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Mobilität und Zugehörigkeit

Mobilität und Zugehörigkeit

Im Mittelpunkt der Arbeiten steht die Frage, wie sich einerseits Mobilitätsphänomene und -formen in der europäischen Neuzeit auf politische, soziale, kulturelle und religiöse Zugehörigkeiten von grenzüberschreitenden Akteuren auswirkten und andererseits Zugehörigkeiten auf Mobilitätspotenziale zurückwirkten. Untersucht werden soll also, wie das Zusammenwirken von Mobilität und Zugehörigkeit zu Veränderungen in den Wahrnehmungen und Konzepten von Differenz führte.

Der Forschungsbereich untersucht dieses Zusammenspiel von Praktiken der Mobilität und der Herstellung von Zugehörigkeiten in der europäischen Neuzeit in drei sich ergänzenden und überschneidenden Perspektiven – über Akteure, Räume und Texte. Erstens untersuchen mehrere Projekte in akteurszentrierter Perspektive die vielschichtigen Zugehörigkeiten in individuellen Lebenswegen und autobiographischen Praktiken von Migranten und anderen mobilen Akteuren. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei Strategien der biographischen Navigation, mit denen die Akteure sich in unterschiedlichen Lebensphasen und Rollen räumlich und sozial verorteten. Ein zweiter Zugang fokussiert auf Texte, die nicht nur als Medium fungierten, in denen Akteure ihre Mobilität reflektierten, sondern die, indem sie selbst mobil waren, Ideen und Konzepte transportierten. Damit stellten sie, auch unabhängig von der Mobilität der Akteure, Zugehörigkeiten her und beförderten oder beeinträchtigten so das Mobilitätspotenzial anderer Akteure und Texte. Drittens nimmt der Forschungsbereich Grenzräume und Räume sich verdichtender und überlagernder Mobilität in den Blick, in denen Akteure verschiedener Herkunft aufeinandertrafen. Durch dieses Aufeinandertreffen entstanden Zwischenräume und Transitzonen, in denen Differenzen sich auflösten und Zugehörigkeiten neu ausgehandelt werden mussten.
 

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Mobilität macht Andersartigkeit besonders sichtbar. Die Bewegung von Personen und Konzepten stellte bestehende politische, soziale, religiöse und regionale Differenzen und Zugehörigkeiten infrage oder veränderte sie. Differenzen und Zugehörigkeiten mussten von mobilen Akteuren und den mit ihnen konfrontierten Gesellschaften (neu) definiert und ausgehandelt werden. Umgekehrt bedingten sich verändernden Zugehörigkeiten die Mobilität von Akteuren. Dabei ist zwischen den von einzelnen Personen und Kollektiven selbst wahrgenommenen und den ihnen von außen zugeschriebenen Zugehörigkeiten zu unterscheiden. Solche Selbst- und Fremdzuschreibungen führten oft zu multiplen, sich überlagernden Zugehörigkeiten, die die Akteure in ihren Praktiken aktualisierten und die in Objekten wie Texten oder Bildern repräsentiert wurden.

Der Forschungsbereich untersucht dieses Zusammenspiel von Praktiken der Mobilität und der Herstellung von Zugehörigkeiten in der europäischen Neuzeit in drei sich ergänzenden und überschneidenden Perspektiven, nämlich über Akteure, Räume und Texte. In akteurszentrierter Perspektive untersuchen mehrere Projekte die vielschichtigen Zugehörigkeiten in individuellen Lebenswegen und autobiographischen Praktiken von Migranten und anderen mobilen Akteuren (A. Friedrichs; M. Grigore; D. Klein; S. Panter; M. Sing; Th. Weller; Projekt DigiKAR). Ein besonderes Augenmerk gilt dabei Strategien der biographischen Navigation, mit denen die Akteure sich in unterschiedlichen Lebensphasen und Rollen räumlich und sozial verorteten. Die sozialen Praktiken dieser Akteure werden in Wechselwirkung mit staatlich-obrigkeitlichen Migrationsregimen und Grenzziehungen sowie in Interaktion mit ihrem jeweiligen sozialen Umfeld untersucht. Von besonderem Interesse sind dabei Zustände des Übergangs und der Liminalität, wie sie besonders in Transitzonen zu erkennen sind (A. Friedrichs; S. Panter). Während sich einerseits Strategien beobachten lassen, die eigene Migrationsgeschichte zu verbergen und sich an ein neues soziales Umfeld anzupassen (Th. Weller), geraten besonders in Gestalt von Missionaren (St. Paulau) oder Revolutionsflüchtlingen (S. Panter) mobile Akteure in den Blick, die das genaue Gegenteil bezweckten. Der Versuch der Bekehrung Andersgläubiger implizierte die aktive Herstellung und Veränderung von Zugehörigkeiten innerhalb der Mehrheitsgesellschaft.

