»Pluralisierung und Marginalität«
Pluralisierung und Marginalität
Im Zentrum der Arbeiten steht das dynamische Verhältnis von Pluralisierung und Marginalität in Politik, Religion und Gesellschaft vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Zum einen werden Prozesse der Vervielfältigung untersucht, inklusive ihrer spannungsreichen Beziehungen zu konkurrierenden Einheitsvorstellungen. Zum anderen wird nach der Bedeutung von Marginalität für Prozesse der Pluralisierung und letztlich der Differenzierung gefragt. Analysiert werden Pluralitätsregulierungsprozessen, Strategien zur Fremd- oder Selbstmarginalisierung sowie Praktiken von Fürsprache und Zugehörigkeit
Der Forschungsbereich untersucht vier Ausdrucksformen des Verhältnisses von Pluralisierung und Marginalität, welche die Projekte in vier miteinander verzahnte Themenbereiche gliedern: Erstens verfolgen mehrere Projekte intra- und interkonfessionelle Differenzierungen als Strategien der Differenzherstellung. Anhand des Agierens von Minderheiten in religiös-weltanschaulich pluralen Räumen wird zweitens das Zusammenspiel von Selbstverortung und Fremdbestimmung analysiert. Drittens nimmt der Forschungsbereich am Beispiel religiöser und weltanschaulicher Differenzregulierungen im Kontext von Staatsbildungsprozessen bestimmte institutionelle Regelungsmechanismen von Konflikten in der Frühen Neuzeit und im 19. Jahrhundert in den Blick. Viertens schließlich untersuchen einige Projekte die Repräsentationen, Artikulationsformen und Praktiken der Vertretung von marginalisierten Gruppen und Gesellschaften – in Form von Fürsprache für die jeweils eigene Gemeinschaft oder von beanspruchter Anwaltschaft (»advocacy«) für fremde Hilfsbedürftige.
Mit der Formel »In Vielfalt geeint« stellen die Befürworter der europäischen Einigung das Ideal der Vielheit als Grundmerkmal Europas heraus. Aber gehört die Pluralität zur DNA Europas oder ist sie eine Erfindung der Nachkriegszeit, die den europäischen Einigungsprozess legitimieren soll? Der Forschungsbereich 1 verortet die Entstehung der Idee eines pluralistischen Europas in der Geschichte der Neuzeit. Anhand von Fallstudien aus der Religions- und Gesellschaftsgeschichte Europas zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert beleuchtet er den Umgang mit Differenz in Politik, Religion und Gesellschaft unter der Perspektive des dynamischen Verhältnisses von Pluralisierung und Marginalität: Zum einen werden Prozesse der Vervielfältigung untersucht, inklusive ihrer spannungsreichen Beziehungen zu konkurrierenden Einheitsvorstellungen. Zum anderen wird nach der Bedeutung von Marginalität für Prozesse der Pluralisierung und letztlich der Differenzierung gefragt. Wie wandelten sich historisch die Konstruktion und Wahrnehmung von kultureller, sozialer und religiöser Vielfalt sowie der Umgang damit? Und was war mit denen, die nicht als Teil der Mehrheit verstanden wurden oder sich selbst als solche verstanden?
Der Forschungsbereich untersucht – teilweise auch mit quantitativ-digitalen Verfahren – vier Ausdrucksformen des Verhältnisses von Pluralisierung und Marginalität: (1.) Strategien der Differenzherstellung, (2.) das Zusammenspiel von Selbstverortung und Fremdbestimmung, (3.) institutionelle Regelungsmechanismen von Konflikten sowie (4.) Artikulationspraktiken marginalisierter Gruppen und ihrer Fürsprecher. Erforscht werden diese Phänomene anhand vielfältiger Quellenbestände, von Egodokumenten über publizistische und bildliche Quellen bis hin zu offiziellen Dokumenten. Die Projekte lassen sich unter vier, nicht exklusiv gedachten, sondern vielmehr miteinander verzahnten Themenbereichen erfassen:
Erstens werden intra- und interkonfessionelle Differenzierungen untersucht: Anhand der innerprotestantischen Kontroversen seit 1548 lässt sich zeigen, wie publizistisch ausgetragene Debatten, in denen die Ausdifferenzierung theologischer Positionen ihren Ausdruck fand, in konsensorientierte Lehrbildung münden und Abweichler ausgrenzen konnten (I. Dingel u.a., Controversia et Confessio). Im Kontext der historiographischen Aufbereitung ermöglicht die Verwendung des Begriffs »Orthodoxie« seit dem 18. Jahrhundert eine Analyse, wie wissenschaftssprachliche Kategorisierungen geprägt wurden, über deren polemische Zuspitzung sich dann positionelle Konkurrenzen austragen ließen (C. Witt, Marginalisierung). Schließlich wird anhand der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa gefragt, wie im 20. Jahrhundert interkonfessionelle Differenzen als Ausdruck religiösen Reichtums gedeutet und konstruktiv in spezifische Formen kirchlicher Gemeinschaftsbildung integriert werden konnten (C. Witt, GEKE).
