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Sakralisierung und Desakralisierung

Sakralisierung und Desakralisierung

Der Forschungsbereich analysiert »Sakralisierungen« und »Desakralisierungen« in Politik, Religion und Gesellschaft. Damit erkundet er Wandel, Ausformungen und Differenzierungen grundlegender Wertvorstellungen und ihrer gesellschaftlichen Funktionen. Unter De/Sakralisierungen werden Prozesse und Praktiken verstanden, durch die Dinge, Personen und Ideen als unverfügbare, unveränderliche und ordnungsgebende Instanzen kommuniziert werden oder ihren herausgehobenen Status verändern.
Die im Forschungsbereich angesiedelten Projekte verfolgen exemplarisch die folgenden drei Erkenntnisinteressen. Erstens untersuchen sie Sakralisierungs- und Desakralisierungsprozesse, die sich als Bewältigungsstrategien in existentiellen Extrem- und Schwellensituationen zeigen oder durch sie ausgelöst werden. Zweitens interessiert sich der Forschungsbereich für das Phänomen der Sakralisierung von Ordnungsvorstellungen und die damit verbundenen Praktiken, mit denen diese Entwürfe gesellschaftliche Relevanz erhielten. Ein dritter Schwerpunkt liegt auf unterschiedlichen, historisch wandelbaren Formen und Praktiken des »Sakralitätsmanagements« und den daraus resultierenden Konflikten.
 

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In allen Epochen der Geschichte und in allen Gesellschaften wurden bestimmte Ideen, Prinzipien, Schriften, Objekte oder Praktiken als übergeordnet und unverfügbar verstanden und ihnen eine ordnungsgebende Funktion für kollektive Denk- und Handlungsweisen zugeschrieben. Dazu gehörten beispielsweise Religion, politische Ideologien, Krieg, Nation, Fortschritt, Technik, das Individuum und die Menschenrechte, aber auch Kunst und Natur. Sie alle wurden in der Vergangenheit und Gegenwart Europas Gegenstand von Sakralitätszuschreibungen oder produzierten solche.

Die zu konstatierende Pluralität des Sakralen lässt fragwürdig erscheinen, dass ein allumfassender und teleologischer Langzeitprozess der Säkularisierung, verstanden als fortschreitende Entzauberung der Welt, ein beherrschendes Signum der europäischen Neuzeit gewesen sein soll. Zu konstatieren ist vielmehr ein Wechselspiel umstrittener, teils aufeinander bezogener Sakralisierungs- und Desakralisierungsprozesse. Ebenso zu beobachten ist die erstaunliche Wandelbarkeit des Sakralen, sowie dessen fortgesetzte Relevanz in verschiedenen religiösen, gesellschaftlichen und politischen Feldern auch jenseits institutionalisierter Religionen.

Unter »Sakralisierungen« verstehen die Projekte im Forschungsbereich Akte und Formen wiederholter Zuschreibung, mit denen Sakralität oder das »Heilige« hervorgebracht und ausgezeichnet werden. Damit sollen solche Prozesse analytisch erfasst werden, in denen Ideen, Personen und Handlungen, aber auch Objekte und Räume als absolut und unverfügbar, normgebend, sinn- und gemeinschaftsstiftend sowie ordnungsstabilisierend etabliert und empfunden werden. Als »Desakralisierungen« kommen entsprechend solche Prozesse in den Blick, durch die sakralisierte Instanzen oder Phänomene ihren Status verändern oder einbüßen. Es geht also um das Paradox der Verhandelbarkeit dessen, was unverhandelbar sein soll. Sakralisierung und Desakralisierung erweisen sich dabei als Prozesse der (Ent-)Differenzierung: Indem sie das Sakrale absolut setzen, vom Profanen oder Alltagsweltlichen unterscheiden und Verbindlichkeit für diese Setzung postulieren, provozieren sie gesellschaftliche Anschlussdifferenzierungen, in Form von Anhänger:innen und »Gläubigen«, aber auch in Form von Kritiker:innen, Ausgeschlossenen und Abgewerteten bis hin zu Gegner:innen.

