen, wobei dieser Paß durch die Liga des Friedensstaates legitimiert wird«. Die Zahl der Einigungs- und Friedensschriften wächst mit der Aufklärung, und ihre Dringlichkeit verschärft sich mit den Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts: Der von Kant zitierte Abbé de Saint-Pierre schlägt 1712 die Gründung eines Staatenbündnisses der Fürsten als Projekt für den »Ewigen Frieden« vor. Kants eigener philosophischer Entwurf »Zum ewigen Frieden«, verfasst in Königsberg 1795, folgt mit der Idee eines dauerhaften Friedenskongresses nach dem Vorbild des Friedens von Utrecht (1713) der Vision eines Staatenbundes nach internationalem Völkerrecht.

 141

Die Gliederung der Ausstellung ›Idee Europa‹

Einem Auftakt zu den kleinasiatischen Wurzeln des antiken Europa-Mythos folgte das erste von neun Kapiteln:

1. Mythos der Europa. Die Griechen nannten den Kontinent, dessen Ausmaße sie von den ›Säulen des Herkules‹, der Meerenge von Gibraltar, bis zum Schwarzen Meer kannten, nach der phönizischen Prinzessin Europa, die der Legende nach auf dem Rücken des in einen Stier verwandelten Gott Zeus über das Mittelmeer auf die Insel Kreta entführt worden war. Die Einheit des römischen Reiches aber gründete auf dem ›mare nostrum‹ und nicht auf Europa. So beschreibt der Geograph Strabon (um 60 v. Chr. – um 21/25 n. Chr.) in Unkenntnis der skandinavischen Länder die Römer als diejenigen, »die beinahe ganz Europa halten außer der Gegend, die sich jenseits der Donau befindet, und den Gegenden, die den Ozean zwischen dem Rhein und dem Don berühren«.

2. Kontinent des Glaubens – Europa als orbis christianus: Heimat der Christenheit. Nach dem Zusammenbruch der pax romana, der hegemonialen Friedensordnung des Römischen Reiches, im 5. Jahrhundert wird das Wort Europa nur vereinzelt erwähnt. Um 400 n. Chr. bezeichnen Schriftquellen des mediterranen Raumes mit Europa die nördlichen römischen Reichsteile am Mittelmeer, im 6. Jahrhundert dann den gallischen und nordalpinen Raum. Als erster christlicher Chronist erwähnt Sulpicius Severus (+ 410), der Biograf des Heiligen Martin von Tours, »Europa« »im Reich des Heils«. »Blume ganz Europas« nennt der Ire Columban um 600 n. Chr. Papst Gregor den Großen. Im 7. Jahrhundert bezeichnen die Annalen die fränkischen Völker und den Kontinent, den Rhein und Donau bewässern, mit diesem Begriff. Die Idee eines politischen, auf dem Christentum begründeten Europa manifestiert sich durch Karl Martells Vertreibung der Araber aus Gallien in der Schlacht von Poitiers. In der mozarabischen Chronik werden erstmals als kontinentale Gemeinschaft der »europenses« die Völker nördlich der Pyrenäen und der Alpen und als »Armee der Europäer« die Koalition der Franken, Kelten, Iberer und Sachsen von Isidor von Sevilla bezeichnet. Seit Papst Leo III. ihn im Jahre 800 zum »Kaiser der Römer, König der Franken und Langobarden« krönte, betreibt Karl der Große die Expansion des Reiches hin zur Einheit des Christentums von der spanischen Mark bis Pannonien (Ungarn), von der Nordsee bis Mittelitalien. Sein Hoftheologe Alkuin bezeichnete Europa als »Kontinent des Glaubens«. Seit der Karolingerzeit ist mit »Europa« in der Regel das Frankenreich gemeint. In der Stauferzeit wird der Begriff Christianitas vereinzelt synonym für Europa und Occidens verwendet: 1241 sucht Kaiser Friedrich II. die christlichen Fürsten Europas zu einem Verteidigungsbund zu bewegen.