Texte sind nicht nur ein Medium, in dem mobile Akteure ihre Mobilität reflektieren (A. Friedrichs; D. Klein; S. Panter; Th. Weller), sondern sie sind selbst mobil und transportieren Ideen und Konzepte (M. Grigore; Projekt DigiKAR). Wie menschliche Akteure erfuhren auch Texte Zuschreibung von Zugehörigkeiten, die sich durch Mobilität verändern konnten. Theologische Texte etwa, die am Ort ihrer Entstehung als »katholisch« galten, wurden in anderen »katholischen« Gegenden expurgiert. Die semi-automatisierte vergleichende Untersuchung solcher Expurgationen zeigt, wie unterschiedlich die Zugehörigkeit zum »Katholischen« im frühneuzeitlichen Europa zugeschrieben wurde (M. Müller). Trotz solcher lokalen Variationen entwickelten religiöse Zugehörigkeitsnarrative immer auch eine transregional integrative Kraft (M. Grigore; St; Paulau; M. Sing). Somit stellten mobile Texte auch unabhängig von der Mobilität der Akteure Zugehörigkeiten her und beförderten oder beeinträchtigten so das Mobilitätspotenzial anderer Akteure und Texte. Wie die Mobilität der Beschreibenden den Gegenstand ihrer Beschreibung und dessen Zugehörigkeit formen kann und wie Texte durch kommunizierte bzw. imaginierte Mobilität Zugehörigkeit schaffen, wird anhand frühneuzeitlicher Inseldarstellungen untersucht (M. Barget).

Räume werden durch Mobilität erst konstruiert. Räumliche Mobilität geht einher mit Veränderungen des sozialen Raums, so wie soziale Zugehörigkeiten stets auch raumbezogen sind. Das Überschreiten etwa von politisch-territorialen Grenzen warf Fragen von Zugehörigkeit auf. Soziale Abgrenzung implizierte oft auch eine Strukturierung des Raums. Besonders interessant für die Erforschung von Zugehörigkeiten sind Kontaktzonen, wie Sevilla (Th. Weller), Istanbul (D. Klein), das russisch-iranisch-osmanische Grenzgebiet (St. Paulau), das Ruhrgebiet (A. Friedrichs), Le Havre (S. Panter) oder europäische Inseln (M. Barget). Dabei kommen Grenzräume und Räume sich verdichtender und überlagernder Mobilität in den Blick, in denen Akteure verschiedener Herkunft aufeinandertrafen. Durch dieses Aufeinandertreffen entstanden Zwischenräume und Transitzonen, in denen Differenzen sich auflösten und Zugehörigkeiten neu ausgehandelt werden mussten. In religionsgeschichtlicher Perspektive wird hier das religiöse Selbstverständnis von dezidiert transkonfessionellen beziehungsweise interreligiösen Milieus sichtbar (M. Grigore; M. Müller; St. Paulau; M. Sing). Mobilität kann zudem die Ausbildung grenzüberschreitender Netzwerke befördern, die sich auch über weite Distanzen, etwa im transatlantischen (S. Panter; Th. Weller) oder transosmanischen Raum (M. Grigore; D. Klein; St. Paulau), verfestigen konnten. Insbesondere durch die Zirkulation von Texten entstanden translokale Kommunikationsräume, in denen Zugehörigkeiten definiert und in Frage gestellt wurden (M. Grigore; M. Müller).