Im Rahmen dieses allgemeinen Problemhorizonts verfolgen die im Forschungsbereich angesiedelten Projekte exemplarisch die folgenden drei Erkenntnisinteressen. Erstens untersuchen sie Sakralisierungs- und Desakralisierungsprozesse, die sich als Bewältigungsstrategien in existenziellen Extrem- und Schwellensituationen zeigen oder durch sie ausgelöst werden. Dies gilt beispielsweise für die Deutung von Kriegserfahrungen und den Umgang mit dem massenhaften, entindividualisierten Sterben zu Beginn des 20. Jahrhunderts (A. Hofmann). Aber auch schon in der Frühen Neuzeit gaben Tod und Sterben Anlass dazu, eine individuelle Schwellenerfahrung in gedruckten und weit verbreiteten Publikationen wie den in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts aufkommenden Funeralschriften für die Nachwelt zu sakralisieren oder zu desakralisieren (B. Brunner). Die Fundamentalerfahrung des Sterbens brachte in beiden Fällen gänzlich unterschiedliche Sakralisierungs- und Desakralisierungsprozesse hervor – einerseits die Sakralisierung des individuellen Lebens und die Desakralisierung des Todes an sich, andererseits die Sakralisierung des massenhaften, entindividualisierten Sterbens im Krieg, das zudem weiterer Formen kollektiver Selbstsakralisierung bedurfte. Zugleich beförderten die Extreme des 20. Jahrhunderts – Massenmord, soziale Strukturbrüche und politische Regimewechsel – eine hohe Dynamik der Sakralisierung und Desakralisierung in anderen Feldern.

Daher interessiert sich der Forschungsbereich zweitens für das Phänomen der Sakralisierung von Ordnungsvorstellungen und die damit verbundenen Praktiken, mit denen diese Entwürfe gesellschaftilche Relevanz erhielten. So erzwangen unsichere gesellschaftliche Ordnungen eine ideologische Anpassungsfähigkeit von Ordnungsentwürfen, beispielsweise in Form der im 20. Jahrhundert in vielen Gesellschaften virulenten Idee eines »Neuen Menschen«. Analysiert wird am Beispiel einer modernistischen Fabrikstadt in der Tschechoslowakei, wie ausgehend von rationalisierter Industrieproduktion in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dieser »Neue Mensch« geformt und, zwischen 1938 und 1948, mehrfach desakralisiert wurde (G. Feindt). In anderen Konstellationen, wie zum Beispiel in christlichen Intellektuellennetzwerken, regten diese Extreme eine Erneuerung vermeintlich verlorener Sakralität an. Ein Projekt untersucht, wie christliche Intellektuellennetzwerke in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Großbritannien versuchten, aufkommende Sakralisierungen von Idealen des technisierenden Fortschritts zu hinterfragen. Dabei ging es immer auch darum, der aus Sicht dieser Intellektuellen verlorengegangenen Sakralität christlicher Prägung wieder neue kultureller Geltung zu verschaffen (J. Wood).

Während hier zur Stabilisierung gesellschaftlicher Weltbilder und Ordnungsvorstellungen Sakralisierungen zu beobachten sind, können in anderen Kontexten auch Desakralisierungen in diese Funktion eintreten. Am Beispiel der Versöhnungsinitiativen nach dem Zweiten Weltkrieg (U. Pękala) lässt sich nachvollziehen, wie ein sakrales Verständnis von »Versöhnung« und das religiös konnotierte Konzept Versöhnung« im Transfer von der kirchlichen in die politische Sphäre desakralisiert wurde, auch wenn dieser Prozess von religiösen Gesten und symbolischen Handlungen begleitet wurde.

»Natur« ist schließlich eine jener gesellschaftlichen Ideen, die historisch vielleicht am längsten, in ganz unterschiedlichen Formen und Gesellschaftsformationen sakralisiert wurde. In der jüngeren Umwelt- und Naturschutzdebatte des 20. Jahrhunderts geschah dies in Begriffen schützenswerter »Wildnis«, aber auch als bewahrenswerte »Schöpfung«. Ein Projekt untersucht am Beispiel des ikonischen ostafrikanischen Nationalparks der Serengeti, welche rituellen, wissenschaftlichen und touristischen Performanzen die Sakralisierung als Nationalpark hervorbrachte und welche einheimischen Vorstellungen des konkret in der Serengeti verehrten Naturheiligen dadurch marginalisiert wurden (B. Gißibl).