Doch universeller Friede in der von Gottes Macht gewirkten Ordnung ist mit der Zerrissenheit der irdischen Welt, die unaufhörlich Krieg führte, nicht zu vereinbaren. Als erste Bewegung zur Befreiung der heiligen Stätten von islamischer Herrschaft ergreifen die Kreuzzüge – Pilgerfahrten im Geist des von Augustin propagierten »gerechten Krieges« – vom Ende des 11. bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert ganz Europa gemäß dem Kreuzzugsaufruf Papst Urbans II. von 1095: »Kein Christ streite mehr wider den anderen, damit das Christentum selbst nicht untergehe, sondern verbreitet und gefördert werde«.

 142

3. Souveränität und Ordnung der Welt – Protestantismus und Türkenkriege in der ›res publica Christiana‹. Die moderne Staatsidee vereitelt die Perspektiven einer Einigung vermittels der Kirchenkonzilien als Forum der Nationen: Das Basler Reformkonzil (1431–1449), das die Friedensstiftung unter den Völkern Europas anstrebt, antwortet auf die Türkengefahr, die die Einheit des christlichen Abendlandes bedroht. Torquato Tasso bezeichnet den Kampf gegen die Türken als Kampf gegen Asien, Erasmus setzt auf das einige Europa, um sie abzuwehren. Zwar schafft der Druck von außen europäische Identität; doch die Einheit der Kirche ist nicht von Dauer. Auf dem Augsburger Reichstag kämpft Luther gegen die »römische Tyrannei« und fordert mit der Zerschlagung des Kirchenstaats die Säkularisierung der weltlichen Herrschaft.

4. Gleichgewicht und Konzert der Nationen – Europa in der Neuen Welt. Die Idee Europa reift zu einem Projekt der Versöhnung und des Friedens: Nach Sullys »République très chrétienne« von 1641 sollen die Deutschen nach der Rekonstitution des Reichs Karls des Großen ihr Reich in fünfzehn »Dominationsgebiete« aufteilen; an der Spitze einer europäischen Friedensarmee steht ein »christlicher Rat« von 40 Mitgliedern. Nach Leibniz’ ›Ägyptischem Plan‹ von 1670 soll ein »christliches Collège universel« unter Aufsicht von Papst und Kaiser »Europens Einheit im Glauben« wahren und die Vormacht Habsburgs brechen. William Penn entwirft 1693 eine Generalversammlung der Fürsten Europas zur Wahrung des Friedens. Abbé de St. Pierre, der sog. »Apotheker Europens«, veröffentlicht 1728 eine Schrift zum Ewigen Frieden: Achtzehn Regenten Europas sollen, um Krieg untereinander zu vermeiden und ewigen Handel unter den Nationen zu sichern, einen Unionsvertrag schließen. Rousseau strebt eher nach einer europäischen Republik, die die Untertanen emanzipieren soll. Voltaire beschreibt Europa 1751 als eine christliche Republik von mehreren Staaten, die trotz konfessioneller Spaltungen dieselbe religiöse Grundlage habe. Der britische Sozialreformer Jeremy Bentham schlägt 1788 eine internationale Versammlung vor, um freie Presse, freien Handel und Abrüstung in Europa voranzutreiben, da der Kriegszustand der Entfaltung des homo oeconomicus hinderlich sei. Kants Schrift zum »Ewigen Frieden« folgt 1795 mit der Idee eines dauerhaften Friedenskongresses ähnlichen Vorstellungen: »Der Friedenszustand unter Menschen […] ist kein Naturzustand, der vielmehr ein Zustand des Krieges ist […] Er muß also gestiftet werden«. Wahrung des Friedens heißt zugleich Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der Kräfte, das immer wieder durch Kriege justiert werden muß.

 143

5. Manifest Europas – Französische Revolution und Nationalitätenprinzip. Nach 1789 setzt sich in Europa nach dem Vorbild der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika von 1776 das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker durch. Da nach Edmund Burke »die Menschenrechte das Recht der Souveräne bedrohen«, erstreben Europas Nationalbewegungen die Freiheit ihrer Völker. Napoleon, als Vollstrecker der Revolution als »Kaiser der Volkssouveränität« bezeichnet, handelt als ein »Charlemagne du Jacobisme«, der die Seelen der Völker in einer Nation der Menschenrechte ›à la Bonaparte‹ vereinen will. Der Wiener Kongreß und die Heilige Allianz, die 1819 nach dem Gesetz der Heiligen Dreieinigkeit die wahre Herrschaft Gottes wiedererrichten will, wehren dem Prinzip der Volkssouveränität durch Legitimität, doch neue Völkerrechtsgrundsätze sollen in konstitutionellen Monarchien gültig sein, um das Konzert der Großmächte nach außen und innen abzustimmen.