Zweitens liegt ein Fokus auf Minderheiten und ihrem Agieren in einem religiös-weltanschaulich pluralen Raum. So lässt sich beispielsweise an den täuferischen Gemeinschaften seit dem 16. Jahrhundert verfolgen, wie eine selbstgewählte gesellschaftliche Teilseparation religiös-normativ begründet und argumentativ propagiert werden konnte und welche Reaktionen dies in wechselnden politischen Kontexten hervorrief (H. Jürgens). Am Beispiel der katholischen Kirche in den Niederlanden wird ferner untersucht, wie intrakonfessionelle Differenzen zwischen 1650 und 1750 zu einem Schisma eskalierten, zu dem sich katholische Laien in ihrer alltäglichen Praxis positionieren mussten (J. Geraerts). Zugleich beleuchtet eine Analyse jüdischen politischen Handelns im Frankreich des 19. Jahrhunderts, wie gesellschaftliche Minderheiten ihre eigenen, aber auch die marginalisierten Positionen Anderer mitdachten und daraus Rechtsansprüche oder Integrationsstrategien entwickelten (N. Duhaut).
Ein dritter Schwerpunkt des Forschungsbereichs liegt auf religiösen und weltanschaulichen Differenzregulierungen im Kontext von Staatsbildungsprozessen. Zum einen zeigt eine vergleichende Analyse frühneuzeitlicher Religionsfrieden, wie religiöse Vielfalt durch politisch-juristische Regelungen, theologische Konsensbemühungen oder auf Koexistenz ausgerichtete Alltagspraktiken eingehegt werden sollte und dadurch letztlich langfristig ermöglicht wurde (I. Dingel, C. Voigt-Goy u.a., EuReD). Demgegenüber geraten durch eine Untersuchung von religionsbezogenen Protest- und Gewaltakten im Europa des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts die Grenzen einer staatlich regulierten Pluralität in Alltagspraxis und Lebenswelt in den Blick (E. Bouwers, S. Mehlmer, P. Techet).
Schließlich wird, viertens, nach Repräsentationen, Artikulationsformen und Praktiken der Vertretung von marginalisierten Gruppen und Gesellschaften gefragt. Dabei werden einerseits politische Konstellationen und Mechanismen von Fürsprache und Ansprüchen durch Mitglieder der jeweiligen sozialen Kollektive erörtert (M. Thulin; N. Duhaut). Andererseits werden Beispiele von »advocacy« analysiert, die Interessen fremder oder verwandter Hilfsbedürftiger artikulierten, wie es bei humanitären Organisationen der Fall war. Hier stehen vor allem mediale Repräsentationen, Genderunterscheidungen und Fragen von globaler Gerechtigkeit im Mittelpunkt (B. Gißibl; E. Möller; J. Paulmann).
Indem der Forschungsbereich das dynamische Verhältnis von Pluralisierung und Marginalität untersucht, zeigt er, wie Pluralisierungsprozesse das gesellschaftliche Leben dynamisierten und Differenzerfahrungen hervorbrachten, die von Mitgliedern verschiedener politischer, sozialer und religiöser Gruppen über Alltagspraktiken gefestigt oder aufgehoben wurden. Weiterhin erweist die Analyse von Differenzierungsprozessen die Strategien, mit denen religiöse und andere Minderheitengruppen marginalisiert wurden und sich andererseits gegenüber hegemonialen Diskursen positionierten und kulturelle Souveränität beanspruchten. Drittens belegt die Arbeit des Forschungsbereichs die umkämpfte Gestaltung und prekäre Akzeptanz von Pluralitätsordnungen und damit die Umkehrbarkeit von Pluralitätsregulierungsprozessen sowie die Widerständigkeit von Marginalitätspositionen. Schließlich geht aus den Forschungen hervor, wie sich in Reaktion auf innerkonfessionelle Konfliktaustragung oder gesellschaftliche Pluralisierungsprozesse religiöse Lehrformulierungen, wissenschaftliche Begriffe und juristische Normen herausbildeten und etablierten. Insgesamt zeigt der Forschungsbereich 1 die historische Konditionalität von Pluralisierungsprozessen und Marginalitätspositionen und bestätigt damit den temporär und räumlich geformten Charakter des Umgangs mit Differenz in der europäischen Neuzeit.
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