Ein dritter Interessensschwerpunkt liegt schließlich auf unterschiedilchen, historisch wandelbaren Formen und Praktiken des »Sakralitätsmanagements« und den daraus resuliterenden Konflikten. Das Einfordern der Verbindlichkeit des Sakralen bedurfte der Regeln, der Ritualisierung, der Disziplinierung und Überwachung. Ämter und Institutionen bezogen Macht aus dem Sakralen, das der Verwaltung und Vermittlung durch Sakralexperten bedurfte. Im bereits erwähnten Fall der Verräumlichung des Naturheiligen geschah dies in Form von Zugangs- und Verhaltensbeschränkungen innerhalb von Nationalparks und Schutzgebieten, wobei die »Gläubigen« die Regeln beugen und eigene Sakralitätspraktiken etablieren konnten (B. Gißibl).

Eine historisch häufige, in religiösen wie in nicht-religiösen Kontexten anzutreffende Form des Umgangs mit dem Sakralen bildete die inhaltliche und formale Modifizierung kanonischer Texte. Am Beispiel jüdischer Gebetbücher im Italien des 19. Jahrhunderts beobachtet ein Projekt mit Hilfe eines digitalen Vergleichs, wie sich Sakralitätsvorstellungen im Kontext jüdischer Selbstwahrnehmung und vor dem Hintergrund der jeweiligen historischen Kontexte veränderten. Welche alltagsweltlichen Situationen wurden darin religiös bearbeitet, wie wandelten sich die Inhalte des Gebetskanons im Zuge politischer Entwicklungen und wer fungierte eigentlich als »Gatekeeper« und Auswahlinstanz für die Inhalte, die der Glaubensgemeinschaft italienischer Juden in diesen Büchern vorgelegt wurden (A. Grazi)?

Ein solchermaßen kulturwissenschaftlich akzentuiertes Verständnis des Sakralen erlaubt es den Projekten des Forschungsbereichs, Formen der Sakralisierung im Bereich institutionalisierter Religiosität, aber auch darüber hinaus zu erfassen. In den Blick gerät damit die besondere kollektive und individuelle Bindekraft konkurrierender und historisch wandelbarer Vorstellungen von Sakralität. Sie wurde gezielt gestaltet; ihre Behauptung war umstritten. Das Heilige entfaltete seine Macht und Verbindlichkeit innerhalb, im Nebeneinander, aber auch in der Konkurrenz verschiedener gesellschaftlicher Deutungs- und Ordnungssysteme. Hier interessieren die oft asymmetrischen, aber wechselseitigen Interferenzen zwischen Religion und anderen gesellschaftlich-politischen Feldern, wie sie in der Forschung beispielsweise unter dem Begriff des Sakraltransfers untersucht werden. In epochenübergreifender Perspektive ermöglicht die Analyse von Sakralisierungs- und Deskralisierungsprozessen schließlich auch die spezifische Thematisierung von Bedeutungsveränderungen der Religion in der europäischen Neuzeit jenseits des Postulats einer universalen Säkularisierung.

Christentum, Technik und Gesellschaft im Großbritannien der 1940er- bis 1960er-Jahre

Heiliger Krieg und göttlicher Friede. Deutungen von Krieg und Frieden in europäischen Predigten der Frühen Neuzeit

Mensch und Tier am Serengeti Research Institute: Management und Wissenschaften sakralisierter Natur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

»Minhag Italia«: Variationen des Jüdischseins im 19. Jahrhundert im Spiegel italienischer Gebetbücher. Eine digitale Analyse


»Neue Menschen« schaffen und werden. Rationalisierung, Subjektivierung und Materialität in Bat’as Industriestadt Zlín (1920-1960)

Den Tod ins Leben ziehen. Konfessionelle Variationen im Umgang mit dem Tod zwischen Desakralisierung und Resakralisierung (1500–1700)

Zwischen Heimatfront und Schlachtfeld – »Kriegsbilder« in protestantischen Predigten und Andachtsschriften des Ersten Weltkriegs

Zwischen theologischen Positionen und national-politischen Interessen. Katholische Bischöfe als Akteure der deutsch-französischen und deutsch-polnischen Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg (1945–1990)