6. Vom Europa der Utopien zum Europa der Nationen – Jenseits der Romantik: Das Europäische Konzert und seine Allianzen. Nach der Julirevolution von 1830 werben mit den Menschheitsidealen der französischen Revolution militante Pazifisten für die Republik der bürgerlichen Revolution. Der Italiener Mazzini gründet 1831 das ›Comité révolutionnaire européen‹. Auguste Comte verfaßt 1848 den ›Catéchisme positiviste‹ für eine ›République occidentale‹ mit Paris als Hauptstadt; sein Entwurf umfaßt beinahe alle Staaten der heutigen europäischen Gemeinschaft.

Die Februarrevolution von 1848 nährt die Hoffnung auf die »Vereinigten Staaten von Europa«. Victor Hugo legt auf dem Pariser Friedenskongreß 1849 seine Vision eines europäischen Staatenbundes dar:

»Ein Tag wird kommen, wo Ihr Frankreich, Ihr Russland, Ihr Italien, Ihr England, Ihr Deutschland, all ihr Nationen des Kontinents, ohne Eure jeweiligen Unterschiede und Eure ruhmreiche Individualität zu verlieren, Euch einer höheren Einheit einordnen und die europäische Brüderschaft begründen werdet […] Ein Tag wird kommen, wo das universelle Wahlrecht der Völker Kugeln und Bomben durch Wahlzettel in der gewissenhaften Vermittlung eines großen souveränen Senats ersetzen wird, der für Europa das sein wird, was für England das Parlament, für Deutschland der Reichstag, die gesetzgebende Versammlung für Frankreich ist.«

Der St. Simon-Schüler Lemonnier gründet 1867 in Genf die »Liga des Friedens und der Freiheit«, aus der 1872 sein Journal mit dem Titel »Les Etats Unis d’Europe« hervorgeht. Am 14. Juli 1870, dem Tag der kriegsauslösenden Emser Depesche, pflanzt Victor Hugo in seinem Inselexil auf Guernsey die »Eiche der Vereinigten Staaten von Europa«. Doch nach dem Deutsch-Französischen Krieg ist der Europagedanke durch das uneinige Konzert der Großmächte zerstört. Auch der Haager Friedenskongreß von 1899 kann keine neuen Akzente mehr setzen.

 144

7. Volksbund und Paneuropa-Idee – Vom Mächtekonzert zur Blockbildung. Nach dem Scheitern der transnationalen Bemühungen um Friedenssicherung gehen im Sommer 1914 ›in ganz Europa‹ die Lichter aus. Romain Rolland bezeichnet im September 1914 den Krieg als ›Verbrechen gegen Europa‹. Wilsons Idee der Vereinten Nationen mit gegenseitigen Garantien politischer Unabhängigkeit und territorialer Integrität soll den Vertrag von Versailles im Sinne des »Konzerts der Nationen« mit einem 14-Punkte-Programm überwinden. Vier Jahre nach der Zersplitterung des Habsburgerreiches gründet Graf Coudenhove-Calergi die Paneuropa-Bewegung in Wien, der Friedensplan des französischen Pazifisten Aristide Briand scheitert vor dem Völkerbund in Genf. 1926 erinnert Hugo von Hofmannsthal daran, daß das geistige Europa einer »schöpferischen Restauration« bedürfe, nachdem der Weltkrieg die Selbstverständlichkeit des europäischen Kosmopolitismus aus vornationaler Zeit zerrüttet habe. Der deutsche Faschismus ruft zum antibolschewistischen Kreuzzug im Namen des »neuen Europa«, um den Kontinent der Hegemonie des Dritten Reiches zu unterwerfen. Das ›andere‹ Europa nach der Überwindung des Faschismus entwerfen die Nachkriegspläne der Widerstandsbewegungen.