In einigen Projekten spielen digitale Werkzeuge und Methoden eine wichtige Rolle, etwa die quantitative Auswertung bio-bibliographischer Datenbanken, semi-automatisierte Textvergleiche oder die Analyse genre-gebundener narrativer Strukturen. Für die Untersuchung von Mobilitätsphänomenen sind außerdem digitale Karten als Analysewerkzeug von Bedeutung.

Die Zusammenschau aller Einzelprojekte ermöglicht es, das Narrativ einer stetigen Zunahme von Mobilitätspotenzialen in Frage zu stellen. Stattdessen lassen sich mit Blick auf die Mobilität Diskontinuitäten, Umbrüche und schubartige Veränderungen beobachten, die Auswirkungen auf Zugehörigkeiten hatten. In ähnlicher Weise lassen sich keine eindeutigen Leitkategorien der Differenzierung epochal oder auch kulturell festmachen. Vielmehr kam es in unterschiedlichen Konstellationen zur Überlagerung von verschiedenen Differenzkategorien, die sich wechselseitig verstärken, in Konkurrenz zueinander treten, sich aber auch neutralisieren konnten. Gerade in einer multiperspektivischen, epochenübergreifenden Analyse kommen Konjunkturen, Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Blick. So hatten etwa »nationale« und religiöse Zugehörigkeiten je nach Kontext unterschiedliches Gewicht, waren aber als Differenzkategorien nie völlig irrelevant. Vor diesem Hintergrund lässt sich Mobilität als Testfall für die Ambiguitätstoleranz von Gesellschaften verstehen, die je nach Zeiten und Räumen unterschiedlich stark ausgeprägt war. Prozesse der Ambiguierung und Disambiguierung standen dabei in einem dialektischen Wechselverhältnis.

Epochenübergreifend sind Prozesse der sozialen und räumlichen Verflechtung und Entflechtung zu beobachten. In vielen Projekten zeigt sich eine enge Verzahnung von lokaler Verwurzelung und globaler Verflechtung einzelner Akteure. Damit rückt der Forschungsbereich das Verhältnis von Transitzonen (Mikroperspektive) und transregionalen Räumen (weite Distanzen) in den Fokus. Dies wird besonders augenfällig in den Projekten, die sich mit Akteuren in imperialen und trans-imperialen Strukturen beschäftigen.

In allen Projekten wird deutlich, wie kommunikative Praktiken die Aggregatszustände von Zugehörigkeiten beeinflussten. Sprache spielt dabei eine zentrale Rolle als Medium der Verständigung und Unterscheidung. Mobile Akteure traten als Träger von Ideen und Verfasser autoreflexiver Texte hervor, erfuhren aber auch selbst Zuschreibungen durch Dritte. Das Spektrum der Aggregatszustände von Zugehörigkeit reichte dabei von situativen Selbst- und Fremdzuschreibungen über obrigkeitliche Klassifikation bis hin zu formaler Mitgliedschaft in Organisationen.


Am Rande Europas? Grenzwahrnehmung und Mobilität in deutschen Inseldarstellungen (1648–ca. 1763)

Bewegte Leben. Mobile Identitäten und Zugehörigkeiten im iberischen Atlantik (1580–1700)

Digitale Kartenwerkstatt Altes Reich: historische Räume neu modellieren und visualisieren (DigiKAR)

»Gurbet Istanbul«. Migranten in der osmanischen Hauptstadt (1453-1800)

Migration und Vergesellschaftung jenseits des nationalen Paradigmas. Eine relationale Geschichte der Ruhrpolen (1860–1950)

Multiple konfessionelle Zugehörigkeiten? Rezeption und Zensur des Mainzer Dompredigers Johann Wild OFM (1495–1554)

Mönchische Mobilität im transosmanischen Raum. Die Donaufürstentümer und das osmanische Südosteuropa zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert

Säkularismus in Ägypten zwischen Grenzüberschreitung und Grenzziehung

Selbstbestimmung unter der Besatzung? Die Formierung des modernen Ägypten (1879–1956)

Transatlantische Familien. Die Leben deutscher Revolutionsflüchtlinge (1848/49–1914)


Transkonfessionelle Mobilität. Die russisch-orthodoxe Mission und das ostsyrische Christentum im Iran (1898–1918)