8. Baustelle Europa – Von der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union. Das Ende des Zweiten Weltkrieges eröffnet die zwingende Perspektive eines Friedensprozesses zur Vermeidung neuer Vernichtungskriege. Zunächst jedoch wird die Spaltung Europas im Kalten Krieg durch die Alliiertenkonferenzen in Jalta und Potsdam vollstreckt. Winston Churchill fordert in Zürich 1946 die Einrichtung eines europäischen Rats zur Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa. Ein erster Kongreß tagt im August 1947 in Montreux mit der Idee der ›Generalstände von Europa‹ mit Sitz in Den Haag. Von dort aus nimmt die europäische Bewegung erste institutionelle Grundlagen an. 1948 wird der Europarat gegründet. Der Marshallplan fördert mit dem European Recovery Program den Wiederaufbau in sechs Nationen, die später zu Kernländern der Europäischen Gemeinschaft werden. Am 18. April 1951 schafft Jean Monnet mit Robert Schuman die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl mit Italien, Benelux, Frankreich, Westdeutschland und damit die Voraussetzung für die europäische Integration; 1957 wird sie mit den Römischen Verträgen zum Gemeinsamen Markt erweitert. Dieser und der letzte Ausstellungsteil präsentierten mit originalen Tondokumenten und Dokumentarfilmbildern die Stationen vom Mouvement Européen seit 1947 über die Wende von 1989/90 bis in die Gegenwart.

9. Vereinigte Staaten von Europa – Idee Europa als Staatenföderation. Der letzte Ausstellungsteil befaßte sich mit den europäischen Föderationsbestrebungen seit der »Wende« um die innere Verfassung der erweiterten Staatengemeinschaft. Vor dem Ausgang mahnte eine Reliefkopie des antiken Kairos, des vierflügeligen Gottes der glücklichen Entscheidung im richtigen Moment, zu Prüfung und Augenmaß mit Blick auf ein Satellitenbild des europäischen Kontinents.

 145

›Europa im Museum‹

Als interaktives Multimediasystem über die Entwicklung der EU von 1945 bis heute leistet das luxemburgische Centre Virtuel de la Connaissance sur l’Europe anhand originaler Ton-, Bild- und Schriftdokumente eine vorbildliche Aufarbeitung. Chronologisch und thematisch gegliedert, vermittelt die jeweils aktualisierte Datenbank Geschichte und Institutionen der EU auch als Internetversion[6]. Im Vergleich zur virtuellen Erstellung eines aktuellen Europabildes der jüngsten Zeitgeschichte verfügen europäisch ausgerichtete (National-) Museen jedoch kaum wie das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin über Altbestand oder gar einen soliden Ankaufsetat für den Einsatz originaler Bilder und Zeugnisse. Den Mangel kompensieren sie mit Leihgaben für Sonderausstellungen zu europäischen Themen.

Transnationales europäisches Geschichtsbewusstsein suchte auch das in Aachen geplante Bauhaus Europa mit Budgetmitteln der Euroregionale zu vermitteln: in der Pfalzstadt Karls des Grossen wollte es als Forum und Bildungszentrum mit Online-Bibliothek und modernster Digitaltechnik seine Vision des Europäischen publikumsnah in einem multifunktionalen Kommunikationszentrum entlang einer Geschichtsachse aufbereiten. Nach zweijähriger Konzeptions- und Debattenphase, die bis zu einem Architekturmodell für die Einrichtung des multimedialen Konzepts führte, scheiterte die Realisierung am 10. Dezember 2006 an einem Bürgerentscheid: 30,61 % aller Wahlberechtigten stimmten gegen das 31 Millionen teure Euroregionale-Projekt mit der Maßgabe, die verfügbaren Mittel nicht für kulturelle Zwecke, sondern für soziale Dringlichkeiten einzusetzen[7].

 146

Der lange Weg zur Gründung des ›Musée de l’Europe‹

Während die Berliner Ausstellung zur Geschichte der Idee Europa in den begrenzten Räumlichkeiten des Pei-Baus anhand herausragender Leihgaben ihre konzentrierte Wirkung am konzeptuellen Leitfaden der Schriftquellen zur Idee Europa entfalten konnte, verwies gerade diese zeitbegrenzte Vereinigung bisher nie zusammengeführter Objekte darauf, daß im Spektrum der europäischen Nationalmuseen[8] ein Museum fehlt, dessen Konzeption die supranationale Geschichte der Integration des europäischen Kontinents betrachtet. Mit Aus- und Rückblicken auf gesamteuropäische Perspektiven wird das erste postnational konzipierte Europamuseum Bilder und Zeugnisse nationalgeschichtlicher Überlieferung im postsozialistischen und transnationalen Kontext vorführen[9]. Kein ›politischer Gründungsakt‹ seitens der EU befördert dieses in Brüssel entstehende Museum – ein Umstand, der seinen Werdegang nicht eben beschleunigt, wenn man die Gründung anderer Geschichts- und Kunstinstitutionen der letzten 30 Jahre vergleicht: Nachdem Bundeskanzler Helmut Kohl im Oktober 1987 in Berlin das Deutsche Historische Museum ins Leben rief, konnte das neue Haus seine Sammlungen seit der Fusion mit dem DDR-Museum für Deutsche Geschichte seit 1990 wesentlich erweitern[10]. Französische Einrichtungen entstanden auf Initiative der Staatspräsidenten Pompidou und Chirac, so das 1977 eröffnete Pariser Centre Pompidou oder das den Künsten und Kulturen Afrikas, Amerikas, Asiens und Ozenaniens gewidmete Musée du Quai Branly, das in Paris seit Juni 2006 die um Stiftungen und Ankäufe ergänzten Sammlungen des Musée de l’Homme und des Musée national des arts d’Afrique et d’Océanie zusammenführt. Auch die von Paris initiierte Cité nationale de l’histoire de l’Immigration widmet sich der Europäischen Integration mit aktuellem Blick auf die Zuwanderung nach Frankreich seit dem 19. Jahrhundert im Art déco-Bau des früheren Musée de l’Homme im Palais de la Porte Dorée in Paris seit Oktober 2007 in Teileröffnungen bis 2009. In Marseille wird das zukünftige Musée des Civilisations de l’Europe et de la Méditerranée mit den Sammlungen des ehemaligen Pariser Musée des Arts et Traditions Populaires die Kulturen, Religionen und Ethnien rund um das Mittelmeer nach einem interdisziplinären zivilisationshistorischen Konzept vorführen.

 147

Die geplante Dauerausstellung

Auch das in Brüssel entstehende Musée de l’Europe hat zunächst keine eigene Sammlung. Als »Tankstelle« für Leihgaben hilft neben den grossen Museen, Bibliotheken, Archiven und Sammlungen das Netzwerk der Europäischen Geschichtsmuseen[11]. Den nunmehr 27 EU-Mitgliedstaaten für die derzeit fast 500 Millionen Bürger mit dem größten Binnenmarkt der Welt soll diese erste europäisch verfaßte Einrichtung die Geschichte der politischen Integration vermitteln. Diesen Ansatz kann nur der didaktische Einsatz virtueller Audiovision und Animation, ja sogar künstlerischer Visualisierung gewährleisten. Als initialer Raumverteiler im Gesamtüberblick wird etwa ein dreidimensional eingerichteter Kartenraum die aktuelle EU mit dem Verlauf alter und neuer Grenzen vergegenwärtigen[12], beginnend mit der ersten Strukturierung des europäischen Raumes seit der Antike, der Aufteilung des Kontinents und der Wanderung seiner Völker. Das Musée de l’Europe folgt nicht der Geschichte der Etats nations mit ihren territorialen Kriegs- und Friedensschlüssen. Es blickt vielmehr im asynchronen Rückblick von zwei Jahrtausenden auf deren Schnittmengen im Prozess der Europäisierung und konzentriert sich somit auf Wechselpunkte der Orientierung im Zeitraffer der ›longue durée‹. Die inszenatorische Gestaltung wird mit assoziativen ›Zeitzitaten‹ wesentliche Sehhilfen anbieten müssen, die dem Besucher als Rezeptionsbrücken zur Einordnung in den chronologisch-thematischen Parcours dienen. Eine aktuelle Rundschau wird zu den kulturellen Wurzeln der europäischen Völker mit dem in der Renaissance wiederentdeckten und rekonstruierten Erbe der Antike von Athen, Rom und Byzanz überleiten. Die kulturelle Innovation der Kelten, die Wanderung der germanischen Völker von Nord nach Süd prägt bis heute die Vielfalt der nationalen und regionalen Kulturen, die das Gedächtnis von Krisen, Kriegen und Konflikten entlang der Sprach- und Territorialgrenzen zu Fremd- und Selbstbildern der Nachbarschaften geschärft haben. Die invention of tradition aber wurde an den nationalen Altären der Vaterländer gepflegt[13].

 148

Das Konzept der Dauerausstellung[14] dient demgegenüber der Besinnung auf die kulturelle und zivilisatorische Völkergemeinschaft, die die Europäer trotz fortwährender Kriege verband. Es folgt dem Konzept der longue durée: Danach vollzieht sich die Einigung des Kontinents 1. durch den Glauben auf der Grundlage der jüdisch-christlichen Überlieferung vom Erbe der Antike bis in die frühe Neuzeit (10. bis 16. Jahrhundert), 2. durch die Aufklärung vom Humanismus der Renaissance bis zur französischen Revolution (18. bis 19. Jahrhundert), 3. durch das Projekt der Integration und dessen Realisierung im 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Jene drei Phasen der Einigung durchschneiden zwei Kriegsperioden: die Religionskriege des 16. bis 17. Jahrhunderts zwischen der ersten und der zweiten, sowie die ideologischen Kriege zwischen der zweiten und dritten Einigungsphase.

Nun ist es das Projekt der europäischen Integration durch die wirtschaftliche hin zur politischen Einheit, die den Kontinent im Westen auf die Zukunft richtet, wie es Churchill am 19. September 1946 in Zürich formulierte:

»Dieser edle Kontinent ist die Heimat aller Völker der westlichen Welt. Er ist der Ursprung des christlichen Glaubens und der christlichen Ethik, die Wiege der westlichen Zivilisation. Trotzdem nahm von Europa die Reihe der furchtbaren nationalistischen Kämpfe ihren Ausgang, die zweimal in unserem Leben den Frieden zerstört und die Zukunft der Menschheit vernichtet haben […] wir müssen eine Ordnung schaffen, die ein Leben in Frieden, Sicherheit und Freiheit ermöglicht. Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa erbauen.«

 149

Bausteine für ein ›Musée de l’Europe‹

Im Vorfeld der Realisierung seiner Dauerausstellung wirkt das Musée de l’Europe durch erste Themenausstellungen wie der 2001 veranstalteten Schau ›La Belle Europe – Le temps des Expositions universelles, 1851–1913‹[15] oder dem aktuellen Vergleich religiöser Riten und Rituale mit dem Titel ›Dieu(x) – mode d’emploi‹ = ›Gott bzw. Götter – eine Gebrauchsanweisung‹[16]. Dauerleihgaben aus ganz Europa werden den trans- und postnationalen Rückblick auf das kollektive Gedächtnis des Kontinents mit dem Fortschritt medialer Ausstellungstechnik für interaktive Dialogformen zwischen Kontext und Besucherführung vereinen. Die Veranschaulichung der Geschichte der Europäischen Integration erfordert die Einwerbung wesentlicher Leihgaben an Bildern und Zeugnissen, da eine Visualisierung ganz ohne originale Zeugnisse jeglicher auratischer Anmutung entbehrte. Somit wird das Europamuseum, dessen Wechselausstellungen wie in einer Vitrine die Vielfalt der europäischen Museumsschätze zeigen, aus konservatorischen Gründen sein Ausstellungskonzept in ständigem Wandel von Teileinheiten seiner Präsentation umsetzen. Um affirmative Positionen zu vermeiden, werden diese Profilschnitte die Auseinandersetzung mit europäischen Kontexten schärfen. Seit dem 25. Oktober 2007 erinnert das Musée de l’Europe mit der an Film- und Tondokumenten reich bestückten interaktiven Ausstellung mit innovativer Szenographie ›C’est notre histoire‹ an die fünfzigste Wiederkehr der Gründung der EWG. Von 1945 bis 1989 verfolgt dieser aktuelle Baustein für die spätere Dauerausstellung den Verlauf der Westintegration seit dem Marschall-Plan über die Kohle- und Stahlunion zur EWG gegenüber der Einrichtung der Warschauer Pakt-Staaten, dem Prozeß der Dekolonisation, der Implosion des Sowjetsystems bis zum Fall der Berliner Mauer sowie den Konflikten und Folgen der Verträge von Maastricht und Schengen, von Nizza bis Kopenhagen bis hin zur ausstehenden Ratifizierung einer Europäischen Verfassung für die Union aus 27 nationalen multiethnischen und multireligiösen Demokratien[17]. Jene Rückbesinnung auf die erste realisierte europäische Gemeinschaft nach 1945 spiegelt die wirtschaftliche, die soziale und die politische Integration in Westeuropa zeitgleich mit der Blockbildung in Mittel- und Osteuropa seit dem Beginn des Kalten Krieges bis in die Gegenwart der EU.

Weitere Bausteine werden die Gesamtkonzeption in Teileinheiten fortschreiben: etwa ›Die Kreuzzüge aus der Sicht der Araber‹, ›Nos cousins américains‹, ›Europa ist eine Frau‹, ›Europa von außen, im Blick der anderen‹, ›Russland in Europa‹. Die historische Perspektive europäischer Identität ist nicht in der ›Festung Europa‹ gefangen. Sie wird Geschichtsmythen mit Fragen an die Globalisierung der Gegenwart verknüpfen müssen und die Besucher dazu anregen, europäische ›Transfers‹ jenseits nationalstaatlicher Positionen aufzunehmen. Somit wird das Musée de l’Europe trotz seiner musealen Ausrichtung gemäss der europäischen Sinngebung seiner ›raison d’être‹ eine konzeptuelle ›Baustelle‹ bleiben. Es vermittelt sein post- und transnationales Konzept der Europäisierung des Kontinents in einer Welt, da andere europäische Museen sich zeitgemäss zum globalisierten Kapitalmarkt in anderen Kontinenten ›mondialisieren‹.[18]

 150

Literaturverzeichnis

Barnavi, Elie (Hg.): La belle Europe. Le temps des expositions universelles, 1851 – 1913. Bruxelles: Musées Royaux d’Art et d’Histoire 26.10.2001–17.3.2002, Bruxelles 2001.

Hobsbawm, Eric / Ranger, Terence (Hg.): The Invention of Tradition, Cambridge 1983.

Kocka, Jürgen: Ein chronologischer Bandwurm. Die Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Soeialwissenschaft, 32/3 (2006), S. 398–411.

Niedermüller, Peter: History, Past and the Post-Socialist Nation, in: Ethnologia Europaea. Journal of European Ethnology 28 (1998), S. 169–182.

Nora, Pierre (Hg.): Les Lieux de Mémoire, Paris 1984–1992.

Plessen, Marie-Louise von (Hg.): Idee Europa. Entwürfe zum »Ewigen Frieden«. Ordnungen und Utopien für die Gestaltung Europas von der pax romana zur Europäischen Union. Eine Ausstellung als historische Topographie. Katalogbuch zur gleichnamigen Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, Berlin 2003.

Plessen, Marie-Louise von (Hg.): Die Nation und ihre Museen, Frankfurt/M. 1992.

Stölzl, Christoph (Hg.): Bilder und Zeugnisse der Deutschen Geschichte. Aus den Sammlungen des Deutschen Historischen Museums, Berlin 1995.

Stölzl, Christoph, (Hg.): Deutsche Geschichte in Bildern, München u.a. 1995.

 151

ANMERKUNGEN

[*] Marie-Louise Gräfin von Plessen, Dr., Historikerin und Ausstellungskuratorin, St. Firmin sur Loire.

[1] Am Westminster College in Fulton/Missouri.

[2] Siehe dazu zuletzt Kocka, Bandwurm 2006.

[3] Zur Eröffnung des neuen Kulturzentrums in der Abtei Neumünster im Mai 2004. Sie wurde anschließend im Rathaus in Aachen, Maastricht, Schengen und Brüssel präsentiert.

[4] Alle Zitate und Verweise siehe Plessen, Idee Europa 2003.

[5] In seiner um 160 n. Chr. vollendeten ›Geographike hyphegesis‹ beschrieb er die antike Kartographie. Dieses Grundlagenwerk wurde um 1475 in einem byzantinischen Manuskript wiederentdeckt und in Vicenza 1475 als ›Cosmographia‹ in einem ersten Nachdruck ohne Karten herausgegeben.

[6] ENA = European Navigator (www.enafree.lu).

[7] Aachener Zeitung, 11. Dezember 2006, S. 9.

[8] Vgl. Plessen, Die Nation und ihre Museen 1992. Das DHM veranstaltete vom 14. bis 16.3.2007 ein internationales Symposium mit neuen Geschichtsmuseen zum Thema »The Memory of Nations? New National Historical and Cultural Museums: Conceptions, Realizations and Expactations«.

[9] Vgl. Niedermüller, History 1998. Das anfangs privat initiierte Musée de l’Europe ist seit zehn Jahren geplant. Beteiligt waren Entscheidungsebenen der Stadt und Région Brüssel, die belgischen Ministerien der Kultur und des Tourismus, die wichtigsten Sprachgemeinschaften (Französisch, Flämisch, Deutsch) sowie die belgische Nation, vertreten durch das Parlament. Begleitet wird das Projekt von einem hochrangigen internationalen Sachverständigenkomité und einem kleinen wissenschaftlichen Beirat, dem ich seit fünf Jahren angehöre.

[10] Siehe Stölzl, Deutsche Geschichte in Bildern 1995; ders.: Bilder und Zeugnisse 1995.

[11] So etwa das DHM, das Berliner Museum für Europäische Kulturen, das Turiner Museo di Risorgimento, das Luxemburger Musée de l’Histoire, das Nationalmuseum Helsinki oder das Musée de l’Histoire contemporaine, Paris.

[12] Vgl. La Chambre des Cartes, brochure no 7 de la Description générale du Musée de l’Europe, hg. von Tempora, Bruxelles 2004.

[13] Habsbawm / Ranger, Invention 1983; Nora, Lieux de Mémoire, Bd. 1-2 1986.

[14] Unter konzeptioneller Leitung des Historikers und Museumsforschers Krzysztof Pomian.

[15] Veranstaltet in Brüssel, Musées royaux d’Art et d’Histoire, 26. Oktober 2001-17. März 2002. Katalog in frz. Sprache: Barnavi, Belle Europe 2001.

[16] Frz. Begleitkatalog, hrsg. vom Musée de l’Europe unter Leitung von Elie Barnavi, Brüssel 2006.

[17] Asselborn, Miguel Angel Mopratinos (Ministres des affaires étrangères du Luxembourg et d’Espagne), in: Le Monde, 17. Januar 2007, S. 19.

[18] Beispiel: die aktuelle Debatte um die geplanten institutionellen Erweiterungsallianzen des Louvre in Atlanta (USA) bzw. in Abou Dhabi sowie des Centre George Pompidou in Shanghai und Tokio, siehe Le Monde 9. Januar 2007, S. 26, und 20. Januar 2006, S. 2: Michel Guerrin et Emmanuel de Roux: Musées à l’heure de la mondialisation.

ZITIEREMPFEHLUNG

Marie-Louise von Plessen, Die Idee Europa im Museum, in: Kerstin Armborst / Wolf-Friedrich Schäufele (Hg.), Der Wert »Europa« und die Geschichte. Auf dem Weg zu einem europäischen Geschichtsbewusstsein, Mainz 2007-11-21 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft online 2), Abschnitt 139–151.

URL: <http://www.ieg-mainz.de/vieg-online-beihefte/02-2007.html>.

URN: <urn:nbn:de:0159-2008031319>.

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieses Aufsatzes hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein.

Beim Zitieren einer bestimmten Passage aus dem Aufsatz bitte zusätzlich die Nummer des Textabschnitts angeben, z.B. 140 oder 139–142.